06/2008 vom 6.2.2008

falter.at
  Der Fall Erna Wallisch  
 

Seit sechzig Jahren lebt die Pensionistin Erna Wallisch in Kaisermühlen. Einst gestand sie, Kinder zur Gaskammer geführt zu haben. Nun holt die Vergangenheit sie ein.

Die Tür, an der „Wallisch Erna“ steht, bleibt verschlossen. Die Wohnung dahinter ist dunkel. Seit Tagen hebt in der Schiffmühlenstraße 100 in Wien Kaisermühlen niemand das Telefon ab. Nur einmal öffnete sich diese Tür in den vergangenen Monaten für wenige Sekunden. Davor stand ein britischer Journalist mit einer Kamera.
Auf seinem Foto ist eine Frau im Bademantel mit zerzaustem Haar zu sehen. Das Bild ging um die Welt. Die britische Daily Mail betitelte es mit „Evil Erna“. Nachbarn schlagen seither verärgert die Türen zu, wenn Fremde klingeln. Sie wollen, dass es endlich ein Ende hat und sprechen von Quälerei.
Von Qualen weiß auch Jadwiga L. zu berichten. Die Überlebende des KZ Majdanek erzählte am 13. April 2007 vor polnischen Behörden von einer schwangeren Frau, die einen Mann mit einem Brett zu Tode geprügelt habe. Diese Aussage kann der Auslöser sein für den letzten NS-Prozess in der österreichischen Geschichte. Denn Erna Wallisch war schwanger, als sie ihren Dienst in den Vernichtungsmaschinen des Dritten Reichs versah.
Der Fall Wallisch handelt von der Verstrickung einer heute 87-jährigen Putzfrau in die „Endlösung“ und von der Rolle, die einfache Frauen darin gespielt haben. Es geht aber auch um das Versagen der österreichischen Nachkriegsjustiz, deren Taten zu ahnden.
Erna Wallisch wurde seit 1945 drei Mal zu ihrer Vergangenheit einvernommen. Sie verstrickte sich in Widersprüche, wie die Einvernahmeprotokolle zeigen. Ihre Aussagen sind der Öffentlichkeit bis heute kaum bekannt. Einer Mitschuld am Holocaust war sie sich jedoch nie bewusst. „Wir konnten doch gar nichts anderes machen“, sagte sie 1972, bei ihrer bisher letzten Vernehmung. Die Justiz ließ sie laufen, weil sie nur eine „untergeordnete Rolle“ bei der Vergasung von Juden im KZ Majdanek gespielt haben soll und ihre Taten somit verjährt gewesen seien. Nun lastet ihr eine Zeugin an, selbst gemordet zu haben. Deshalb eröffnet die Justiz nun ein Strafverfahren.
Erna Wallisch wurde am 10. Februar 1922 als Erna Pfannstiel in Benshausen, Thüringen, geboren. Vater Ernst war Postbeamter, Mutter Wilhelmine Hausfrau. Erna ist das fünfte Kind einer Familie, die in einfachen Verhältnissen lebte. In der Zwischenkriegszeit herrschte auch in dieser Region Armut. Es war die Zeit der Weimarer Republik, die Zeit, in der die Demokratie scheiterte. Nach der Volksschule und dem Pflichtjahr besuchte Wallisch eine zweijährige Hauswirtschaftsschule, absolvierte ein freiwilliges Jahr im Reichsarbeitsdienst, arbeitete als Haushaltshilfe.
1939 marschierte die Wehrmacht in Polen ein, Adolf Hitler startete den Vernichtungsfeldzug im Osten. Das Leben der damals 17-Jährigen verlief vor diesem Hintergrund wie jenes hunderttausend anderer deutscher Mädchen auch. Bis sie sich im Frühjahr 1941 zum KZ-Dienst meldete. Erna Wallisch war 19 Jahre alt, als sie sich um eine Stelle als Aufseherin im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bewarb. Die SS suchte in jener Zeit Frauen wie Wallisch: ledig, kinderlos und „ohne spezielle berufliche Kenntnisse“. Wallisch werde weibliche Gefangene bewachen, die „irgendwelche Verstöße gegen die Volksgemeinschaft“ begangen hätten, hieß es in einem Schreiben der SS. Sie unterschrieb eine „Erklärung über den Umgang mit Häftlingen“, wonach „eigenmächtige Bestrafungen und tätliche Übergriffe auf Häftlinge“ verboten seien. Über „Leben und Tod eines Staatsfeindes“, so lernten die 4000 Aufseherinnen, „entscheidet der Führer“. Vom industriellen Judenmord, sagt der Wiener Historiker Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) heute, hatten die Frauen zu diesem Zeitpunkt noch nichts gewusst. Er war zu jener Zeit jedoch schon im Geheimen vorbereitet worden.
