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13.000 Schuldsprüche, 30 vollstreckte Todesurteile: Die heimische Nachkriegsjustiz
war nicht so nachsichtig, wie oft behauptet. Doch spätestens 1948 wollte Österreich
die juristische Auseinandersetzung mit der NS-Schuld endgültig hinter sich
gebracht haben.
Die Jahre 1918, 1938, 1968, dasschicksalhafte Jahr 1848 nicht zu vergessen: historische
Meilensteine zuhauf. Bloß von den Ereignissen des Jahres
1948, deren sich Österreich erinnern sollte, war bisher noch
nirgends die Rede. Dabei war 1948 auch hier ein Schlüsseljahr:
das Jahr, in dem eine neue Gangart der Justiz die Wandlung
des politischen Klimas ankündigte. Nach den Jahren der Härte
wurde die Auseinandersetzung der Gerichte mit der Nazischuld
nun teilweise zur Farce.
Von den 30 vollstreckten Todesurteilen
österreichischer Gerichte gegen NS-Verbrecher stand Anfang
1948 nur noch ein letztes bevor. Drei Verurteilte warteten
noch auf ihre Hinrichtung: der Kreisleiter von Neunkirchen
und zwei seiner Helfershelfer bei der Ermordung zahlreicher
Regimegegner oder auch nur der Gegnerschaft Verdächtigter
in den letzten Kriegstagen. Für sie war es am 15. Mai so
weit.
Die Hauptschuldigen am Blutbad vom
6.April 1945 in der Strafanstalt Stein (ein SA-Führer und
vier Justizbeamte) waren ebenso bereits aufgehängt wie der
Kommandant von Theresienstadt, Siegfried Seidl, oder die
neun in mehreren Prozessen zum Tod verurteilten Mittäter
an den Massenmorden während des „Engerauer Todesmarsches“
oder die zwei von österreichischen Gerichten zum Tod verurteilten
Euthanasie-Ärzte, dazu etliche subalterne Handarbeiter des
Todes.
Manches hatte allerdings bereits zu
denken gegeben oder hätte zu denken geben sollen. Etwa die
blitzschnelle Beseitigung des „Brunner II“, der 48.000 Wiener
Juden in den Tod verschickt hatte und im Mai 1946, genau
zwei Wochen nach dem Urteil, am Strick hing. Mit diesem Rekord
war dafür gesorgt, dass Anton Brunner nicht mehr gegen die
Gestapobeamten aussagen konnte, mit denen er eng zusammengearbeitet
hatte, für deren milde Behandlung sich aber wenig später
Staatsanwalt Laßmann so auffallend einsetzte.
Liest man die Erinnerungen eines so
engagierten Richters wie Wolfgang Aistleitner im „Spectrum“
vom 12. April 2008 („Nach innen schreien“), könnte man allerdings
zu dem Schluss gelangen, bei dem gesamten Ringen österreichischer
Gerichte um gerechte Urteile in den frühen Nachkriegsjahren
müsse es sich um eine Halluzination gehandelt haben. Denn
er nimmt zwar in seinen „Kanon der Erinnerungen“ der österreichischen
Richterschaft, deren „kollektivem Gedächtnis“ er auf die
Sprünge helfen will, die vergleichsweise sehr wenigen „Prozesse
gegen NS-Verbrecher vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren“
auf – die 23.000 Prozesse mit 13.000 Schuldsprüchen ab 1945
werden allerdings ausgeblendet. Das ist aber nicht besonders
erstaunlich. In Österreich ist nämlich etwas bei Sigmund
Freud nicht Vorgesehenes passiert: das sachte Hinübergleiten
des Verdrängten ins Reich des ganz und gar Vergessenen.
1948 wollte Österreich die juristische
Auseinandersetzung mit der NS-Schuld endgültig hinter sich
bringen. Dadurch kam es zu einer solchen Häufung wichtiger
Prozesse, dass sie einander im Großen Schwurgerichtssaal
mehrmals in die Quere kamen. Der Prozess wegen der Ermordung
Geisteskranker in Gugging und Mauer-Öhling musste zum Beispiel
im Sommer für mehrere Tage unterbrochen werden, da man den
Saal für das Verfahren wegen der Ermordung von 200 kranken
Juden, die in der Nacht auf den Palmsonntag des Jahres 1945
auf dem Bahnhof von Rechnitz zurückgeblieben waren, benötigte.
