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Seit sechzig Jahren lebt die Pensionistin Erna Wallisch in
Kaisermühlen. Einst gestand sie, Kinder zur Gaskammer geführt
zu haben. Nun holt die Vergangenheit sie ein.
Die Tür, an der „Wallisch Erna“ steht, bleibt verschlossen. Die Wohnung dahinter
ist dunkel. Seit Tagen hebt in der Schiffmühlenstraße 100
in Wien Kaisermühlen niemand das Telefon ab. Nur einmal öffnete
sich diese Tür in den vergangenen Monaten für wenige Sekunden.
Davor stand ein britischer Journalist mit einer Kamera.
Auf seinem Foto ist eine Frau im Bademantel mit zerzaustem
Haar zu sehen. Das Bild ging um die Welt. Die britische Daily
Mail betitelte es mit „Evil Erna“. Nachbarn schlagen seither
verärgert die Türen zu, wenn Fremde klingeln. Sie wollen,
dass es endlich ein Ende hat und sprechen von Quälerei.
Von Qualen weiß auch Jadwiga L. zu berichten. Die Überlebende
des KZ Majdanek erzählte am 13. April 2007 vor polnischen
Behörden von einer schwangeren Frau, die einen Mann mit einem
Brett zu Tode geprügelt habe. Diese Aussage kann der Auslöser
sein für den letzten NS-Prozess in der österreichischen Geschichte.
Denn Erna Wallisch war schwanger, als sie ihren Dienst in
den Vernichtungsmaschinen des Dritten Reichs versah.
Der Fall Wallisch handelt von der Verstrickung einer heute
87-jährigen Putzfrau in die „Endlösung“ und von der Rolle,
die einfache Frauen darin gespielt haben. Es geht aber auch
um das Versagen der österreichischen Nachkriegsjustiz, deren
Taten zu ahnden.
Erna Wallisch wurde seit 1945 drei Mal zu ihrer Vergangenheit
einvernommen. Sie verstrickte sich in Widersprüche, wie die
Einvernahmeprotokolle zeigen. Ihre Aussagen sind der Öffentlichkeit
bis heute kaum bekannt. Einer Mitschuld am Holocaust war
sie sich jedoch nie bewusst. „Wir konnten doch gar nichts
anderes machen“, sagte sie 1972, bei ihrer bisher letzten
Vernehmung. Die Justiz ließ sie laufen, weil sie nur eine
„untergeordnete Rolle“ bei der Vergasung von Juden im KZ
Majdanek gespielt haben soll und ihre Taten somit verjährt
gewesen seien. Nun lastet ihr eine Zeugin an, selbst gemordet
zu haben. Deshalb eröffnet die Justiz nun ein Strafverfahren.
Erna Wallisch wurde am 10. Februar 1922 als Erna Pfannstiel
in Benshausen, Thüringen, geboren. Vater Ernst war Postbeamter,
Mutter Wilhelmine Hausfrau. Erna ist das fünfte Kind einer
Familie, die in einfachen Verhältnissen lebte. In der Zwischenkriegszeit
herrschte auch in dieser Region Armut. Es war die Zeit der
Weimarer Republik, die Zeit, in der die Demokratie scheiterte.
Nach der Volksschule und dem Pflichtjahr besuchte Wallisch
eine zweijährige Hauswirtschaftsschule, absolvierte ein freiwilliges
Jahr im Reichsarbeitsdienst, arbeitete als Haushaltshilfe.
1939 marschierte die Wehrmacht in Polen ein, Adolf Hitler
startete den Vernichtungsfeldzug im Osten. Das Leben der
damals 17-Jährigen verlief vor diesem Hintergrund wie jenes
hunderttausend anderer deutscher Mädchen auch. Bis sie sich
im Frühjahr 1941 zum KZ-Dienst meldete. Erna Wallisch war
19 Jahre alt, als sie sich um eine Stelle als Aufseherin
im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bewarb. Die SS suchte
in jener Zeit Frauen wie Wallisch: ledig, kinderlos und „ohne
spezielle berufliche Kenntnisse“. Wallisch werde weibliche
Gefangene bewachen, die „irgendwelche Verstöße gegen die
Volksgemeinschaft“ begangen hätten, hieß es in einem Schreiben
der SS. Sie unterschrieb eine „Erklärung über den Umgang
mit Häftlingen“, wonach „eigenmächtige Bestrafungen und tätliche
Übergriffe auf Häftlinge“ verboten seien. Über „Leben und
Tod eines Staatsfeindes“, so lernten die 4000 Aufseherinnen,
„entscheidet der Führer“. Vom industriellen Judenmord, sagt
der Wiener Historiker Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv
des österreichischen
Widerstandes (DÖW) heute, hatten die Frauen zu diesem Zeitpunkt
noch nichts gewusst. Er war zu jener Zeit jedoch schon im
Geheimen vorbereitet worden.
