|
Dr. Marianne Enigl
NS-Verbrechen. Österreich hat seit Jahrzehnten keinen
NS-Verbrecher mehr vor Gericht gestellt. Das Simon Wiesenthal
Center
Jerusalem will mit einer „Operation letzte Chance“ Druck
machen.
Benita Ferrero-Waldner war not amused. Ende Juli, am Tag vor ihrer
Visite in Israel, hatte das Simon Wiesenthal Center in Jerusalem die
Außenministerin aufgefordert, anlässlich ihres Besuchs in Israel
offiziell ein Umdenken Österreichs in Fragen der NS-Verfolgung
anzukündigen.
Die Ministerin kam dieser Forderung nicht nach. Stattdessen ließ
sie die Angelegenheit auf diplomatischem Weg regeln. Was nicht heißt,
dass ihre Reaktion diplomatisch ausgefallen wäre: „Wir bekamen von
Österreichs Botschafter in Tel Aviv, Kurt Hengl, einen sehr bösen
Brief, der noch dazu am Wesentlichen völlig vorbeiging“, sagt Efraim
Zuroff, Direktor des Wiesenthal Center, der dessen weltweite
Recherchen in NS-Verbrechen koordiniert.
Der Anlass für den Vorstoß findet sich im jüngsten Bericht des
Centers über die „Weltweite Untersuchung und Verfolgung von
NS-Kriegsverbrechen“. Darin wird die Untätigkeit der österreichischen
Justiz als einer der bedenklichsten Punkte eigens hervorgehoben:
“Österreich ist jenes Land, das, gemessen an der Zahl potenzieller
Verdächtiger und Täter, am wenigsten getan hat, Menschen vor Gericht
zu stellen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wurde in Österreich keinem
Holocaust-Täter mehr der Prozess gemacht.“
Im Gegensatz zu Österreich wird in mindestens einem Dutzend
Staaten auch mehr als fünfzig Jahre nach Ende des NS-Regimes noch
aktiv gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher ermittelt und vorgegangen.
Weltweit laufen derzeit Erhebungen gegen rund fünfhundert
Verdächtige. Allein zwischen April 2002 und März 2003 kam es zu sechs
Schuldsprüchen, einem davon in Deutschland, wo der 93-jährige frühere
SS-Chef von Genua, Friedrich Engel, zu sieben Jahren Haft verurteilt
wurde.
Botschafter Hengl sei in seinem Brief auf solche Unterschiede in
den Verfolgungsanstrengungen nicht eingegangen, sagt Zuroff: „Es
hieß, dass Frau Ferrero-Waldner über meine Aufforderung sehr
aufgebracht ist und dass wir keine Nachweise dafür vorlegen könnten,
dass Österreich Handlungsbedarf hat.“
„Der Schießer“. Zuroff antwortete umgehend: „Wir haben der
österreichischen Botschaft eine Liste mit 47 Namen von Österreichern
übermittelt. Es sind Leute, die in Polizeibataillons in Osteuropa
tätig waren, von denen schwere Verbrechen verübt worden sind.“ Es
handle sich um Namen von Menschen, von denen das Wiesenthal Center
annimmt, dass sie noch am Leben sind. Weiters wurden berüchtigte
Polizeieinheiten angeführt, denen viele Österreicher angehört haben.
Zuroff: „Wir erwarten, dass untersucht wird.“
Dass Polizisten in NS-Verbrechen verwickelt waren, hat als Erster
der Historiker Christopher Browning in seinem Buch „Ganz normale
Männer“(1) schockierend dokumentiert. Browning stellt darin die
Involvierung des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101 in die
„Endlösung“ in Polen dar.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte der Wiener Historiker Thomas
Geldmacher eine Parallelstudie über Verbrechen, die österreichische
Polizisten in Galizien begangen haben. Der Titel des Buches, „Wir als
Wiener waren ja bei der Bevölkerung beliebt“, ist die wörtliche
Aussage des Polizisten Leopold Mitas, der in Galizien den Spitznamen
„der Schießer“ bekommen hatte.
Geldmacher (2) hat zahlreiche Prozessunterlagen der so genannten
„Volksgerichte“ ausgewertet. Nach Kriegsende waren bei diesen
österreichischen Gerichten zahlreiche Verfahren gegen mutmaßliche
Kriegsverbrecher - auch NS-Polizisten - eingeleitet worden (siehe
Kasten). Da die ehemaligen Einsatzorte der Beschuldigten im späteren
sowjetischen Einflussbereich lagen, wurden die Männer meist von
sowjetischen Militärgerichten zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt.