Die Aufhebung der Volksgerichte scheiterte
am Alliierten Rat, der Verfassungsgesetze einstimmig bestätigenmusste,
einfache Bundesgesetze aber ebenfalls nur einstimmig zu Fall
bringen konnte. Die provisorische Staatsregierung unter Karl
Renner hatte die Volksgerichte, deren Senate mit jeweils
zwei Berufs- und drei Laienrichtern in erster und letzter
Instanz urteilten, verfassungsgesetzlich verankert. Da die
Amerikaner, Briten, Franzosen und Russen 1948 kaum mehr zu
einer gemeinsamen Ansicht fanden, hätte die Bundesregierung
erkennen können, dass sie mit der Aufhebung der Volksgerichte
beim Alliierten Rat keine Chance hatte. Sie amtierten daher
bis zum Ende des Staatsvertragsjahres. Die letzte Hauptverhandlung
des Volksgerichts Wien, angeklagt war eine Erika M. wegen
Denunziation, ging am 30.Dezember 1955 unbemerkt und ohne
Urteil über die Bühne. Doch die Wende zur politischen Kindsweglegung
fand bereits 1948 statt. Von da an ging es mit dem Image
der Volksgerichte unter kräftiger Mithilfe der ehemaligen
NS-Journalisten, die ab 1949 wieder arbeiten durften, rasant bergab. Die Berichterstattung
über die Prozesse blieb zwar in einem Teil der Zeitungen
Reservat der Nazigegner, doch im Dezember 1955 fiel selbst
einem Josef Sterk, der wenige Jahre zuvor in der „Arbeiter-Zeitung“
gegen so manchen ungerechtfertigten Freispruch und so manches
zu milde Urteil gewettert hatte, zur Verteidigung der Volksgerichte
nur noch ein, Österreichs Handhabung der NS-Gesetzgebung
sei „immerhin, den Umständen angemessen, eine der mildesten
und vernünftigsten im Vergleich zu vielen anderen Ländern“
gewesen und die Volksgerichte hätten „sauber und sogar sehr
oft mit echt österreichischer Nachsicht Recht gesprochen.“
Die Wucht des restaurativen Paradigmenwechsels
ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Er riss, noch viel
gründlicher als die Erinnerung an die Verbrechen selbst,
die Erinnerung an die Auseinandersetzung der österreichischen
Justiz mit ihnen in den Orkus. Als das Land Jahrzehnte später,
unsicher seiner Identität und Integrität, die Erinnerung
an seine Nachkriegsjustiz dringend gebraucht hätte, um sich
seiner selbst zu vergewissern, war nichts mehr davon da.
Mit dem Wissen vom Ganzen waren natürlich auch alle Einzelheiten,
alle Ansatzpunkte für die notwendigen Differenzierungen entschwunden.
Im Frühjahr 1948 beschäftigten sich
in Wien noch immer täglich sieben Senate, welche die Hälfte
des Wiener Justizpersonals banden, ausschließlich mit NS-Verbrechen.
Nach wie vor setzte es auch schwere Strafen, wenn der Gesetzestext
der „echt österreichischen Nachsicht“ keine Chance bot oder
ein dem Zeitgeist trotzender Vorsitzender wie Otto Hochmann
sich bei der Abstimmung über dieStrafe durchsetzen konnte.
Wiener Senate verhängten 1948 ein nicht aufgehobenes Todesurteil,
zweimal lebenslang, zahlreiche Urteile über zehn oder 20
Jahre schweren, verschärften Kerkers. Verurteilungen zu zehn,
zu 20 Jahren, zu lebenslang gab es freilich selbst noch 1954
und 1955. Das Jahr 1948 aber wurde zum Jahr der Skandalprozesse
und markiert damit die wichtigste Zäsur.
Der Prozess gegen sieben ehemalige
Angehörige der Heeresstreife Groß-Wien begann am 16. Februar.