Erna Wallisch lernte in Ravensbrück erstmals den Alltag im
KZ kennen, er war völlig anders, als es in den offiziellen
Schreiben der SS geschrieben stand. Sie legte nie über ihre
Zeit in Ravensbrück Zeugnis ab. Österreichs Behörden fragten
sie auch nie danach. Germaine Tillion, die als Gefangene
in Ravensbrück war, schreibt über die ersten Erfahrungen
von Wärterinnen in KZs: „Die Neurekrutinnen wirkten bei ihrem
ersten Kontakt mit dem Lager entsetzt.“ Sie seien einfach,
eher ärmlich gekleidet gewesen und hätten am Lagerplatz „mit
erschreckten Augen auf vorbeimarschierende Häftlinge geblickt“,
erinnert sich eine andere Insassin. Es brauchte einige Zeit,
bis die jungen Frauen die „zügellose Grausamkeit“ der dienstälteren
Aufseherinnen erreichten – vier, vielleicht fünf Tage.
Simon Wiesenthal erklärte später, dass diese Leute „an der
Wäschekammer auch ihr Gewissen abgegeben haben“. Die jungen
Frauen tauschten ihre Damenschuhe gegen kniehohe Lederstiefel
mit Stahlkappen, die sonst Männern als Symbol ihrer Machtstellung
vorbehalten waren. Für 68 Wochenstunden erhielten sie 105
Reichsmark netto, das entspricht heute etwa tausend Euro.
In wenigen Tagen wurden Befehlsempfängerinnen zu Befehlshaberinnen,
unbedeutende Bedienerinnen zur „Frau Aufseherin“. Aufgrund
ihrer schwarzen Mäntel nannten Gefangene die SS-Frauen „schwarze
Krähen“. Die Wärterinnen prügelten tagsüber auf gebrechliche
Gefangene ein und zogen sich nach Feierabend in Räume zurück,
die im „Landhausstil“ eingerichtet und mit Kochnischen und
Waschbecken ausgestattet waren. Vor Erna Wallischs Loggia
erstreckte sich der Schwedtsee.
Im Oktober 1942, nach mehr als einem Jahr Dienst in Ravensbrück,
änderte sich das Leben der Erna Wallisch radikal. Gemeinsam
mit neun anderen Wärterinnen wird sie nach Polen ins Lubliner
Lager Majdanek versetzt, es ist kein Arbeits-, sondern ein
Vernichtungslager. Den Alltag in jenem KZ hat die Historikerin
Elissa Mailänder-Koslov umfassend erforscht. Sie spricht
von einem „Umschlagplatz“ des Völkermords.
Die Gegend um Lublin, in der Wallisch nun lebte, spielte
bei der „Endlösung“ bald eine zentrale Rolle. Zunächst war
geplant, hier im „Generalgouvernement“ an der sowjetischen
Grenze ein „Judenreservat“ zu errichten. Plante die SS, die
dort lebenden Juden zuerst noch in weißrussische Sümpfe oder
nach Madagaskar zu deportieren, so wurde bereits 1941 über
ihre „Ausrottung“ nachgedacht. Im Sommer 1941 wurde SS-Brigadierführer
Odilo Globocnik zum „Beauftragten“ für den „neuen Ostraum“
ernannt, und noch am Tag seiner Bestellung befahl er im Rahmen
der geheimen „Aktion Reinhardt“ die Errichtung eines Konzentrationslagers
für 250.000 Insassen in Majdanek. Das Lager umfasste 25 Hektar,
es waren dort 1100 SS-Leute beschäftigt. Ursprünglich sollten
dort vor allem sowjetische Kriegsgefangene interniert werden.
Doch schon bald wurde vor allem die jüdische Zivilbevölkerung
Europas hierhergebracht. Zehntausende starben im ersten Winter,
sie erfroren, verhungerten oder erlagen Seuchen. Die SS erschoss
die Juden massenhaft in Wäldern,
erhängte sie oder prügelte sie an Ort und Stelle tot.
