Kann, soll, muss man NS-Verbrechen auch noch im siebenten Jahrzehnt nach Kriegsende
verfolgen? Über Sinn und Grenzen der „späten Gerechtigkeit“.
Seit 15.September 2008 steht in München ein 90-jähriger Mann vor Gericht: Die
Staatsanwalt beschuldigt den ehemaligen Wehrmachtsoffizier
Josef Scheungraber der Ermordung von 14 Zivilpersonen, darunter
einer alten Frau, in einem Bergdorf in der Toskana. Der Angeklagte
bestreitet jede Schuld. Er hatte als 26-jähriger Leutnant
eine Kompanie des Gebirgspionierbataillons 818 befehligt,
das im Sommer 1944 den Rückzug der Wehrmacht deckte. Als
Vergeltung für die Erschießung zweier Wehrmachtssoldaten
durch Partisanen wurde das Dorf Falzano di Cortona nördlich
des Trasimener Sees am 27.Juni 1944 niedergebrannt. Die Staatsanwaltschaft
stützt die Anklage darauf, dass sich an diesem Tag nur Scheungrabers
Kompanie in der Gegend aufhielt.
Dass im Münchner Vorort Ottobrunn, dem Heimatort Scheungrabers, sich vom Bürgermeister
abwärts viele für den Ehrenbürger einsetzen, mag verständlich
sein. Dass sich die Neonazi-Szene über den Prozess empört,
war nicht anders zu erwarten. Aber auch Kommentatoren und
Leserbriefschreiber, die die Ahndung von NS-Verbrechen befürworten,
äußerten Unverständnis, dass jemand wegen eines 64 Jahre
zurückliegenden Verbrechens vor Gericht gestellt wird.
Prozesse wie diese Verhandlung vor dem Oberlandesgericht München verdeutlichen
die Problematik der „späten Gerechtigkeit“: Die überlebenden
Opfer erinnern sich zwar an das Ereignis, das sie oft für
ein ganzes Leben traumatisiert hat, aber sie können die einzelnen
Verbrechen nur dann einem einzelnen Tatverdächtigen zuordnen,
wenn dieser ihnen durch besondere körperliche Eigenschaften
– zum Beispiel eine Kriegsverwundung – in Erinnerung blieb.
Der italienische Hauptbelastungszeuge
im Münchner Prozess kann sich zwar genau an den Anblick des
brennenden Gebäudes erinnern, in das die Dorfbewohner gesperrt
worden waren. Doch von seiner eigenen Gefangennahme als damals
15-Jähriger weiß er einzig, dass sie durch deutsch sprechende
Soldaten erfolgte. Für die Entscheidung des Gerichts über
die strafrechtliche Schuld des Angeklagten ist eine solche
Aussage nur bedingt verwendbar. Ehemalige Angehörige von
Scheungrabers Kompanie berufen sich auf Erinnerungslücken,
was nicht zu widerlegen ist. Allerdings waren auch schon
die Prozesse in der unmittelbaren Nachkriegszeit von massivem
Gedächtnisschwund bei den ehemaligen (Mit-)Tätern gekennzeichnet
gewesen.
Auch in dem Prozess, den die österreichische
Justiz 2007 gegen eine 86-jährige ehemalige Aufseherin des
KZ Majdanek vorbereitete, spielte eine körperliche Besonderheit
der Beschuldigten, Erna Wallisch, eine Rolle. Sie wurde von
einer polnischen Zeugin noch nach Jahrzehnten als Mörderin
identifiziert, weil sie zum Zeitpunkt des Verbrechens – der
Ermordung von über 40.000 KZ-Insassen im Rahmen der Aktion
„Erntefest“ – schwanger war. Doch war Wallisch die einzige
schwangere Aufseherin? Die Überprüfung durch das Gericht
musste unterbleiben, weil die Beschuldigte am 16. Februar
2008 verstarb.
Wie verlässlich sind Zeugen?