Die Heeres- oder Wehrmachtstreife war eine der gefürchteten
Feldgendarmerie gleichgestellte Truppe mit Polizeigewalt,
die Jagd auf Deserteure, abgetauchte Wehrpflichtige (wie
den Autor dieses Beitrags) und sogenannte Selbstverstümmler
machte.
Bereits Mitte Dezember waren in der
Roßauer Kaserne zusätzliche Verhandlungssäle geschaffen worden,
und das Gericht tagte nun in den Räumen, in denen die Angeklagten
Verdächtige gefoltert und Geständnisse erzwungen hatten.
Im sogenannten Lachkabinett, an dessen Existenz sich die
Angeklagten nicht mehr erinnern wollten, waren die Opfer
mit dem Kopf an die Wand geschlagen oder an den Haaren im
Raum herumgeschleift worden, während andere Streifenangehörige
auf sie einschlugen, waren Handschellen mit inneren Zacken,
die ins Fleisch einschnitten, angelegt und mit Faustschlägen,
Fußtritten, Stockhieben und vorgehaltener Pistole Unterschriften
unter Geständnisse erzwungen worden, die das eigene Todesurteil
bedeuteten.
Inhaltlich unterschied sich der Heeresstreifen-Prozess
wenig von ungezählten anderen. Doch die Prozessführung des
Vorsitzenden Wagner-Löffler läutete eine neue Ära ein. Seine
Sympathie für die Angeklagten war nicht zu übersehen. Die
„Ehemaligen“ trugen ihr Selbstbewusstsein so dreist wie nie
zuvor zur Schau, und der Vorsitzende ließ die Verhandlung
aus dem Ruder laufen. Ein Angeklagter kommentierte die Aussage
eines Zeugen, der im „Lachkabinett“ gefesselt, getreten und
geschlagen worden war, mit dem Satz: „Ich glaube, er will
sich die Patente eines Freiheitskämpfers verdienen.“ Er handelte
sich damit nicht einmal eine Ermahnung ein.
Es kam zu Zusammenstößen und Tätlichkeiten
zwischen Angeklagten und Zeugen, zu Frechheiten der Angeklagten
gegenüber den Müttern hingerichteter Deserteure, zu Zwischenrufduellen
im Publikum, zur öffentlichen Einschüchterung von Zeugen,
zur mehrmaligen gewaltsamen Räumung des Saales und in den
Pausen auf dem Gang zu Schreiduellen zwischen Zeugen, Anhängern
der Angeklagten und Nazigegnern.
Ein Zigeuner – von Roma und Sinti
hatte 1948 noch niemand gehört, der nicht selbst zu einer
dieser Gruppen gehörte – erzählte, dass 70 seiner Angehörigen
in Auschwitz vergast worden waren. „Daraufhin erhob sich“,
berichtete eine Zeitung, „unter den Nazizuhörern ein lautes
Gelächter, das aber vom Vorsitzenden scheinbar überhört wurde.
Aber den Zwischenruf eines Zuhörers: ,Ist das so lächerlich?
Sind die Todesopfer schon vergessen?‘, rügte der Vorsitzende
auf der Stelle mit: ,Ruhe, sonst lasse ich den Saal räumen!‘“
Sei es, dass sich der Vorsitzende
das Presseecho zu Herzen nahm, sei es, dass er einen „Wink
von oben“ empfing: Am siebenten der neun Verhandlungstage,
in denen die Schuld der Angeklagten immer deutlicher wurde,
zog er die Zügel an. Trotzdem kam der Haupttäter mit sechs
Jahren davon. In der mündlichen Urteilsbegründung fiel der
skandalöse Satz, politische Gehässigkeit habe nicht vorgelegen,
da die Angeklagten es mit gewöhnlichen Verbrechern und nicht
mit politischen Gegnern zu tun gehabt hätten. Zwei Jahre
zuvor, am 29. Jänner 1946, hatte Staatsanwalt Mayer-Maly
in einem Plädoyer erklärt, ein Deserteur der deutschen Wehrmacht
sei kein „Fahnenflüchtiger“, sondern ein Österreicher gewesen,
„der sich weigerte, gegen sein Vaterland für fremde Interessen
zu kämpfen. Wer ihn verraten hat, hat damit auch Österreich
verraten; er ist ein Kriegsverbrecher, den wir nach dem Gesetz
bestrafen werden.“ Wagner-Löffler blieb es vorbehalten, genau
diese Österreicher für gewöhnliche Verbrecher zu erklären.