Hitler änderte seine „Judenpolitik“: Am 20. Jänner 1942 beschloss seine Führungselite
am Berliner Wannsee die „Endlösung“, den industriellen und
systematischen Mord von Millionen Menschen in ganz Europa.
Im März 1942 „räumte“ Globocnik die Ghettos in Lublin. Am
Tag danach fanden die ersten Vergasungen im polnischen Vernichtungslager
Belzec statt. 18.000 Juden wurden in den Tod getrieben. In
Auschwitz-Birkenau wurden Bauernhäuser in Gaskammern umgebaut.
In Majdanek erstickten die ersten Juden im Oktober 1942 im
Gas.
In jenem Monat trat Erna Wallisch ihren Dienst in Majdanek
an. Wallisch wohnte zunächst in einer Dienstvilla, wie sie
später selbst erzählen wird. Zum ersten Mal sehen Wärterinnen
wie sie die Krematorien, die Haufen nackter Leichen und SS-Wärter,
die sich daneben betrinken.
Die von der Historikerin Mailänder-Koslov gesammelten Berichte
jener, die das Lager überlebt haben, legen Zeugnis ab über
den alltäglichen Horror und über jene Männer und Frauen,
die ihn nach Majdanek gebracht haben: Aufseherinnen schlugen
und traten so lange mit Peitschen und Stiefeln auf Gefangene
ein, bis sie „nur noch in Fetzen“ am Boden lagen. Sie hetzten
Hunde auf schwangere Frauen und sahen zu, wie sie ihnen die
Babys aus den Bäuchen rissen. SS-Leute trugen Neugeborene
eigenhändig zu den Verbrennungsöfen. Insassen wurden in Jauche
ertränkt, in den Stromzaun gejagt, mit Eisenstangen erschlagen
oder vor den Augen ihrer Familien erhängt. Die SS verbrannte
Frauen bei lebendigem Leib. Wer nicht durch Prügel umkam,
wurde vergast. Durch ein Fenster schauten SS-Leute ihren
Opfern beim qualvollen Sterben zu. Ein Wärter wird später
berichten, dass er bei einer der zwei „Kindervergasungen“
die Kleinen in der Gaskammer beobachtete. Sie beteten auf
Knien.
Erna Wallisch sprach erst zwanzig Jahre später über diese
Zeit. Das erste Mal im Jahr 1965, als die Grazer Justiz gegen
sie, ihren Mann und weitere Wärter von Majdanek ermittelte.
Den österreichischen Behörden erzählte sie, dass sie von
Prügeleien und Gaskammern nichts mitbekommen hätte. Das Verfahren
gegen die Wallischs wird eingestellt. 1972 wird sie in Wien
erneut einvernommen, diesmal als Zeugin für einen Prozess
in Deutschland. Ein deutscher Staatsanwalt reist nach Österreich
und befragt sie gemeinsam mit einem Wiener Strafrichter.
Jetzt erzählt sie auch von „Selektionen“ und von Aufseherinnen,
die „mit der Hand oder mit einem Stock in der Hand“ über
Leben und Tod entschieden. „Es hat geheißen, sie würden zum
Bad gebracht. Für mich war klar, dass diese Frauen vom Bad
nicht mehr zurückkommen würden, weil sie in die Gaskammer
geführt werden.“
Wallisch beschrieb geschlossene Räume ohne Fenster und Türen
aus Eisen. „Ich musste vor der Gaskammer Häftlingsfrauen
bewachen, die sich auszogen und duschten. Am Ende des Duschraums
war eine solche Stahltür und dahinter lag meines Wissens
die Gaskammer. Dort wurden die Frauen nach dem Duschen hineingeführt.
Das habe ich selbst gesehen.“ Wallisch musste „für Ordnung
sorgen“, als sich die Frauen und Kinder auszogen. Es sei
„vorgekommen, dass die Frauen schrieen. Sie hatten offenbar
Angst. Wir mussten sie dann beruhigen. Wir haben ihnen dann
gut zugeredet und durch Handbewegungen für Ruhe gesorgt.
Es waren alte und junge Frauen und auch Kinder, die ich gesehen
habe, als sie in die Gaskammer geführt wurden.“ Aufseher
zwangen Gefangene anschließend, die Leichen zu verbrennen.