Die Problematik der „späten Gerechtigkeit“ besteht also darin,
dass Opfer in aller Regel das, was von Zeugen eines Gerichtsverfahrens
verlangt wird – nämlich Zeitpunkt, Ort und Identität des
Täters respektive der Täterin präzise zu benennen – nicht
leisten können. Und zwar nicht wegen mangelnden Erinnerungsvermögens,
sondern weil, wie es der Auschwitz-Überlebende Rudolf Vrba
vor dem Landesgericht Wien einmal formuliert hat, sich
die SS-Männer bei den Häftlingen „ja nicht vorgestellt
haben“.
Jahrzehnte nach der Tat können nur
mehr solche Verbrechen geahndet werden, für die entweder
unwiderlegbare schriftliche Beweise vorliegen oder eine ausreichende
Anzahl verlässlicher Zeugen existiert. Verlässlich sind Zeugenaussagen
in der Regel nur dann, wenn Angeklagte und Zeugen über einen
längeren Zeitraum hindurch entweder an einem Ort (etwa in
einem Lager) zusammengelebt haben oder gemeinsam in einer
Einheit (Polizei, Wehrmacht) gedient haben. Aus diesem Grund
können Verbrechen wie jenes von Falzano di Cortona in der
Regel nur geahndet werden, wenn Angehörige der militärischen
Einheit des Angeklagten bereit sind, als Belastungszeugen
auszusagen.
Soll man NS-Verbrechen im siebenten
Jahrzehnt nach Kriegsende noch verfolgen? Diese Frage wurde
in Österreich zuletzt im Juli 2007 diskutiert, nachdem das
Justizministerium versucht hatte, der Fahndung nach den beiden
meistgesuchten österreichischen NS-Tätern – Alois Brunner
und Aribert Heim – durch die Ausschreibung einer Ergreiferprämie
von je 50.000 Euro neue Dynamik zu verleihen. Alois Brunner
war der neben Adolf Eichmann wichtigste Organisator der Transporte
in die Vernichtungslager; der unter anderem im KZ Mauthausen
eingesetzte SS-Arzt Aribert (Heribert) Heim wird beschuldigt,
aus Sadismus Häftlingen bei lebendigem Leib Organe entfernt
zu haben.
Selbstverständlich handelt es sich
bei der Ausschreibung der Ergreiferprämie für Brunner und
Heim auch um eine „symbolische Geste“. Angesichts der Dimension
der Massenverbrechen der NS-Herrschaft ist aber die Vorstellung,
es könne für derartige Straftaten eine „gerechte“ oder gar
„angemessene“ Strafe geben, ohnedies hinfällig. Wenn Tatverdächtigen
die Beteiligung an Mordaktionen mit jeweils Tausenden Opfern
vorgeworfen wird, kann eine wie immer geartete Strafe jedes
ausgelöschte Menschenleben nur mit Minuten oder Stunden Freiheitsentzug
„sühnen“. Auch die juristische Auseinandersetzung ist daher
auf symbolische Gesten angewiesen. Die Fahndung nach Tatverdächtigen,
die sich der schwersten Menschenrechtsverletzungen schuldig
gemacht haben, und der ernsthafte Versuch, sie vor Gericht
zu stellen, ist aber keine „symbolische Geste“, sondern die
einzige Möglichkeit eines Staates, seinen Verfolgungswillen
zu dokumentieren. Justizministerin Berger machte damit deutlich,
dass sie mit ihrer Ministerschaft endgültig jenes Moratorium für die Verfolgung von NS-Verbrechen beenden will, das Mitte der
1970er-Jahre begann und nur unter dem parteifreien Justizminister
Nikolaus Michalek mit der Anklageerhebung gegen den Gerichtspsychiater
Heinrich Gross kurz unterbrochen wurde.
Die hier mit dem Begriff „Moratorium“
bezeichnete Periode stellt den dritten Abschnitt der justiziellen
Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Österreich dar.
Diese klar voneinander zu trennenden Perioden sind erstens
die zehn Jahre der Volksgerichtsbarkeit (1945 bis 1955) mit
ihren 23.477 Urteilen, zweitens die sich daran anschließende
Phase der Aburteilung von Angeklagten durch Geschworenengerichte
(20 Schuld- und 23 Freisprüche in 34 Prozessen wegen Tötungsdelikten
gemäß dem Strafgesetz in den Jahren 1956 bis 1975). Welchen
Sinn haben aber jene Ermittlungsverfahren, bei denen mit
ziemlicher Sicherheit anzunehmen ist, dass kein Beschuldigter
je vor Gericht gestellt werden kann?