Der Heeresstreifen-Prozess bot einen
Vorgeschmack auf den fünfwöchigen Juristenprozess, der am
10. Mai 1948 begann. Angeklagt war der ehemalige Blutrichter
R. und der ehemalige Generalstaatsanwalt S. sowie ein ehemaliger
Buchhalter der NSDAP. Helfende Hände hatten das bereits im
März 1947 anklagereife Verfahren abliegen lassen, bis alles
nicht mehr ganz so heiß gegessen wurde. R. war ein Prachtexemplar
von Liebedienerei nach oben und unbarmherziger Härte nach
unten. Da war zum Beispiel der Fall eines Rheinländers, der
in einem Salzburger Gasthaus nazifeindliche Reden geschwungen
hatte. Der Staatsanwalt wollte den Mann mit dem Leben davonkommen
lassen, worauf sich der Richter einen willfährigeren Staatsanwalt
suchte und den Tod des Mannes durchsetzte. S. konnte sich
an die Zahl seiner Todesurteile nicht einmal ungefähr erinnern.
Er wusste auch nicht mehr, ob er einen Verurteilten begnadigt
hatte, hielt es aber selbst für unwahrscheinlich.
Sie waren nicht wegen ihrer Tätigkeit
in Hitlers Mordmaschine angeklagt, sondern wegen Hochverrats
als Illegale und eines typischen Endphasenverbrechens: Der
Richter hatte als Vorsitzender, der Generalstaatsanwalt als
Ankläger eines Standgerichts fungiert, dem am 13. April 1945,
24 Stunden vor der Befreiung der Stadt, in St. Pölten der
damalige Polizeipräsident Otto Kirchl mit seiner Frau, Graf
Trauttmansdorff mit seiner Frau und acht weitere Nazigegner
zum Opfer gefallen waren, weil sie sinnlose Zerstörungsaktionen
verhindern wollten. Der mitangeklagte ehemalige Parteiangestellte
hatte als Beisitzer fungiert. Standgericht im April 1945
hieß: Blitzverfahren ohne Anklageschrift und Protokoll. Verteidiger
gab es nicht. Das Urteil stand vor der Verhandlung fest,
das große Grab war bereits geschaufelt.
Richter und Staatsanwälte, die unter
dem NS-Regime im Einklang mit den Nazigesetzen gehandelt
hatten, wurden im befreiten Österreich nicht angeklagt. Dass
er das Todesurteil für einen Homosexuellen auf dem Gewissen
hatte, stand daher in einem anderen Fall der späteren akademischen
Karriere des betreffenden Staatsanwalts nicht im Wege. Die
Anklage gegen R. und S. lautete also nicht auf Mord oder
Teilnahme oder Mitschuld am Mord, sondern beim Richter auf
Missbrauch der Amtsgewalt und Quälerei nach dem Kriegsverbrechergesetz
und beim Generalstaatsanwalt auf Mitschuld: Sie hätten einen
Teil der Standgerichtsfälle an das ordentliche Gericht abtreten
können, das dann vielleicht vom einen oder anderen Todesurteil
abgesehen hätte. Ihre übrigen Unmenschlichkeiten waren allerdings
im Zusammenhang mit jener Bestimmung des Verbotsgesetzes
von Belang, wonach illegale Nazis ohne Parteifunktionen nur
dann zu bestrafen waren, wenn sie den Gesetzen der Menschlichkeit
gröblich widersprechende Handlungen oder solche aus besonders verwerflicher Gesinnung begangen hatten.
S. hatte außerdem am 9.April 1945
die Hinrichtung von 44 zum Tod verurteilten Häftlingen in
Stein „nicht verhindert“, was eine starke Untertreibung war,
denn er hatte sie befohlen. Dabei habe er es versäumt, die
Gnadenfrage zu prüfen. Die Todeskandidaten waren zu Fuß vom
Wiener Landesgericht nach Stein getrieben worden, wo sie
drei Tage nach dem Massenmord an über 200 Häftlingen ankamen.