Die Asche wurde zu Mehl verarbeitet, und als Dünger auf den
Lageräckern verstreut. Die Kohlköpfe, die auf diesen Feldern
wuchsen, bekamen die Insassen zu essen. Es habe durch die
Verbrennungen so gestunken, wird später ein Zeuge zu Protokoll geben,
dass die Aufseherinnen mit einem Taschentuch vor der Nase
durchs Lager gingen. „Die Vernichtung“, so die Historikerin
Mailänder-Koslov, „war allgegenwärtig: sie war sichtbar,
hörbar, riechbar.“ Unter den Aufseherinnen, die in den Tötungsprozess
„involviert“ gewesen seien, habe „stillschweigendes Tolerieren“
geherrscht.
Erna Wallisch trug unter Gefangenen den Spitznamen „Halte
Klappe, Mensch“, weil sie so lautstark auftrat. Unter der
Wachmannschaft galt sie laut Mailänder-Koslov als „Aufsässige“.
In Meldungen wird ihr „äußerst frecher Ton“ gegenüber Oberen
gerügt. Einmal sagte sie einem Vorgesetzten, er möge sie
„am Arsch lecken“. Sogar eine Verwarnung wegen Befehlsverweigerung
handelte sie sich ein. Gegen die Gaskammern hat sie jedoch
nie protestiert. Zumindest findet sich davon nichts in den
Verhörprotokollen.
Vom Leben nach Dienstschluss ist wenig bekannt. Die Aufseherinnen
kochten und aßen gemeinsam, sie flickten ihre Kleidung und
lasen Liebesromane aus der Lagerbibliothek, ritten mit Vollblütern
aus und tranken Kaffee im „Deutschen Haus“, einem Treffpunkt
des Lagerpersonals in Lublin. „Ja meine Güte“, wird eine
der brutalsten Aufseherinnen später erzählen, „dann war man
müde, man war zerschlagen, man musste mal schreiben, man
musste seine Wäsche in Ordnung bringen.“
Im Lager schob zu jener Zeit auch der Sohn eines Feuerwehrmannes
und einer Hausfrau aus Wien Wache: Georg Wallisch. Er war
damals 21 Jahre alt. Im Mai 1938, als 17-Jähriger, meldete
er sich freiwillig zur SS. Er kämpfte zunächst an der Front
im Sudetenland, von wo er über Oranienburg im Jahr 1941 als
Wache ins KZ Majdanek kam. Erna und Georg fanden einander.
Aus hygienischen Gründen war Geschlechtsverkehr im Lager
offiziell verboten. In einem Erlass wurde SS-Männern vorgeschrieben,
sich „nach jedem außerehelichen Geschlechtsverkehr sofort
sanieren zu lassen“.
Schwangerschaften waren damals einer der wenigen Gründe für
Aufseherinnen, das Lager verlassen zu dürfen. Solange die
Liebschaften unter „Ariern“ blieben, wurden sie aber toleriert.
Erna Wallisch wurde im Mai 1943 schwanger. Im Dezember heirateten
sie und Georg Wallisch. Da stand der Kindsvater schon unter
Arrest. Er hatte goldene Uhren gestohlen, die Juden bei der
Selektion auf den Boden werfen mussten. SS-Leiter Heinrich
Himmler sprach zu jener Zeit in seiner Posener Rede davon,
dass SS-Leute zwar die Juden völlig ausrotten sollten, doch
niemals dürften sie sich an ihrem Vermögen vergreifen. Darauf
stünde der Tod. Georg Wallisch wurde nur zu drei Jahren Kerker
verurteilt.
Der dritte November 1943 begann für
Erna Wallisch mit einem Wiener Walzer. Die Musik sollte die
Schüsse und die Schreie übertönen. „Wir Aufseherinnen“, gab
sie zwanzig Jahre später zu Protokoll, „hatten am betreffenden
Tage Weisung erhalten, in den Unterkünften zu bleiben. Schon
in den frühen Vormittagsstunden hörten wir plötzlich vom
rückwärtigen Teil des Lagers her fürchterliches Schießen.“
Die Jüdinnen in der Baracke seien „furchtbar ängstlich“ gewesen.
„Da die Schießerei den ganzen Tag über nicht aufhörte, war
ich schon selber der Meinung, dass alle Lagerinsassen liquidiert
würden.“ Wallisch erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Der Tag, an dem die Schwangere im KZ Majdanek zusammengebrochen
war, ging als „Erntefest“ in die Geschichte ein. Nach einer
Lagerrevolte in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor
ermordeten die Nazis innerhalb von 24 Stunden im Distrikt
Lublin 42.000 Juden. Erschossen wurden die Gefangenen der
umliegenden Lager, aber auch Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz,
in ihren Wohnungen oder in Cafés verhaftet worden waren.