Erna Wallisch lernte in Ravensbrück erstmals den Alltag im KZ kennen, er war völlig anders, als es in den offiziellen Schreiben der SS geschrieben stand. Sie legte nie über ihre Zeit in Ravensbrück Zeugnis ab. Österreichs Behörden fragten sie auch nie danach. Germaine Tillion, die als Gefangene in Ravensbrück war, schreibt über die ersten Erfahrungen von Wärterinnen in KZs: „Die Neurekrutinnen wirkten bei ihrem ersten Kontakt mit dem Lager entsetzt.“ Sie seien einfach, eher ärmlich gekleidet gewesen und hätten am Lagerplatz „mit erschreckten Augen auf vorbeimarschierende Häftlinge geblickt“, erinnert sich eine andere Insassin. Es brauchte einige Zeit, bis die jungen Frauen die „zügellose Grausamkeit“ der dienstälteren Aufseherinnen erreichten – vier, vielleicht fünf Tage.
Simon Wiesenthal erklärte später, dass diese Leute „an der Wäschekammer auch ihr Gewissen abgegeben haben“. Die jungen Frauen tauschten ihre Damenschuhe gegen kniehohe Lederstiefel mit Stahlkappen, die sonst Männern als Symbol ihrer Machtstellung vorbehalten waren. Für 68 Wochenstunden erhielten sie 105 Reichsmark netto, das entspricht heute etwa tausend Euro. In wenigen Tagen wurden Befehlsempfängerinnen zu Befehlshaberinnen, unbedeutende Bedienerinnen zur „Frau Aufseherin“. Aufgrund ihrer schwarzen Mäntel nannten Gefangene die SS-Frauen „schwarze Krähen“. Die Wärterinnen prügelten tagsüber auf gebrechliche Gefangene ein und zogen sich nach Feierabend in Räume zurück, die im „Landhausstil“ eingerichtet und mit Kochnischen und Waschbecken ausgestattet waren. Vor Erna Wallischs Loggia erstreckte sich der Schwedtsee.
Im Oktober 1942, nach mehr als einem Jahr Dienst in Ravensbrück, änderte sich das Leben der Erna Wallisch radikal. Gemeinsam mit neun anderen Wärterinnen wird sie nach Polen ins Lubliner Lager Majdanek versetzt, es ist kein Arbeits-, sondern ein Vernichtungslager. Den Alltag in jenem KZ hat die Historikerin Elissa Mailänder-Koslov umfassend erforscht. Sie spricht von einem „Umschlagplatz“ des Völkermords.
Die Gegend um Lublin, in der Wallisch nun lebte, spielte bei der „Endlösung“ bald eine zentrale Rolle. Zunächst war geplant, hier im „Generalgouvernement“ an der sowjetischen Grenze ein „Judenreservat“ zu errichten. Plante die SS, die dort lebenden Juden zuerst noch in weißrussische Sümpfe oder nach Madagaskar zu deportieren, so wurde bereits 1941 über ihre „Ausrottung“ nachgedacht. Im Sommer 1941 wurde SS-Brigadierführer Odilo Globocnik zum „Beauftragten“ für den „neuen Ostraum“ ernannt, und noch am Tag seiner Bestellung befahl er im Rahmen der geheimen „Aktion Reinhardt“ die Errichtung eines Konzentrationslagers für 250.000 Insassen in Majdanek. Das Lager umfasste 25 Hektar, es waren dort 1100 SS-Leute beschäftigt. Ursprünglich sollten dort vor allem sowjetische Kriegsgefangene interniert werden. Doch schon bald wurde vor allem die jüdische Zivilbevölkerung Europas hierhergebracht. Zehntausende starben im ersten Winter, sie erfroren, verhungerten oder erlagen Seuchen. Die SS erschoss die Juden massenhaft in Wäldern, erhängte sie oder prügelte sie an Ort und Stelle tot.