Für einige waren noch Gnadengesuche in Schwebe.
Der Vorsitzende, Otto Fischer, und
Staatsanwalt Wolfgang Laßmann überboten sich darin, Suggestivfragen
zu stellen und Belastungszeugen einzuschüchtern. „Der Staatsanwalt“,
wandte sich Fischer etwa während der Aussage eines Zeugen,
der unter dem Ex-Generalstaatsanwalt politische Strafsachen
bearbeitet hatte, an Laßmann, „wird kaum auf dem Standpunkt
stehen, dass die deutschen Bestimmungen über Hochverrat und
Wehrkraftzersetzung Unrechtsbestimmungen waren.“ Laßmanns
Antwort: „Nein.“ Darauf der Vorsitzende: „Folglich kann man
dem Staatsanwalt und dem Richter, die danach verhandelt haben,
keinen Vorwurf machen.“ Nun erst wurde der Zeuge gefragt,
ob nach seiner Erfahrung der Richter „gegen seine rechtliche
Überzeugung und gegen das damalige Gesetz“ Schuldsprüche
gefällt habe. Unverblümter kann wohl kein Vorsitzender einem
Zeugen in den Mund legen, was aus diesem herauskommen soll.
Selbstverständlich verneinte der Zeuge.
Manchen Zeugen, vor allem ehemaligen
Staatsanwälten und Richtern, wurden die Aussagen, die sie
beim Untersuchungsrichter gemacht hatten, vorgelesen – mit
der Bitte um eventuelle Berichtigungen und Ergänzungen. Belastungszeugen
wurden angefahren und auf jedes Wort, jeden kleinsten Widerspruch
festgenagelt. Eine in der NS-Zeit gemaßregelte Mittelschulprofessorin
bekräftigte die Aussage ihrer Schwester, einer ehemaligen
Gerichtssekretärin, zu der R. während des Krieges gesagt
hatte: „Jetzt lassen wir fleißig Köpfe rollen!“ Da sie mit
ihrer Schwester auf dem Gang einige Worte gewechselt hatte,
wurde sie gleich für zehn Tage eingesperrt. Entlastungszeugen
durften das Blaue vom Himmel lügen.
Doch die Aussage eines Kriminalbeamten,
dem S. die Karteikarten der 44 Häftlinge mit der Anordnung
übergeben hatte, die Urteile zu vollstrecken, ließ sich nicht
vom Tisch wischen. Zu einem gewesenen Landesgerichtspräsidenten
hatte der Generalstaatsanwalt noch gemeint, er wisse nicht,
ob er die 44 Häftlinge hinrichten oder nach dem Westen mitnehmen
solle, da sie Gnadengesuche eingebracht hätten. Er, der Zeuge,
habe ihm zugeredet, sie auf keinen Fall hinrichten zu lassen,
da er sah, wie unschlüssig S. gewesen sei.
Daraufhin fielen die Sätze, die dem
Staatsanwalt die Handhabe geboten hätten, die Anklage sofort
auf Mord auszudehnen. Angeklagter: „Hätte ich mich dagegen
aufgelehnt, dann wäre ich vor ein Standgericht gestellt und
erledigt worden. Ein Einspruch bei Gauleiter Jury wäre völlig
aussichtslos gewesen.“ Laßmann: „Hat Dr. Jury von Ihnen jemals
verlangt, Sie sollten diese Personen erschießen lassen?“
Angeklagter: „Das weiß ich nicht, ich glaube nicht.“ Die
Aussage von Sektionschef Hugo Suchomel, einige Erschossene,
drei Franziskanerpatres und ein direkter Nachkomme Andreas
Hofers, hätten sehr wohl auf Begnadigung hoffen können, brachte
den Prozess vollends in ein schiefes Licht. Das Justizministerium
hatte sich vergeblich bemüht, seine Zeugenladung zu hintertreiben.
Er hatte 1938 die österreichische Justiz dem Reichsjustizministerium
übergeben und war in Berlin Ministerialdirigent geworden.