Allein im KZ Majdanek kamen 18.000 Menschen um.
SS-Leute zwangen die Gefangenen zunächst, einen Graben auszuheben.
Dann mussten sie sich nackt ausziehen und „dachziegelförmig“
in die Gruben legen, wo sie unter den Klängen von Tanzmusik
erschossen wurden. Die Exekutoren erhielten für den „Sondereinsatz“
zwei Liter Wodka und 400 Zigaretten.
Am 23. Juli 1944 befreiten russische Soldaten das großteils
geräumte Lager Majdanek. Der Journalist Alexander Werth berichtete
für die BBC von diesem Tag: „Meine Schuhe waren weiß von
Menschenasche. Auf dem Steinboden vor den Öfen lagen menschliche
Skelette. Hier ein ganzer Brustkorb mit Rippen, dort ein
Stück Gehirnschale, da ein Unterkiefer, in dem noch die Backenzähne
steckten. In einiger Entfernung hatte man ein zwanzig bis
dreißig Meter langes Massengrab geöffnet. Darin lagen Hunderte
von nackten Leichen. Viele wiesen Einschüsse im Hinterkopf
auf. Ein Kind hielt noch seinen Teddybär im Arm.“
Im Generalgouvernement Lublin, so schätzen Historiker, wurden
1,8 Millionen Juden ermordet. Die Zahlen der in Majdanek
Getöteten variieren zwischen 78.000 und 250.000. Elsa Ehrich,
Kommandantin des Frauenlagers in Majdanek, wurde 1948 in
Polen zum Tode verurteilt, ebenso wie 108 andere Majdanek-Aufseher.
Einige der Verantwortlichen werden in Lublin vor den Augen
von 25.000 Bürgern der Stadt gehängt.
Erna Wallisch hatte das Lager bereits
verlassen, als die Russen kamen. Sie beendete ihren Dienst
am 15. Jänner 1944 und zog nach einem kurzen Aufenthalt in
Deutschland in ein Zinshaus in der Schiffmühlenstraße, Wien-Kaisermühlen.
In diesem Jahr brachte sie ihre erste Tochter zur Welt. Georg
Wallisch wurde währenddessen von der SS begnadigt und an
die Front geschickt, von wo er schwerverwundet in ein Lazarett
nach Thüringen gelangte. Die Amerikaner nahmen ihn fest und
hielte ihn bis Oktober 1946 in einem Internierungslager in
Darmstadt fest. Dann kehrte er nach Wien zurück.
Während sich die Wallischs ein kleinbürgerliches Leben aufbauten,
begannen die Volksgerichte der Alliierten in Wien die NS-Verbrechen
aufzuarbeiten. Es setzte harte Urteile, sogar für Mitläufer,
die jedoch sehr bald schon wieder abgemildert wurden. Eine
der brutalsten Aufseherinnen in Majdanek, die Hilfsarbeiterin
Hermine Braunsteiner, wurde 1949 zu drei Jahren schweren
Kerkers verurteilt, weil sie in Ravensbrück Gefangene misshandelt
hatte. Bereits 1950 wurde sie begnadigt. Ihre Morde in Majdanek
kamen vor Gericht nicht zur Sprache. So blieben auch Erna
und Georg Wallisch unbehelligt.
Es sollte zwanzig Jahre dauern, bis sich die österreichische
Justiz mit Majdanek zu befassen begann. Mitte der Sechzigerjahre
wurden mehrere ehemalige SS-Angehörige einvernommen. Im Jänner
1965 verhörte die Staatspolizei Georg und Erna Wallisch.
Ein Staatsanwalt schrieb in den Akt: „Wegen Verjährung dringend!“
Die Wallischs wohnten nach wie vor in Kaisermühlen. Erna
Wallisch arbeitete als Bedienerin, verdiente 1600 Schilling
im Monat. Ihr Mann brachte als Fliesenleger 2000 Schilling
nachhause. Mittlerweile hatte sie eine zweite Tochter bekommen.