Hitler änderte seine „Judenpolitik“: Am 20. Jänner 1942 beschloss seine Führungselite am Berliner Wannsee die „Endlösung“, den industriellen und systematischen Mord von Millionen Menschen in ganz Europa. Im März 1942 „räumte“ Globocnik die Ghettos in Lublin. Am Tag danach fanden die ersten Vergasungen im polnischen Vernichtungslager Belzec statt. 18.000 Juden wurden in den Tod getrieben. In Auschwitz-Birkenau wurden Bauernhäuser in Gaskammern umgebaut. In Majdanek erstickten die ersten Juden im Oktober 1942 im Gas.
In jenem Monat trat Erna Wallisch ihren Dienst in Majdanek an. Wallisch wohnte zunächst in einer Dienstvilla, wie sie später selbst erzählen wird. Zum ersten Mal sehen Wärterinnen wie sie die Krematorien, die Haufen nackter Leichen und SS-Wärter, die sich daneben betrinken.
Die von der Historikerin Mailänder-Koslov gesammelten Berichte jener, die das Lager überlebt haben, legen Zeugnis ab über den alltäglichen Horror und über jene Männer und Frauen, die ihn nach Majdanek gebracht haben: Aufseherinnen schlugen und traten so lange mit Peitschen und Stiefeln auf Gefangene ein, bis sie „nur noch in Fetzen“ am Boden lagen. Sie hetzten Hunde auf schwangere Frauen und sahen zu, wie sie ihnen die Babys aus den Bäuchen rissen. SS-Leute trugen Neugeborene eigenhändig zu den Verbrennungsöfen. Insassen wurden in Jauche ertränkt, in den Stromzaun gejagt, mit Eisenstangen erschlagen oder vor den Augen ihrer Familien erhängt. Die SS verbrannte Frauen bei lebendigem Leib. Wer nicht durch Prügel umkam, wurde vergast. Durch ein Fenster schauten SS-Leute ihren Opfern beim qualvollen Sterben zu. Ein Wärter wird später berichten, dass er bei einer der zwei „Kindervergasungen“ die Kleinen in der Gaskammer beobachtete. Sie beteten auf Knien.
Erna Wallisch sprach erst zwanzig Jahre später über diese Zeit. Das erste Mal im Jahr 1965, als die Grazer Justiz gegen sie, ihren Mann und weitere Wärter von Majdanek ermittelte. Den österreichischen Behörden erzählte sie, dass sie von Prügeleien und Gaskammern nichts mitbekommen hätte. Das Verfahren gegen die Wallischs wird eingestellt. 1972 wird sie in Wien erneut einvernommen, diesmal als Zeugin für einen Prozess in Deutschland. Ein deutscher Staatsanwalt reist nach Österreich und befragt sie gemeinsam mit einem Wiener Strafrichter. Jetzt erzählt sie auch von „Selektionen“ und von Aufseherinnen, die „mit der Hand oder mit einem Stock in der Hand“ über Leben und Tod entschieden. „Es hat geheißen, sie würden zum Bad gebracht. Für mich war klar, dass diese Frauen vom Bad nicht mehr zurückkommen würden, weil sie in die Gaskammer geführt werden.“
Wallisch beschrieb geschlossene Räume ohne Fenster und Türen aus Eisen. „Ich musste vor der Gaskammer Häftlingsfrauen bewachen, die sich auszogen und duschten. Am Ende des Duschraums war eine solche Stahltür und dahinter lag meines Wissens die Gaskammer. Dort wurden die Frauen nach dem Duschen hineingeführt. Das habe ich selbst gesehen.“ Wallisch musste „für Ordnung sorgen“, als sich die Frauen und Kinder auszogen. Es sei „vorgekommen, dass die Frauen schrieen. Sie hatten offenbar Angst. Wir mussten sie dann beruhigen. Wir haben ihnen dann gut zugeredet und durch Handbewegungen für Ruhe gesorgt. Es waren alte und junge Frauen und auch Kinder, die ich gesehen habe, als sie in die Gaskammer geführt wurden.“ Aufseher zwangen Gefangene anschließend, die Leichen zu verbrennen. Die Asche wurde zu Mehl verarbeitet, und als Dünger auf den Lageräckern verstreut. Die Kohlköpfe, die auf diesen Feldern wuchsen, bekamen die Insassen zu essen. Es habe durch die Verbrennungen so gestunken, wird später ein Zeuge zu Protokoll geben, dass die Aufseherinnen mit einem Taschentuch vor der Nase durchs Lager gingen. „Die Vernichtung“, so die Historikerin Mailänder-Koslov, „war allgegenwärtig: sie war sichtbar, hörbar, riechbar.“ Unter den Aufseherinnen, die in den Tötungsprozess „involviert“ gewesen seien, habe „stillschweigendes Tolerieren“ geherrscht.