Er war der direkte Vorgesetzte des angeklagten Nazi-Generalstaatsanwalts
gewesen und hatte diesem aus Berlin die Weisungen des Reichsjustizministers („Scharf, scharf, scharf!“) übermittelt, bis es so viele
Todesurteile wurden, dass er, wie er sagte, damit nichts
mehr zu tun haben wollte.
R. und S. wurden vom Missbrauch der
Amtsgewalt freigesprochen, alle drei Angeklagten des Hochverrates
für schuldig erkannt, der Richter und der Generalstaatsanwalt
überdies, Handlungen aus besonders verwerflicher Gesinnung
begangen zu haben. Der Generalstaatsanwalt bekam acht Jahre,
der Blutrichter vorerst fünf, seine Reinwaschung wurde drei
Jahre später in aller Stille erledigt. Der Beisitzer des
Standgerichtes hatte seine zwei Jahre wegen Hochverrats bereits
verbüßt. Der Sektionschef wurde in Ehren pensioniert.
Während sich mehrere Vorsitzende nach
wie vor um gerechte Urteile bemühten, waren andere der Meinung,
Milde um jeden Preis sei nun angesagt. Wiens Nazibürgermeister
Hans Blaschke bekam sechs Jahre wegen Hochverrats. Ein klarer
Beweis dafür, dass er einem jüdischen Villenbesitzer zumindest
die Möbel gestohlen hatte, wurde glatt übergangen. Ein sadistischer
Lagerkommandant kam mit einem Jahr davon – ohne den vom Gesetz
vorgeschriebenen Vermögensverfall. Er hatte im Zigeunerlager
Lackenbach Gefangene gezwungen, mit bloßen Händen Latrinen
auszuschöpfen, und Frauen, auf der Lagerstraße, auf dem Bauch
kriechend, mit der Nase die Exkremente eines Kindes wegzuputzen.
Er hatte sich Prügelorgien geleistet und eine Flecktyphusepidemie
verschuldet, der in kurzer Zeit 287 Personen zum Opfer fielen
– der Vorsitzende, der der Meinung war, schwere gesundheitliche
Nachteile seien dadurch „erwiesenermaßen nicht entstanden“,
war derselbe wie im Prozess gegen die Heeresstreife: Wagner-Löffler.
Nachdem der Neurologe, der als Chef der „Arbeitsanstalt für asoziale Frauen“ („Frauen-KZ auf dem Steinhof“) eine
Schreckensherrschaft geführt hatte, zu nur zwei Jahren verurteilt
worden war, wurde auch gleich der Fall seines Vorgängers
aus dem Jahr 1946 neu aufgerollt und dessen Strafe von 20
Jahren auf sechs herabgesetzt.
Im Dezember 1948 kam es allerdings
zum Eklat. Im Prozess gegen den stellvertretenden Wiener
Gestapochef Karl Ebner warf sich Laßmann für den Angeklagten
derart ins Zeug, dass ihm der Vorsitzende Bibulowicz vorhielt,
er wolle offenbar beweisen, dass Ebner in der Gestapo eine
unwichtigere Funktion eingenommen habe, als er selber zugebe.
Worauf Laßmann mit vorwurfsvollem Blick auf den ehemaligen
Gestapochef meinte: „Wenn der Angeklagte Unsinn redet...“
Bibulowicz dürfte ziemlich wütend geworden sein: Laßmann
habe nur Entlastungszeugen vorgeladen, warum er Ebner überhaupt
anklage, wenn er nicht an seine Schuld glaube, ob nicht vielleicht
er, der Vorsitzende, auf die Anklagebank gehöre...
Wolfgang Laßmann wurde mitten im Prozess
abgelöst. Die Besatzungsmächte entsandten Beobachter. Nun
marschierten auch die Belastungszeugen auf, die sich gemeldet
hatten, aber von Laßmann nicht vorgeladen worden waren. Ebner
fasste seine 20 Jahre aus. Doch eine Blamage der österreichischen
Justiz, die plötzlich im vollen Scheinwerferlicht stand,
blieb noch zu bereinigen: das Urteil von lächerlichen 18
Monaten, das Laßmann wenige Tage vor dem Ebner-Prozess dem
ehemaligen leitenden Gestapobeamten Otmar Trnka verschafft
hatte.