„Ich bin nicht in der Lage, über die Tötung von Häftlingen
im KZ-Lager Lublin Angaben zu machen“, sagte Georg Wallisch
vor den Behörden, „es war aber ein offenes Geheimnis im ganzen
Lager, dass häufig Tötungen von Häftlingen vorkamen.“ Er
habe von der „Verwendung der Gaskammern zum Zweck der Vergasung
von Juden“ gewusst: „Das wusste aber damals die ganze Stadt
Lublin.“
Er widersprach damit seiner Frau. Erna Wallisch bestritt
bei ihrer ersten Einvernahme, von den Gaskammern gewusst
zu haben. Ein fensterloser Raum, der ans Bad angeschlossen
war, sei ihr zwar aufgefallen, dessen Zweck aber vor ihr
verheimlicht worden, beteuerte sie. Von den Massenerschießungen
und von einem Krematorium habe sie gewusst. Misshandlungen
von Insassen habe sie aber nie beobachtet.
Trotz solcher Widersprüche konnte das Ehepaar nach wenigen
Stunden wieder nachhause gehen. Das Verfahren gegen die beiden
wurde eingestellt.
Am 1. August 1972 geriet Georg Wallisch erneut ins Visier
der Justiz. Wallisch arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Portier.
Von seiner Frau war er mittlerweile geschieden. Ein Zeuge
gab damals an, Wallisch habe im Winter 1942 mehrere Gefangene
erschossen. Georg Wallisch beteuerte jedoch, „nie, weder
im betrunkenen noch im nüchternen Zustand“, jüdische Gefangene
erschossen zu haben: „Meiner Meinung nach kann es sich bei
den beiden übereinstimmenden Zeugenaussagen nur um eine Namensverwechslung
bzw. eine Namensgleichheit handeln.“ Abermals reichten der
Staatsanwaltschaft solche Aussagen, um den Beschuldigungen
nicht weiter nachzugehen.
Auch politische Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen
sein. Denn anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit,
waren bereits ab Mitte der Fünfzigerjahre NS-Täter kaum noch
verurteilt worden. Im Justizministerium trat deshalb Anfang
der Siebzigerjahre SPÖ-Justizminister Christian Broda mit
seinen Oberstaatsanwälten in einer geheimen Sitzung zusammen.
Sie beschlossen, keine weiteren Anstrengungen mehr zu unternehmen,
NS-Verbrecher anzuklagen. Denn die Geschworenensenate, so
der Historiker Winfried Garscha vom DÖW, sprachen auch die
schlimmsten NS-Verbrecher frei, weil sie den Opfern nicht
glaubten. In einem Auschwitzprozess in Wien wurden 1972 sogar
zwei Konstrukteure der Gaskammern freigesprochen. Die Politik
kam zum Befund, es habe keinen Sinn mehr und zog einen Schlussstrich.
1975 endete der letzte Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Verbrecher.
Mit Freispruch.
In Deutschland hingegen versuchte zu dieser Zeit der junge
Staatsanwalt Dieter Ambach die Verantwortlichen von Majdanek
doch noch vor Gericht zu stellen. Seine Ermittlungen führten
ihn auch nach Wien. Am 30. November 1972 vernahm er Erna
Wallisch. Anders als 1965 sprach Wallisch über die Gaskammern
und die „ängstlichen Frauen“, die sie dort zu „beruhigen“
hatte. Am Ende des Verhörs sagte Wallisch: „Wenn mir gesagt
wird, dass ich mich nach meinen Angaben der Beteiligung am
Mord schuldig gemacht haben kann, so sage ich: Wieso? Den
Befehlen mussten wir folgen. Wenn ich mich geweigert hätte,
so wäre ich vielleicht eingesperrt worden.“ Ambach, der heute
als pensionierter Staatsanwalt in Düsseldorf lebt, kann sich
noch an das Verhör erinnern. „Frau Wallisch wirkte emotionslos.“
Für die Staatspolizei waren Wallischs Bekenntnisse neu. Sie
drängte die Staatsanwaltschaft Wien, ihr doch noch einmal
den Prozess zu machen. Der Staatsanwalt stellte das Verfahren
jedoch ein. Wallisch sei zwar nicht unschuldig, doch da sie
nur eine „untergeordnete Rolle“ bei den Vergasungen zu verantworten
habe, sei die Tat aufgrund der damals geltenden Rechtslage
verjährt.
Die Wiener Justiz sah das KZ Majdanek offenbar nicht als
einheitliche organisierte Tötungsmaschine, die nur durch
die Beteiligung aller SS-Leute funktionieren konnte, sondern
sie versuchte, die persönliche Schuld jedes kleinen Rädchens
nachzuweisen. Was auf den ersten Blick wie eine hehre rechtsstaatliche
Vorgangsweise aussieht, werten Historiker wie Winfried Garscha
auch als mangelnde Bereitschaft der Justiz, gegen NS-Täter
mit aller Härte vorzugehen.