Erna Wallisch trug unter Gefangenen den Spitznamen „Halte Klappe, Mensch“, weil sie so lautstark auftrat. Unter der Wachmannschaft galt sie laut Mailänder-Koslov als „Aufsässige“. In Meldungen wird ihr „äußerst frecher Ton“ gegenüber Oberen gerügt. Einmal sagte sie einem Vorgesetzten, er möge sie „am Arsch lecken“. Sogar eine Verwarnung wegen Befehlsverweigerung handelte sie sich ein. Gegen die Gaskammern hat sie jedoch nie protestiert. Zumindest findet sich davon nichts in den Verhörprotokollen.
Vom Leben nach Dienstschluss ist wenig bekannt. Die Aufseherinnen kochten und aßen gemeinsam, sie flickten ihre Kleidung und lasen Liebesromane aus der Lagerbibliothek, ritten mit Vollblütern aus und tranken Kaffee im „Deutschen Haus“, einem Treffpunkt des Lagerpersonals in Lublin. „Ja meine Güte“, wird eine der brutalsten Aufseherinnen später erzählen, „dann war man müde, man war zerschlagen, man musste mal schreiben, man musste seine Wäsche in Ordnung bringen.“
Im Lager schob zu jener Zeit auch der Sohn eines Feuerwehrmannes und einer Hausfrau aus Wien Wache: Georg Wallisch. Er war damals 21 Jahre alt. Im Mai 1938, als 17-Jähriger, meldete er sich freiwillig zur SS. Er kämpfte zunächst an der Front im Sudetenland, von wo er über Oranienburg im Jahr 1941 als Wache ins KZ Majdanek kam. Erna und Georg fanden einander.
Aus hygienischen Gründen war Geschlechtsverkehr im Lager offiziell verboten. In einem Erlass wurde SS-Männern vorgeschrieben, sich „nach jedem außerehelichen Geschlechtsverkehr sofort sanieren zu lassen“.
Schwangerschaften waren damals einer der wenigen Gründe für Aufseherinnen, das Lager verlassen zu dürfen. Solange die Liebschaften unter „Ariern“ blieben, wurden sie aber toleriert. Erna Wallisch wurde im Mai 1943 schwanger. Im Dezember heirateten sie und Georg Wallisch. Da stand der Kindsvater schon unter Arrest. Er hatte goldene Uhren gestohlen, die Juden bei der Selektion auf den Boden werfen mussten. SS-Leiter Heinrich Himmler sprach zu jener Zeit in seiner Posener Rede davon, dass SS-Leute zwar die Juden völlig ausrotten sollten, doch niemals dürften sie sich an ihrem Vermögen vergreifen. Darauf stünde der Tod. Georg Wallisch wurde nur zu drei Jahren Kerker verurteilt.

Der dritte November 1943 begann für Erna Wallisch mit einem Wiener Walzer. Die Musik sollte die Schüsse und die Schreie übertönen. „Wir Aufseherinnen“, gab sie zwanzig Jahre später zu Protokoll, „hatten am betreffenden Tage Weisung erhalten, in den Unterkünften zu bleiben. Schon in den frühen Vormittagsstunden hörten wir plötzlich vom rückwärtigen Teil des Lagers her fürchterliches Schießen.“ Die Jüdinnen in der Baracke seien „furchtbar ängstlich“ gewesen. „Da die Schießerei den ganzen Tag über nicht aufhörte, war ich schon selber der Meinung, dass alle Lagerinsassen liquidiert würden.“ Wallisch erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Der Tag, an dem die Schwangere im KZ Majdanek zusammengebrochen war, ging als „Erntefest“ in die Geschichte ein. Nach einer Lagerrevolte in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor ermordeten die Nazis innerhalb von 24 Stunden im Distrikt Lublin 42.000 Juden. Erschossen wurden die Gefangenen der umliegenden Lager, aber auch Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz, in ihren Wohnungen oder in Cafés verhaftet worden waren. Allein im KZ Majdanek kamen 18.000 Menschen um.
