Es antwortet:
Sabine Loitfellner von der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
- Projekt: Justiz und NS-Gewaltverbrechen.
derStandard.at: Wie ging das Nachkriegsösterreich mit NSDAP-Mitgliedern, die
Verbrechen begangen hatten, um?
Sabine Loitfellner: Die Wiederherstellung der politischen Ordnung nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges erforderte unter anderem die Abrechnung
mit dem Nationalsozialismus. Neben der bürokratischen Entnazifizierung
zur Registrierung und "Durchkämmung" der gesamten Bevölkerung bildete die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen eine
Maßnahme der Bewältigung des NS-Regimes.
In Österreich wurden zu diesem Zweck eigens Volksgerichte (nicht zu verwechseln
mit den NS-Volksgerichtshöfen!) eingerichtet, die auf Basis
von Sondergesetzen, die dem spezifischen Charakter der NS-Verbrechen
Rechnung trugen, über NS-VerbrecherInnen urteilten, allerdings
unabhängig davon, ob die TäterInnen NSDAP-Mitglieder waren
oder nicht. Diese Gesetze waren zum einen das am 26. Juni
1945 in Kraft gesetzte Kriegsverbrechergesetz (KVG) und zum
anderen das am 8. Mai 1945 erlassene Gesetz zum Verbot der
NSDAP ("Verbotsgesetz", kurz VG).
Zweifelsohne wurden die meisten Verfahren
wegen der illegalen Zugehörigkeit zur NSDAP und anderen NS-Organisationen
vor 1938 als Hochverrat am österreichischen Volk geahndet.
Verfolgt wurden aber auch Verbrechen wie Kriegsverbrechen,
Morddelikte, Misshandlungen (unter anderem mit Todesfolge), "Arisierungen", Denunziation (unter anderem mit Todesfolge), Deportation, Verletzung der Menschenwürde.
derStandard.at: Bundesrat Kampl beklagt
die "Brutalität der Nazi-Verfolgung". Sein Vater sei "in der Nacht abgeholt worden", wobei er die Gründe für die Verhaftung nicht erwähnt. Wer war für die Ermittlungen
gegen Nazi-Verbrecher zuständig – die österreichische Exekutive
oder Angehörige der Besatzungsmächte? Wie intensiv wurden
solche Ermittlungen geführt, hatten Opfer der Nazis eine
Chance auf Gerechtigkeit?
Sabine Loitfellner: In der sowjetischen
Besatzungszone wurden von Beginn an die österreichischen
Behörden mit der Ausforschung von NS-Verbrechern betraut.
In den anderen Bestatzungszonen wurden bis ca. Frühjahr 1946
Verdächtige daneben auch von den Alliierten verhaftet und
interniert. Falls diese Personen auch von der österreichischen
Polizei gesucht wurden, übergaben die Alliierten diese in
der Regel an die österreichischen Behörden.
Die Alliierten behielten sich die
Verfolgung von besonders grauenhaften Verbrechen vor oder
von Verbrechen, die an Angehörigen ihrer eigenen Armeen begangen
wurden. Im Falle von Herrn Kampl gibt es einen Gerichtsakt
des Volksgerichtes Klagenfurt; der historische und nun politisch
aktuell gemachte Fall Kampl ließe sich wohl durch eine Einsichtnahme
in diesen Akt klären.
Insgesamt kann gesagt werden, dass
wegen einer Lappalie niemand vor ein Volksgericht gestellt
wurde. Die Nachkriegsjustiz hat vor allem in der unmittelbaren
Nachkriegszeit unglaubliches geleistet und massiv zur Aufklärung
von Verbrechen beigetragen. Dies ist aber in Vergessenheit
geraten – meine Kollegin Claudia Kuretsidis-Haider verwendet
hierfür den Begriff der "2. Verdrängung": Um die NS-Verbrechen - begangen von ÖsterreicherInnen - zu verdrängen, muss
konsequenterweise auch ihre Ahndung verdrängt werden.
