14.11.2008 diepresse.com
  Für die Mörder von morgen
Von Winfried R. Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider
 
 

Kann, soll, muss man NS-Verbrechen auch noch im siebenten Jahrzehnt nach Kriegsende verfolgen? Über Sinn und Grenzen der „späten Gerechtigkeit“.

Seit 15.September 2008 steht in München ein 90-jähriger Mann vor Gericht: Die Staatsanwalt beschuldigt den ehemaligen Wehrmachtsoffizier Josef Scheungraber der Ermordung von 14 Zivilpersonen, darunter einer alten Frau, in einem Bergdorf in der Toskana. Der Angeklagte bestreitet jede Schuld. Er hatte als 26-jähriger Leutnant eine Kompanie des Gebirgspionierbataillons 818 befehligt, das im Sommer 1944 den Rückzug der Wehrmacht deckte. Als Vergeltung für die Erschießung zweier Wehrmachtssoldaten durch Partisanen wurde das Dorf Falzano di Cortona nördlich des Trasimener Sees am 27.Juni 1944 niedergebrannt. Die Staatsanwaltschaft stützt die Anklage darauf, dass sich an diesem Tag nur Scheungrabers Kompanie in der Gegend aufhielt.

Dass im Münchner Vorort Ottobrunn, dem Heimatort Scheungrabers, sich vom Bürgermeister abwärts viele für den Ehrenbürger einsetzen, mag verständlich sein. Dass sich die Neonazi-Szene über den Prozess empört, war nicht anders zu erwarten. Aber auch Kommentatoren und Leserbriefschreiber, die die Ahndung von NS-Verbrechen befürworten, äußerten Unverständnis, dass jemand wegen eines 64 Jahre zurückliegenden Verbrechens vor Gericht gestellt wird.

Prozesse wie diese Verhandlung vor dem Oberlandesgericht München verdeutlichen die Problematik der „späten Gerechtigkeit“: Die überlebenden Opfer erinnern sich zwar an das Ereignis, das sie oft für ein ganzes Leben traumatisiert hat, aber sie können die einzelnen Verbrechen nur dann einem einzelnen Tatverdächtigen zuordnen, wenn dieser ihnen durch besondere körperliche Eigenschaften – zum Beispiel eine Kriegsverwundung – in Erinnerung blieb.

Der italienische Hauptbelastungszeuge im Münchner Prozess kann sich zwar genau an den Anblick des brennenden Gebäudes erinnern, in das die Dorfbewohner gesperrt worden waren. Doch von seiner eigenen Gefangennahme als damals 15-Jähriger weiß er einzig, dass sie durch deutsch sprechende Soldaten erfolgte. Für die Entscheidung des Gerichts über die strafrechtliche Schuld des Angeklagten ist eine solche Aussage nur bedingt verwendbar. Ehemalige Angehörige von Scheungrabers Kompanie berufen sich auf Erinnerungslücken, was nicht zu widerlegen ist. Allerdings waren auch schon die Prozesse in der unmittelbaren Nachkriegszeit von massivem Gedächtnisschwund bei den ehemaligen (Mit-)Tätern gekennzeichnet gewesen.

Auch in dem Prozess, den die österreichische Justiz 2007 gegen eine 86-jährige ehemalige Aufseherin des KZ Majdanek vorbereitete, spielte eine körperliche Besonderheit der Beschuldigten, Erna Wallisch, eine Rolle. Sie wurde von einer polnischen Zeugin noch nach Jahrzehnten als Mörderin identifiziert, weil sie zum Zeitpunkt des Verbrechens – der Ermordung von über 40.000 KZ-Insassen im Rahmen der Aktion „Erntefest“ – schwanger war. Doch war Wallisch die einzige schwangere Aufseherin? Die Überprüfung durch das Gericht musste unterbleiben, weil die Beschuldigte am 16. Februar 2008 verstarb.