SS-Leute zwangen die Gefangenen zunächst, einen Graben auszuheben. Dann mussten sie sich nackt ausziehen und „dachziegelförmig“ in die Gruben legen, wo sie unter den Klängen von Tanzmusik erschossen wurden. Die Exekutoren erhielten für den „Sondereinsatz“ zwei Liter Wodka und 400 Zigaretten.
Am 23. Juli 1944 befreiten russische Soldaten das großteils geräumte Lager Majdanek. Der Journalist Alexander Werth berichtete für die BBC von diesem Tag: „Meine Schuhe waren weiß von Menschenasche. Auf dem Steinboden vor den Öfen lagen menschliche Skelette. Hier ein ganzer Brustkorb mit Rippen, dort ein Stück Gehirnschale, da ein Unterkiefer, in dem noch die Backenzähne steckten. In einiger Entfernung hatte man ein zwanzig bis dreißig Meter langes Massengrab geöffnet. Darin lagen Hunderte von nackten Leichen. Viele wiesen Einschüsse im Hinterkopf auf. Ein Kind hielt noch seinen Teddybär im Arm.“
Im Generalgouvernement Lublin, so schätzen Historiker, wurden 1,8 Millionen Juden ermordet. Die Zahlen der in Majdanek Getöteten variieren zwischen 78.000 und 250.000. Elsa Ehrich, Kommandantin des Frauenlagers in Majdanek, wurde 1948 in Polen zum Tode verurteilt, ebenso wie 108 andere Majdanek-Aufseher. Einige der Verantwortlichen werden in Lublin vor den Augen von 25.000 Bürgern der Stadt gehängt.

Erna Wallisch hatte das Lager bereits verlassen, als die Russen kamen. Sie beendete ihren Dienst am 15. Jänner 1944 und zog nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland in ein Zinshaus in der Schiffmühlenstraße, Wien-Kaisermühlen. In diesem Jahr brachte sie ihre erste Tochter zur Welt. Georg Wallisch wurde währenddessen von der SS begnadigt und an die Front geschickt, von wo er schwerverwundet in ein Lazarett nach Thüringen gelangte. Die Amerikaner nahmen ihn fest und hielte ihn bis Oktober 1946 in einem Internierungslager in Darmstadt fest. Dann kehrte er nach Wien zurück.
Während sich die Wallischs ein kleinbürgerliches Leben aufbauten, begannen die Volksgerichte der Alliierten in Wien die NS-Verbrechen aufzuarbeiten. Es setzte harte Urteile, sogar für Mitläufer, die jedoch sehr bald schon wieder abgemildert wurden. Eine der brutalsten Aufseherinnen in Majdanek, die Hilfsarbeiterin Hermine Braunsteiner, wurde 1949 zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt, weil sie in Ravensbrück Gefangene misshandelt hatte. Bereits 1950 wurde sie begnadigt. Ihre Morde in Majdanek kamen vor Gericht nicht zur Sprache. So blieben auch Erna und Georg Wallisch unbehelligt.
Es sollte zwanzig Jahre dauern, bis sich die österreichische Justiz mit Majdanek zu befassen begann. Mitte der Sechzigerjahre wurden mehrere ehemalige SS-Angehörige einvernommen. Im Jänner 1965 verhörte die Staatspolizei Georg und Erna Wallisch. Ein Staatsanwalt schrieb in den Akt: „Wegen Verjährung dringend!“
Die Wallischs wohnten nach wie vor in Kaisermühlen. Erna Wallisch arbeitete als Bedienerin, verdiente 1600 Schilling im Monat. Ihr Mann brachte als Fliesenleger 2000 Schilling nachhause. Mittlerweile hatte sie eine zweite Tochter bekommen.