Völkermord verjährt nicht einmal in
jenen Strafrechtssystemen, die – wie beispielsweise das französische
– im Institut der Verjährung einen zentralen Bestandteil
einer humanen Strafjustiz sehen. Ob der oder die Tatverdächtige
dann tatsächlich verurteilt wird, hängt von Zufällen wie
dem Gesundheitszustand des Angeklagten selbst sowie der zur
Hauptverhandlung geladenen Zeugen ab. Dazu kommt, dass die
Verurteilung eines Angeklagten in einem Strafrechtssystem,
das – wie das österreichische – der Laiengerichtsbarkeit
einen hohen Stellenwert beimisst, Resultat einer Entscheidungsbildung
ist, die die Organe des Staates nur in beschränktem Ausmaß
steuern können.
Gradmesser für die Angemessenheit
der justiziellen Antwort auf Verbrechen von der Dimension
des Holocaust ist daher weniger der Ausgang als die Einleitung
von Gerichtsverfahren sowie die Ernsthaftigkeit, mit der
die staatsanwaltschaftliche respektive gerichtliche Untersuchung
geführt wird. Es waren daher nicht nur die Freisprüche der
1960er- und frühen 1970er-Jahre, sondern vor allem das sich
daran anschließende 24-jährige Verfolgungsmoratorium, das
der österreichischen Justiz den eingangs zitierten zweifelhaften
Ruf eingebracht hat.
Nicht gering zu achten ist ein Zweck
solcher Prozesse, der mit der gesellschaftlichen Funktion
von Strafjustiz zu tun hat – die von der Rechtswissenschaft
so genannte „Generalprävention“. Simon Wiesenthal hat diesen
Zweck von NS-Prozessen einmal so umschrieben: „Der Wert meiner
Tätigkeit ist die Warnung an die Mörder von morgen, dass
Verbrechen nie straflos begangen werden können.“
Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen
sind aber selbst dann sinnvoll, wenn sie zu keinem gerichtlich
verwertbaren Ergebnis führen. Denn auch in jenen Fällen sichern
die Ermittlungen noch vorhandene Zeugnisse und dokumentieren
damit das Verbrechen für die Nachwelt. Auch heute bezwecken
die gerichtlichen Verfahren nach Massenverbrechen in kriegerischen
Auseinandersetzungen nicht allein die Herstellung von Gerechtigkeit
für die Opfer, sondern vorrangig auch die Aufklärung der
Verbrechen selbst – was auch heißt, Verharmlosungen vonseiten
der Täter und Legendenbildung vonseiten der Opfer vorzubeugen.
Der österreichische Anteil
Der Beitrag Österreichs zur Ahndung der NS-Verbrechen konnte
sich im ersten Nachkriegsjahrzehnt durchaus sehen lassen,
ist allerdings in der Folgezeit fast vollkommen in Vergessenheit
geraten. Das lag nicht zuletzt daran, dass mit Ausnahme
des Protokolls des 1947 geführten Hochverratsprozesses
gegen Guido Schmidt, den letzten Außenminister Österreichs
vor dem „Anschluss“, von keinem dieser Tausenden von Gerichtsverfahren
Prozessdokumente in allgemein zugänglicher Form vorlagen.
Allerdings ist auch zu bedenken, dass jede Erinnerung an
die Leistungen der österreichischen Justiz bei der Ahndung
der NS-Verbrechen auch die Erinnerung an den „österreichischen
Anteil“ an diesen Verbrechen wach gehalten hätte.
Indem der Staat Tatverdächtige heute
noch anklagt, dokumentiert er, dass auch der Zeitablauf die
Täter nicht vor Verfolgung schützt. Dies ist nicht nur eine
Verpflichtung den Opfern gegenüber, sondern auch Ausdruck
eines Rechtsverständnisses, das Mord nicht nach zweierlei
Maß misst – je nachdem, ob er aus persönlichen Motiven begangen
wurde oder von einem verbrecherischen Regime angeordnet oder
zumindest geduldet wurde.
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