Wie verlässlich sind Zeugen?
Die Problematik der „späten Gerechtigkeit“ besteht also darin, dass Opfer in aller Regel das, was von Zeugen eines Gerichtsverfahrens verlangt wird – nämlich Zeitpunkt, Ort und Identität des Täters respektive der Täterin präzise zu benennen – nicht leisten können. Und zwar nicht wegen mangelnden Erinnerungsvermögens, sondern weil, wie es der Auschwitz-Überlebende Rudolf Vrba vor dem Landesgericht Wien einmal formuliert hat, sich die SS-Männer bei den Häftlingen „ja nicht vorgestellt haben“.

Jahrzehnte nach der Tat können nur mehr solche Verbrechen geahndet werden, für die entweder unwiderlegbare schriftliche Beweise vorliegen oder eine ausreichende Anzahl verlässlicher Zeugen existiert. Verlässlich sind Zeugenaussagen in der Regel nur dann, wenn Angeklagte und Zeugen über einen längeren Zeitraum hindurch entweder an einem Ort (etwa in einem Lager) zusammengelebt haben oder gemeinsam in einer Einheit (Polizei, Wehrmacht) gedient haben. Aus diesem Grund können Verbrechen wie jenes von Falzano di Cortona in der Regel nur geahndet werden, wenn Angehörige der militärischen Einheit des Angeklagten bereit sind, als Belastungszeugen auszusagen.

Soll man NS-Verbrechen im siebenten Jahrzehnt nach Kriegsende noch verfolgen? Diese Frage wurde in Österreich zuletzt im Juli 2007 diskutiert, nachdem das Justizministerium versucht hatte, der Fahndung nach den beiden meistgesuchten österreichischen NS-Tätern – Alois Brunner und Aribert Heim – durch die Ausschreibung einer Ergreiferprämie von je 50.000 Euro neue Dynamik zu verleihen. Alois Brunner war der neben Adolf Eichmann wichtigste Organisator der Transporte in die Vernichtungslager; der unter anderem im KZ Mauthausen eingesetzte SS-Arzt Aribert (Heribert) Heim wird beschuldigt, aus Sadismus Häftlingen bei lebendigem Leib Organe entfernt zu haben.

Selbstverständlich handelt es sich bei der Ausschreibung der Ergreiferprämie für Brunner und Heim auch um eine „symbolische Geste“. Angesichts der Dimension der Massenverbrechen der NS-Herrschaft ist aber die Vorstellung, es könne für derartige Straftaten eine „gerechte“ oder gar „angemessene“ Strafe geben, ohnedies hinfällig. Wenn Tatverdächtigen die Beteiligung an Mordaktionen mit jeweils Tausenden Opfern vorgeworfen wird, kann eine wie immer geartete Strafe jedes ausgelöschte Menschenleben nur mit Minuten oder Stunden Freiheitsentzug „sühnen“. Auch die juristische Auseinandersetzung ist daher auf symbolische Gesten angewiesen. Die Fahndung nach Tatverdächtigen, die sich der schwersten Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, und der ernsthafte Versuch, sie vor Gericht zu stellen, ist aber keine „symbolische Geste“, sondern die einzige Möglichkeit eines Staates, seinen Verfolgungswillen zu dokumentieren. Justizministerin Berger machte damit deutlich, dass sie mit ihrer Ministerschaft endgültig jenes Moratorium für die Verfolgung von NS-Verbrechen beenden will, das Mitte der 1970er-Jahre begann und nur unter dem parteifreien Justizminister Nikolaus Michalek mit der Anklageerhebung gegen den Gerichtspsychiater Heinrich Gross kurz unterbrochen wurde.

Die hier mit dem Begriff „Moratorium“ bezeichnete Periode stellt den dritten Abschnitt der justiziellen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Österreich dar. Diese klar voneinander zu trennenden Perioden sind erstens die zehn Jahre der Volksgerichtsbarkeit (1945 bis 1955) mit ihren 23.477 Urteilen, zweitens die sich daran anschließende Phase der Aburteilung von Angeklagten durch Geschworenengerichte (20 Schuld- und 23 Freisprüche in 34 Prozessen wegen Tötungsdelikten gemäß dem Strafgesetz in den Jahren 1956 bis 1975). Welchen Sinn haben aber jene Ermittlungsverfahren, bei denen mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen ist, dass kein Beschuldigter je vor Gericht gestellt werden kann?