„Ich bin nicht in der Lage, über die Tötung von Häftlingen im KZ-Lager Lublin Angaben zu machen“, sagte Georg Wallisch vor den Behörden, „es war aber ein offenes Geheimnis im ganzen Lager, dass häufig Tötungen von Häftlingen vorkamen.“ Er habe von der „Verwendung der Gaskammern zum Zweck der Vergasung von Juden“ gewusst: „Das wusste aber damals die ganze Stadt Lublin.“
Er widersprach damit seiner Frau. Erna Wallisch bestritt bei ihrer ersten Einvernahme, von den Gaskammern gewusst zu haben. Ein fensterloser Raum, der ans Bad angeschlossen war, sei ihr zwar aufgefallen, dessen Zweck aber vor ihr verheimlicht worden, beteuerte sie. Von den Massenerschießungen und von einem Krematorium habe sie gewusst. Misshandlungen von Insassen habe sie aber nie beobachtet.
Trotz solcher Widersprüche konnte das Ehepaar nach wenigen Stunden wieder nachhause gehen. Das Verfahren gegen die beiden wurde eingestellt.
Am 1. August 1972 geriet Georg Wallisch erneut ins Visier der Justiz. Wallisch arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Portier. Von seiner Frau war er mittlerweile geschieden. Ein Zeuge gab damals an, Wallisch habe im Winter 1942 mehrere Gefangene erschossen. Georg Wallisch beteuerte jedoch, „nie, weder im betrunkenen noch im nüchternen Zustand“, jüdische Gefangene erschossen zu haben: „Meiner Meinung nach kann es sich bei den beiden übereinstimmenden Zeugenaussagen nur um eine Namensverwechslung bzw. eine Namensgleichheit handeln.“ Abermals reichten der Staatsanwaltschaft solche Aussagen, um den Beschuldigungen nicht weiter nachzugehen.
Auch politische Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein. Denn anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit, waren bereits ab Mitte der Fünfzigerjahre NS-Täter kaum noch verurteilt worden. Im Justizministerium trat deshalb Anfang der Siebzigerjahre SPÖ-Justizminister Christian Broda mit seinen Oberstaatsanwälten in einer geheimen Sitzung zusammen. Sie beschlossen, keine weiteren Anstrengungen mehr zu unternehmen, NS-Verbrecher anzuklagen. Denn die Geschworenensenate, so der Historiker Winfried Garscha vom DÖW, sprachen auch die schlimmsten NS-Verbrecher frei, weil sie den Opfern nicht glaubten. In einem Auschwitzprozess in Wien wurden 1972 sogar zwei Konstrukteure der Gaskammern freigesprochen. Die Politik kam zum Befund, es habe keinen Sinn mehr und zog einen Schlussstrich. 1975 endete der letzte Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Verbrecher. Mit Freispruch.
In Deutschland hingegen versuchte zu dieser Zeit der junge Staatsanwalt Dieter Ambach die Verantwortlichen von Majdanek doch noch vor Gericht zu stellen. Seine Ermittlungen führten ihn auch nach Wien. Am 30. November 1972 vernahm er Erna Wallisch. Anders als 1965 sprach Wallisch über die Gaskammern und die „ängstlichen Frauen“, die sie dort zu „beruhigen“ hatte. Am Ende des Verhörs sagte Wallisch: „Wenn mir gesagt wird, dass ich mich nach meinen Angaben der Beteiligung am Mord schuldig gemacht haben kann, so sage ich: Wieso? Den Befehlen mussten wir folgen. Wenn ich mich geweigert hätte, so wäre ich vielleicht eingesperrt worden.“ Ambach, der heute als pensionierter Staatsanwalt in Düsseldorf lebt, kann sich noch an das Verhör erinnern. „Frau Wallisch wirkte emotionslos.“
Für die Staatspolizei waren Wallischs Bekenntnisse neu. Sie drängte die Staatsanwaltschaft Wien, ihr doch noch einmal den Prozess zu machen. Der Staatsanwalt stellte das Verfahren jedoch ein. Wallisch sei zwar nicht unschuldig, doch da sie nur eine „untergeordnete Rolle“ bei den Vergasungen zu verantworten habe, sei die Tat aufgrund der damals geltenden Rechtslage verjährt.