Nach ihrer Heimkehr 1955 mussten sie erneut vor Gericht, wo sie trotz
eingestandener Tötungen großteils freigesprochen wurden.
Stolz. Freigesprochen wurde etwa Jakob Schuch, der zugab, nach der
Order „Umlegen“ eine wegen der drohenden Deportation völlig
verzweifelte Frau erschossen zu haben. Josef Pöll tötete gemeinsam
mit Leopold Mitas jüdische Raffinieriebesitzer, die man kurz davor
nach Annahme von Bestechungsgeldern noch beschützt hatte. Pöll wurde
zu 20 Jahren Haft verurteilt und 1957 entlassen. Mitas bekam
„lebenslang“, ging jedoch ebenfalls 1957 frei und erhielt dann eine
Gnadenrente. Einer, der später zu den Einheiten gestoßen war, sagte:
„Die Männer rühmten sich wegen ihrer Taten ... Der Held schien umso
größer, je mehr Juden er erschossen oder drangsaliert hatte.“
Wie ihre Hamburger Kollegen waren auch die österreichischen
NS-Polizisten „ganz normale Männer“. Geldmacher: „Sie stammten
überwiegend aus der politisch unauffälligen breiten Masse der
österreichischen Gesellschaft.“ In ihren Wohnungen fand man Gemälde,
Pelze und Hausrat der Deportierten.
20 der jetzt an Österreich übermittelten Namen betreffen
Angehörige der Bataillone 61 beziehungsweise 316. Drei der Männer
sollen durch sehr konkrete Aussagen belastet worden sein. Neben
konkreten Namen mutmaßlicher Täter werden vom Wiesenthal Center auch
die Bataillone 314 und 318 genannt, die beide als Heimatstandort Wien
hatten. Bataillon 314, das sowohl in Polen als später auch im
russischen Raum eingesetzt gewesen war, werden annähernd 4000 Opfer
zugeschrieben. Für Bataillon 318 sollen erst jetzt aufgetauchte Fotos
belegen, dass es an Mordeinsätzen beteiligt gewesen sei.
Politischer Wille. In Deutschland haben die Forschungen von
Browning und des Historikers Stefan Klemp, der in dem Buch
„Freispruch für das ,Mord-Bataillon’ den Umgang der deutschen
Nachkriegsjustiz gegen NS-Polizisten dokumentierte, 1998 zu einem
Bundestagsbeschluss geführt: Durch ihn können Kriegsopferrenten
entzogen werden. Rund 100 Ex-Polizisten, die Menschen erschossen
haben, wegen Verjährung oder Befehlsnotstand aber nicht verurteilt
worden sind, ist seither die Opferrente aberkannt worden. In
Österreich wird die Kriegsopferrente nur während der Verbüßung einer
Strafhaft ausgesetzt.
Im September wird das Wiesenthal Center Jerusalem in Österreich
seine „Operation letzte Chance“ starten. Diese Aktion - für Hinweise,
die zur Verfolgung von NS-Verbrechen führen, werden 10.000 Dollar
Prämie ausgesetzt - wurde erstmals im Vorjahr in Estland, Lettland
und Litauen angewandt. Das Vorgehen stieß in den baltischen Staaten
auch auf erhebliche Kritik, führte in Litauen aber zur Eröffnung
zweier Mordverfahren gegen zwanzig Verdächtige. Efraim Zuroff: „Es
ist eine Frage des politischen Willens, sich noch ein Mal der Aufgabe
zu stellen, NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und
zu ahnden.“
Details der Aktion will Zuroff bei einem Besuch in Wien öffentlich
präsentieren. Und er plant auch ein Treffen mit Justizminister Dieter
Böhmdorfer: „Als von der FPÖ nominiertes Regierungsmitglied muss er
ja ein ganz besonderes Interesse daran haben, dass Österreich seine
Haltung ändert.“
(1) Christopher Browning: Ganz normale Männer - Das
Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. rororo,
336 S.
(2) Thomas Geldmacher: „Wir als Wiener waren ja bei der Bevölkerung
beliebt“. Österreichische Schutzpolizisten und die Judenvernichtung
in Ostgalizien 1941-1944. Mandelbaum Verlag, 180 S., Wien 2002.
"die
jüdische" - Gesucht: Ganz normale Männer
|
|