Völkermord verjährt nicht einmal in jenen Strafrechtssystemen, die – wie beispielsweise das französische – im Institut der Verjährung einen zentralen Bestandteil einer humanen Strafjustiz sehen. Ob der oder die Tatverdächtige dann tatsächlich verurteilt wird, hängt von Zufällen wie dem Gesundheitszustand des Angeklagten selbst sowie der zur Hauptverhandlung geladenen Zeugen ab. Dazu kommt, dass die Verurteilung eines Angeklagten in einem Strafrechtssystem, das – wie das österreichische – der Laiengerichtsbarkeit einen hohen Stellenwert beimisst, Resultat einer Entscheidungsbildung ist, die die Organe des Staates nur in beschränktem Ausmaß steuern können.

Gradmesser für die Angemessenheit der justiziellen Antwort auf Verbrechen von der Dimension des Holocaust ist daher weniger der Ausgang als die Einleitung von Gerichtsverfahren sowie die Ernsthaftigkeit, mit der die staatsanwaltschaftliche respektive gerichtliche Untersuchung geführt wird. Es waren daher nicht nur die Freisprüche der 1960er- und frühen 1970er-Jahre, sondern vor allem das sich daran anschließende 24-jährige Verfolgungsmoratorium, das der österreichischen Justiz den eingangs zitierten zweifelhaften Ruf eingebracht hat.

Nicht gering zu achten ist ein Zweck solcher Prozesse, der mit der gesellschaftlichen Funktion von Strafjustiz zu tun hat – die von der Rechtswissenschaft so genannte „Generalprävention“. Simon Wiesenthal hat diesen Zweck von NS-Prozessen einmal so umschrieben: „Der Wert meiner Tätigkeit ist die Warnung an die Mörder von morgen, dass Verbrechen nie straflos begangen werden können.“

Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen sind aber selbst dann sinnvoll, wenn sie zu keinem gerichtlich verwertbaren Ergebnis führen. Denn auch in jenen Fällen sichern die Ermittlungen noch vorhandene Zeugnisse und dokumentieren damit das Verbrechen für die Nachwelt. Auch heute bezwecken die gerichtlichen Verfahren nach Massenverbrechen in kriegerischen Auseinandersetzungen nicht allein die Herstellung von Gerechtigkeit für die Opfer, sondern vorrangig auch die Aufklärung der Verbrechen selbst – was auch heißt, Verharmlosungen vonseiten der Täter und Legendenbildung vonseiten der Opfer vorzubeugen.

Der österreichische Anteil
Der Beitrag Österreichs zur Ahndung der NS-Verbrechen konnte sich im ersten Nachkriegsjahrzehnt durchaus sehen lassen, ist allerdings in der Folgezeit fast vollkommen in Vergessenheit geraten. Das lag nicht zuletzt daran, dass mit Ausnahme des Protokolls des 1947 geführten Hochverratsprozesses gegen Guido Schmidt, den letzten Außenminister Österreichs vor dem „Anschluss“, von keinem dieser Tausenden von Gerichtsverfahren Prozessdokumente in allgemein zugänglicher Form vorlagen. Allerdings ist auch zu bedenken, dass jede Erinnerung an die Leistungen der österreichischen Justiz bei der Ahndung der NS-Verbrechen auch die Erinnerung an den „österreichischen Anteil“ an diesen Verbrechen wach gehalten hätte.

Indem der Staat Tatverdächtige heute noch anklagt, dokumentiert er, dass auch der Zeitablauf die Täter nicht vor Verfolgung schützt. Dies ist nicht nur eine Verpflichtung den Opfern gegenüber, sondern auch Ausdruck eines Rechtsverständnisses, das Mord nicht nach zweierlei Maß misst – je nachdem, ob er aus persönlichen Motiven begangen wurde oder von einem verbrecherischen Regime angeordnet oder zumindest geduldet wurde.

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