Ein Anlass, es aufzuheben, fand sich.
Trnka, unter dessen Verantwortung Häftlinge gefoltert und
ins KZ verschickt worden waren und der die „verschärften
Verhöre“ vor Gericht sogar noch verteidigte, kam auch im
zweiten Prozess mit fünf Jahren billig davon. Am 22.Oktober
1949, an dem das neue Urteil verkündet wurde, lagen die zweiten
Nationalratswahlen der Zweiten Republik kaum zwei Wochen
zurück. Die„Minderbelasteten“ hatten zum ersten Mal wieder
wählen dürfen, und der VdU, das Sammelbecken der mehr oder
weniger ehemaligen Nazis, hatte mit 490.000 oder elf Prozent
der Stimmen 16 der damals 165 Nationalratsmandate errungen.
Der restaurative Prozess, der sich
bald machtvoll durchsetzte, hatte viele Gründe. Die 1945
geflohenen oder aus ihren Ämtern entfernten kleinen Nazis,
die nichts Gröberes angestellt hatten, kehrten in ihre alten
Positionen zurück und bekamen auch bald wieder zuerst einen
Finger und dann die ganze Hand an die Hebel der Macht. Die
Belasteten, deren Sühnefolgen gerade wegen ihrer Härte zu
einem Ende kommen mussten, folgten ihnen nach. Selbst unter
den gestandenen Antinazis verstand sich mancher mit den alten
Nazis gar nicht so schlecht – vor allem, wenn man, gar nicht
so selten, hüben wie drüben Antisemit gewesen war. In den
Gerichtssälen stellte, wenn Doktoren beider Rechte auf der
Anklagebank saßen, ständig die Kameraderie der Gerechtigkeit
ein Bein.
Trotzdem ist Österreichs Nachkriegsjustiz
um Klassen besser als ihr Ruf. Es gab Fehlurteile, gute und
schlechte Richter, doch was den Ruf dieser Justiz später
vernichtete, das waren nicht die Urteile, sondern die Begnadigungen.
Für sie waren politische Instanzen verantwortlich. Die haben
binnen kürzester Zeit alle heimgeschickt, die Mörder wie
die Irregeleiteten, und damit alle Bemühungen so vieler anständiger
Richter um Differenzierung zunichte gemacht. Die Eingriffe
der Politik, auf direktem Wege oder über die an Weisungen
gebundenen Staatsanwälte, sind freilich, wie die ganze Geschichte
dieser Justiz, noch immer ein historisches Minenfeld. In
Minenfelder latscht man nicht gern hinein. Darum ist dieses
Minenfeld bis heute Terra incognita geblieben.
Das Schielen auf die „Ehemaligen“,
ein Potenzial von immerhin rund 800.000 Wählern, wurde im
Vorfeld der Wahlen von 1949 und erst recht danach zu einem
Grundmotiv der österreichischen Politik. Um sie galt es zu
buhlen. Was sich dagegen stellte, wurde zum Schweigen gebracht.
In diesem dumpfen Klima entstand eine
Verweigerungshaltung besonderer Art, ein geistiges Ghetto
mit Zügen einer inneren Emigration, die bis heute typisch
für das Selbstverständnis eines großen Teiles der Künstler
und Intellektuellen in diesem Lande ist. Es entstand aber
auch der bis heute dominierende Eindruck eines mit überwältigender
Mehrheit den Nazis verfallenen Landes, das nichts dazugelernt
hat. Die 23.000 Prozesse der Nachkriegszeit sind dem „kollektiven
Gedächtnis“, dem „Kanon der Erinnerungen“ ebenso entfallen
wie der große, aber auch der alltägliche kleine Widerstand
gegen die Naziherrschaft, der sich in vielen dieser Prozesse
spiegelte. Sie wurden verdrängt und sind nun vergessen wie
die Kämpfe der Nachkriegszeit um eine andere Vergangenheit
als Basis einer anderen Gegenwart. Und wo kein Wissen mehr
ist, sind auch keine Fragen und keine Differenzierungen möglich.
diepresse.com
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