Am 25. November 1975 begann in Düsseldorf
der Majdanek-Prozess, für den Wallisch als Zeugin in Wien
befragt worden war. Es war der weltweit letzte große Prozess
gegen NS-Verbrecher. Auf der Anklagebank saßen neben neun
Männern sechs ehemalige Aufseherinnen. Darunter auch Hermine
Braunsteiner. Es ist jene Wienerin, die in Wien vom Volksgericht
wegen ihrer Taten in Ravensbrück verurteilt und bereits kurz
darauf begnadigt worden war. Nach ihrer Entlassung war sie
in die USA emigriert, wo sie einen Amerikaner geheiratet
hatte. Simon Wiesenthal spürte sie auf. Ebenfalls angeklagt
war Hildegard Lächert, im Lager als „Blutige Brigitte“ gefürchtet,
weil sie so viele Häftlinge mit eigenen Händen totgeschlagen
hatte. „Sie stand nie still, und ihre Hände waren immer voller
Blut“, erzählte eine Zeugin. Die Medien gingen beim Düsseldorfer
Prozess wenig zimperlich mit den ehemaligen Aufseherinnen
um, die elegant gekleidet oder auch mit Steirerhüten zum
Prozess kommen. „Bestien“, „Furien“, „Monstren“ schrieben
die Zeitungen.
Während des Prozesses drehte der mittlerweile verstorbene
deutsche Regisseur Eberhard Fechner eine dreiteilige Dokumentation
über Majdanek. Unter der Vereinbarung, dass das Videomaterial
erst nach Ende des Prozesses veröffentlicht werde, erzählten
die meisten der Angeklagten überraschend offen über ihre
Taten. Auch Erna Wallisch gewährte ein Interview. Sie sitzt
in ihrem Wohnzimmer, trägt eine dicke Hornbrille und spricht
keinen Thüringer Akzent mehr, sondern Wienerisch. Jannet
Fechner war als Regieassistentin dabei, als das Interview
in der Wohnung in der Wiener Schiffmühlenstraße stattfand.
„Wallisch“, erzählt sie heute, „schickte die anwesenden Kinder
ins Kino.“ Sie sagte: „Sollen die hier mit anhören, was ich
einmal gemacht habe?“ Fechner spricht von einer „herben,
harten Frau“.
Der Prozess in Düsseldorf endet am 30. Juni 1981, nach fünf
Jahren und 474 Verhandlungstagen. Nur sieben Personen werden
zu Freiheitsstrafen verurteilt. Einzig Hermine Braunsteiner
erhält lebenslänglich, sie starb 1999, drei Jahre nach ihrer
Begnadigung.
Die Ernüchterung war groß. Die Bevölkerung wurde der Verfolgung
von NS-Verbrechen überdrüssig. In Umfragen sprach sich in
Deutschland nach dem Majdanek-Prozess eine Mehrheit gegen
weitere NS-Verfahren aus. Doch immerhin: In Düsseldorf gab
es den Prozess und eine historische Aufarbeitung durch die
Justiz. Vor allem auch für die Opfer war das wichtig.
Anders in Österreich, das sich damals noch als Opfer Hitlerdeutschlands
inszenierte. Nur mehr Einzelne wurden durch den unermüdlichen
Simon Wiesenthal öffentlich mit ihrer NS-Vergangenheit konfrontiert.
Sie starben aber entweder vor dem Prozess, wie etwa der Grazer
Zahnarzt Egon Sabukoschek, der Geiselerschießungen im ehemaligen
Jugoslawien vorbereitet haben soll. Oder sie wurden – wie
der NS-Arzt Heinrich Gross – wegen Demenz für verhandlungsunfähig
erklärt. In der Wiener Staatsanwaltschaft, so erinnern sich
Augenzeugen, rief in den Achtzigern der Portier die Staatsanwälte
an, wenn Wiesenthal das Haus betrat, um neue Beweise abzuliefern.
Die Ankläger versperrten ihre Türen.
Den undankbaren Job des Nazijägers hat nun Efraim Zuroff
übernommen. Seit zwanzig Jahren koordiniert der Historiker
für das Wiesenthal-Center die Suche nach den letzten NS-Verbrechern.