Die Wiener Justiz sah das KZ Majdanek offenbar nicht als einheitliche organisierte Tötungsmaschine, die nur durch die Beteiligung aller SS-Leute funktionieren konnte, sondern sie versuchte, die persönliche Schuld jedes kleinen Rädchens nachzuweisen. Was auf den ersten Blick wie eine hehre rechtsstaatliche Vorgangsweise aussieht, werten Historiker wie Winfried Garscha auch als mangelnde Bereitschaft der Justiz, gegen NS-Täter mit aller Härte vorzugehen.

Am 25. November 1975 begann in Düsseldorf der Majdanek-Prozess, für den Wallisch als Zeugin in Wien befragt worden war. Es war der weltweit letzte große Prozess gegen NS-Verbrecher. Auf der Anklagebank saßen neben neun Männern sechs ehemalige Aufseherinnen. Darunter auch Hermine Braunsteiner. Es ist jene Wienerin, die in Wien vom Volksgericht wegen ihrer Taten in Ravensbrück verurteilt und bereits kurz darauf begnadigt worden war. Nach ihrer Entlassung war sie in die USA emigriert, wo sie einen Amerikaner geheiratet hatte. Simon Wiesenthal spürte sie auf. Ebenfalls angeklagt war Hildegard Lächert, im Lager als „Blutige Brigitte“ gefürchtet, weil sie so viele Häftlinge mit eigenen Händen totgeschlagen hatte. „Sie stand nie still, und ihre Hände waren immer voller Blut“, erzählte eine Zeugin. Die Medien gingen beim Düsseldorfer Prozess wenig zimperlich mit den ehemaligen Aufseherinnen um, die elegant gekleidet oder auch mit Steirerhüten zum Prozess kommen. „Bestien“, „Furien“, „Monstren“ schrieben die Zeitungen.
Während des Prozesses drehte der mittlerweile verstorbene deutsche Regisseur Eberhard Fechner eine dreiteilige Dokumentation über Majdanek. Unter der Vereinbarung, dass das Videomaterial erst nach Ende des Prozesses veröffentlicht werde, erzählten die meisten der Angeklagten überraschend offen über ihre Taten. Auch Erna Wallisch gewährte ein Interview. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer, trägt eine dicke Hornbrille und spricht keinen Thüringer Akzent mehr, sondern Wienerisch. Jannet Fechner war als Regieassistentin dabei, als das Interview in der Wohnung in der Wiener Schiffmühlenstraße stattfand. „Wallisch“, erzählt sie heute, „schickte die anwesenden Kinder ins Kino.“ Sie sagte: „Sollen die hier mit anhören, was ich einmal gemacht habe?“ Fechner spricht von einer „herben, harten Frau“.
Der Prozess in Düsseldorf endet am 30. Juni 1981, nach fünf Jahren und 474 Verhandlungstagen. Nur sieben Personen werden zu Freiheitsstrafen verurteilt. Einzig Hermine Braunsteiner erhält lebenslänglich, sie starb 1999, drei Jahre nach ihrer Begnadigung.
Die Ernüchterung war groß. Die Bevölkerung wurde der Verfolgung von NS-Verbrechen überdrüssig. In Umfragen sprach sich in Deutschland nach dem Majdanek-Prozess eine Mehrheit gegen weitere NS-Verfahren aus. Doch immerhin: In Düsseldorf gab es den Prozess und eine historische Aufarbeitung durch die Justiz. Vor allem auch für die Opfer war das wichtig.
Anders in Österreich, das sich damals noch als Opfer Hitlerdeutschlands inszenierte. Nur mehr Einzelne wurden durch den unermüdlichen Simon Wiesenthal öffentlich mit ihrer NS-Vergangenheit konfrontiert. Sie starben aber entweder vor dem Prozess, wie etwa der Grazer Zahnarzt Egon Sabukoschek, der Geiselerschießungen im ehemaligen Jugoslawien vorbereitet haben soll. Oder sie wurden – wie der NS-Arzt Heinrich Gross – wegen Demenz für verhandlungsunfähig erklärt. In der Wiener Staatsanwaltschaft, so erinnern sich Augenzeugen, rief in den Achtzigern der Portier die Staatsanwälte an, wenn Wiesenthal das Haus betrat, um neue Beweise abzuliefern. Die Ankläger versperrten ihre Türen.