Die teilweise unglaublichen Fehlurteile
der 60-er und 70-er Jahre durch Geschworenengerichte (Stichwort:
Murer-Freispruch, Freispruch der Erbauer der Auschwitzer
Krematorien Dejaco und Ertl) sind dafür verantwortlich, dass
Österreich den Ruf bekam, NS-Verbrechen nicht ausreichend
verfolgt zu haben.
derStandard.at: Wie viele Urteile
wurden in den ersten Jahren nach Kriegsende gegen Nazi-Verbrecher
ausgesprochen? Welche Strafen wurden verhängt, mussten diese
üblicherweise abgesessen werden?
Sabine Loitfellner: Zwischen 1945
und 1955 wurden in 136.829 Fällen gerichtliche Voruntersuchungen
wegen des Verdachts nationalsozialistischer Verbrechen oder "Illegalität" (Mitgliedschaft bei der NSDAP zur Zeit ihres Verbots 1933-1938) eingeleitet.
23.477 Urteile wurden gefällt, davon 13.607 Schuldsprüche.
Die Anzahl der wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen
verurteilten Personen liegt vermutlich bei rund 700 Personen.
Insgesamt wurden 43 Angeklagte zum
Tode, 29 Angeklagte zu lebenslänglichem Kerker und 269 Angeklagte
zu Kerkerstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren verurteilt;
30 Todesurteile wurden vollstreckt, 2 Verurteilte begingen
vor der Vollstreckung Selbstmord.
Bereits ab 1947 ging nicht nur die
Tendenz dahin, mildere Urteile zu sprechen, es folgten auch
zahlreiche Amnestien (beginnend mit der Jugendamnestie und
der so genannten "Minderbelastetenamnestie"). Dies bedeutete auch vorzeitige Haftentlassungen für Verurteilte, wobei sich
u. a. hochrangige Politiker (wie Innenminister Oskar Helmer)
für die vorzeitige Amnestie von verurteilten NS-Verbrechern
eingesetzt haben (Seite 2 des oben verlinkten PDFs zeigt
einen Brief Helmers an Justizminister Gerö).
1955 – nach dem Abschluss des Staatsvertrages
– wurden die Volksgerichte aufgelöst, 1957 wurde auch das
KVG und zahlreiche Vorschriften des Verbotsgesetzes aufgehoben
und eine generelle Amnestie erlassen. Die Ahndung von NS-Verbrechen
oblag nun ordentlichen Gerichten. NS-Gewaltverbrechen sind
seither nach dem allgemeinen Strafrecht zu beurteilen. Vor
allem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Menschenwürde
wurden nach der NS-Amnestie von 1957 nicht weiter verfolgt.
Außerdem zeigten weder die Öffentlichkeit noch die politische
Führung besonderes Interesse daran, NS-Verbrechen weiterhin
zu verfolgen.
derStandard.at: Laut Angaben des Wiesenthal
Centers sind zahlreiche Österreicher für Verbrechen der Nazi-"Polizeibattailone" verantwortlich. In Deutschland sind in diesem Zusammenhang insgesamt 15 Urteile
gefällt worden, in Österreich kein einziges, obwohl es auch
Einheiten gab, die ausschließlich aus Österreichern bestanden.
Hat die "Operation Last Chance" in Österreich Aussichten auf Erfolg?
Sabine Loitfellner: Um es salopp zu
formulieren: Das Thema hat sich wohl mittlerweile biologisch
gelöst.
Wenngleich es einige wenige Verdächtige
in Österreich geben mag, sind diese in einem Alter, in dem
sie wohl nicht mehr mit einem Verfahren zu rechnen haben.
Ich verweise auf den Fall Heinrich Gross, dessen Verfahren
wegen der Ermordung von Kindern im Zuge der Euthanasie-Aktion
am Steinhof, so wie es ausschaut, eingestellt werden wird.
der Standard, 2.06.2005
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