Im Jahr 2002 rief der gebürtige New Yorker die Operation
„Last Chance“ aus. Zuroff will Wiesenthals Erbe verwalten,
keine Ruhe geben, solange die Täter noch ohne Urteil in Freiheit
leben. Er fahndet etwa nach dem Mauthausener Lagerarzt Aribert
Heim. Der ließ die Schädel von KZ-Gefangenen auskochen, nachdem
er sie bei lebendigem Leibe aufgeschlitzt hatte. Zuroff kooperiert
mit Zielfahndern, die derzeit südamerikanische Pensionistenheime
durchsuchen. Er spürt Zeugen, Beweise, Adressen auf und setzt
die Justizminister vieler Länder unter Druck. Zuroff schaltete
auch eine Anzeige in der Kronen Zeitung. Diese veranlasste
jemanden am 8. Mai 2004, dem Jahrestag der Befreiung, einen
anonymen Brief zu verfassen. Zuroff schreckte auf, als er
das Schreiben las. In der Schiffmühlenstraße 100, stand darin,
lebe der „Weibsteufel vom KZ“. Es ist
die Adresse von Erna Wallisch, ihre Nummer steht sogar im
Telefonbuch. Sie lebt seit sechzig Jahren in dieser Straße,
ist nur einmal einen Block weit umgezogen.
Im Jänner 2006 forderte Zuroff die damalige BZÖ-Justizministerin
Karin Gastinger auf, gegen die ehemalige Majdanek-Aufseherin
aktiv zu werden. Alles verjährt, bedauerte diese. Zuroff
reiste weiter nach Polen. Die Behörden dort würden gerne
gegen Wallisch ermitteln, doch auch hier das gleiche Dilemma:
Es gibt keine Zeugenaussagen, die auf eine unmittelbare Beteiligung
Wallischs an einem Mord in Majdanek hindeuten. Die Polen
recherchierten weiter.
Nun gibt es fünf neue Aussagen, die
Warschau dem österreichischen Justizministerium im Oktober
vergangenen Jahres übermittelte. Sie wurden zwischen April
2006 und April 2007 zu Protokoll gegeben. Erna Wallisch,
geborene Pfannstiel, soll demnach einen Säugling aus einem
Versteck gezogen und „wie ein Holzstück auf den Boden geworfen“
haben. Sie soll selbst Selektionen von Frauen und Kindern
zur Vergasung vorgenommen und Gefangene ausgepeitscht haben,
und nicht nur – wie sie selbst stets beteuert hatte – dabei
zugesehen haben. Die wohl wichtigste Aussage stammt von Jadwiga
L. Sie erzählt von einer schwangeren Frau, die einen Mann
mit einem Brett so lange geschlagen haben soll, bis er sich
nicht mehr rührte und sein Kopf in einer Blutlache lag.
Die Aussagen seien mit Vorsicht zu bewerten, heißt es aus
Justizkreisen. Sie wurden mehr als sechzig Jahre nach dem
Delikt getätigt. Und die meisten der Anschuldigungen sind
einer schwangeren Frau zugeordnet. Wallisch war schwanger,
so wie ein paar andere Wärterinnen auch. Die Staatsanwaltschaft
Wien hat das Verfahren zwar eröffnet, ob es aber auch zu
einer Anklage kommen wird, ist noch unklar.
Erna Wallisch selbst will keine Stellung dazu nehmen, nicht
zu ihrem Leben und nicht zu den neuen Vorwürfen. Dem profil
versicherte sie, an Gewalttätigkeiten nicht beteiligt gewesen
zu sein. Die Pensionistin lebt heute wegen der öffentlichen
Aufmerksamkeit vermutlich bei einer ihrer Töchter, vielleicht
liegt sie auch im Spital, mutmaßt ein Nachbar. Seit einigen
Tagen, erzählt ein anderer, kann er den Fernseher, den Wallisch
wegen ihrer Schwerhörigkeit immer zu laut aufgedreht hatte,
abends nicht mehr hören. Was er über sie sagen kann? Ein
Glasauge soll sie haben und ein Lungenleiden, weswegen sie
oft an einer Sauerstoffflasche hängt. Viel mehr weiß er nicht
über die Frau, die seit 35 Jahren neben ihm lebt. Nur dass
sie den Kindern im Haus früher Zuckerln schenkte. Bis sie
irgendwann begann, schnell die Türe zu schließen, wenn jemand
vorbeikam.
falter.at
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