Den undankbaren Job des Nazijägers hat nun Efraim Zuroff übernommen. Seit zwanzig Jahren koordiniert der Historiker für das Wiesenthal-Center die Suche nach den letzten NS-Verbrechern. Im Jahr 2002 rief der gebürtige New Yorker die Operation „Last Chance“ aus. Zuroff will Wiesenthals Erbe verwalten, keine Ruhe geben, solange die Täter noch ohne Urteil in Freiheit leben. Er fahndet etwa nach dem Mauthausener Lagerarzt Aribert Heim. Der ließ die Schädel von KZ-Gefangenen auskochen, nachdem er sie bei lebendigem Leibe aufgeschlitzt hatte. Zuroff kooperiert mit Zielfahndern, die derzeit südamerikanische Pensionistenheime durchsuchen. Er spürt Zeugen, Beweise, Adressen auf und setzt die Justizminister vieler Länder unter Druck. Zuroff schaltete auch eine Anzeige in der Kronen Zeitung. Diese veranlasste jemanden am 8. Mai 2004, dem Jahrestag der Befreiung, einen anonymen Brief zu verfassen. Zuroff schreckte auf, als er das Schreiben las. In der Schiffmühlenstraße 100, stand darin, lebe der „Weibsteufel vom KZ“. Es ist die Adresse von Erna Wallisch, ihre Nummer steht sogar im Telefonbuch. Sie lebt seit sechzig Jahren in dieser Straße, ist nur einmal einen Block weit umgezogen.
Im Jänner 2006 forderte Zuroff die damalige BZÖ-Justizministerin Karin Gastinger auf, gegen die ehemalige Majdanek-Aufseherin aktiv zu werden. Alles verjährt, bedauerte diese. Zuroff reiste weiter nach Polen. Die Behörden dort würden gerne gegen Wallisch ermitteln, doch auch hier das gleiche Dilemma: Es gibt keine Zeugenaussagen, die auf eine unmittelbare Beteiligung Wallischs an einem Mord in Majdanek hindeuten. Die Polen recherchierten weiter.

Nun gibt es fünf neue Aussagen, die Warschau dem österreichischen Justizministerium im Oktober vergangenen Jahres übermittelte. Sie wurden zwischen April 2006 und April 2007 zu Protokoll gegeben. Erna Wallisch, geborene Pfannstiel, soll demnach einen Säugling aus einem Versteck gezogen und „wie ein Holzstück auf den Boden geworfen“ haben. Sie soll selbst Selektionen von Frauen und Kindern zur Vergasung vorgenommen und Gefangene ausgepeitscht haben, und nicht nur – wie sie selbst stets beteuert hatte – dabei zugesehen haben. Die wohl wichtigste Aussage stammt von Jadwiga L. Sie erzählt von einer schwangeren Frau, die einen Mann mit einem Brett so lange geschlagen haben soll, bis er sich nicht mehr rührte und sein Kopf in einer Blutlache lag.
Die Aussagen seien mit Vorsicht zu bewerten, heißt es aus Justizkreisen. Sie wurden mehr als sechzig Jahre nach dem Delikt getätigt. Und die meisten der Anschuldigungen sind einer schwangeren Frau zugeordnet. Wallisch war schwanger, so wie ein paar andere Wärterinnen auch. Die Staatsanwaltschaft Wien hat das Verfahren zwar eröffnet, ob es aber auch zu einer Anklage kommen wird, ist noch unklar.
Erna Wallisch selbst will keine Stellung dazu nehmen, nicht zu ihrem Leben und nicht zu den neuen Vorwürfen. Dem profil versicherte sie, an Gewalttätigkeiten nicht beteiligt gewesen zu sein. Die Pensionistin lebt heute wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit vermutlich bei einer ihrer Töchter, vielleicht liegt sie auch im Spital, mutmaßt ein Nachbar. Seit einigen Tagen, erzählt ein anderer, kann er den Fernseher, den Wallisch wegen ihrer Schwerhörigkeit immer zu laut aufgedreht hatte, abends nicht mehr hören. Was er über sie sagen kann? Ein Glasauge soll sie haben und ein Lungenleiden, weswegen sie oft an einer Sauerstoffflasche hängt. Viel mehr weiß er nicht über die Frau, die seit 35 Jahren neben ihm lebt. Nur dass sie den Kindern im Haus früher Zuckerln schenkte. Bis sie irgendwann begann, schnell die Türe zu schließen, wenn jemand vorbeikam.

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