In Wien starb die ehemalige KZ-Wärterin Erna Wallisch. Sie
hatte gestanden, in Majdanek Kinder zur Gaskammer geführt
zu haben. Doch verurteilt wurde sie nie. Am Ende hätte
die Vergangenheit sie fast noch eingeholt.
Die Tür, an der „Wallisch Erna“ steht, blieb in den letzten Wochen verschlossen,
die Wohnung dahinter dunkel. Niemand hob in der Schiffmühlenstraße
im Wiener Stadtteil Kaisermühlen das Telefon ab. Nur einmal
öffnete sich diese Tür in den vergangenen Monaten für wenige
Sekunden. Davor stand ein britischer Journalist mit einer
Kamera.
Auf seinem Foto ist eine Frau im Bademantel mit zerzaustem Haar zu sehen. Das
Bild ging um die Welt. Die britische Daily Mail betitelte
es mit „Evil Erna“. Nachbarn schlugen seither verärgert die
Türen zu, wenn Fremde klingelten. Sie wollten, dass es endlich
ein Ende habe und sprachen von Quälerei.
Von Qualen weiß auch Jadwiga L. zu berichten. Die Überlebende
des KZ Majdanek erzählte am 13. April 2007 vor polnischen
Behörden von einer schwangeren Frau, die einen Mann mit
einem Brett zu Tode geprügelt habe. Diese Aussage sollte
der Auslöser für den letzten NS-Prozess in der österreichischen
Geschichte sein, zu dem es nun nicht mehr kommt. Denn Erna
Wallisch war damals schwanger, als sie ihren Dienst in
den Vernichtungsmaschinen des Dritten Reichs versah.
Der Fall Wallisch handelt von der Verstrickung einer einfachen
Putzfrau in die „Endlösung“. Es geht aber auch um das Versagen
der österreichischen Nachkriegsjustiz, die Taten zu ahnden.
Erna Wallisch wurde seit 1945 drei Mal zu ihrer Vergangenheit
einvernommen. Sie verstrickte sich in Widersprüche, wie
die Protokolle zeigen. Einer Mitschuld am Holocaust war
sie sich nie bewusst. „Wir konnten doch gar nichts anderes
machen“, sagte sie 1972, bei ihrer bisher letzten Vernehmung.
Die Justiz ließ sie laufen, weil sie nur eine „untergeordnete
Rolle“ bei der Vergasung von Juden in Majdanek gespielt
habe und ihre Taten somit verjährt gewesen seien. Erst
kurz vor ihrem Tod drohte ihr doch noch ein Strafverfahren.
Erna Wallisch wurde 1922 als Erna Pfannstiel in Benshausen,
Thüringen, geboren. Ihr Vater war Postbeamter, ihre Mutter
Hausfrau. Erna ist das fünfte Kind einer Familie, die in
einfachen Verhältnissen lebte. In der Zwischenkriegszeit
herrschte auch in dieser Region Armut. Es war die Zeit
der Weimarer Republik, die Zeit, in der die Demokratie
scheiterte. Nach der Volksschule und dem Pflichtjahr besuchte
Wallisch eine zweijährige Hauswirtschaftsschule, absolvierte
ein freiwilliges Jahr im Reichsarbeitsdienst, arbeitete
als Haushaltshilfe.
1941, mit 19, bewarb sie sich um eine Stelle als Aufseherin
im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Die SS suchte
in jener Zeit Frauen wie Wallisch: ledig, kinderlos und
„ohne spezielle berufliche Kenntnisse“. Wallisch werde
weibliche Gefangene bewachen, die „irgendwelche Verstöße
gegen die Volksgemeinschaft“ begangen hätten, hieß es in
einem Schreiben der SS. Sie unterschrieb eine „Erklärung
über den Umgang mit Häftlingen“, wonach „eigenmächtige
Bestrafungen und tätliche Übergriffe auf Häftlinge“ verboten
seien. Über „Leben und Tod eines Staatsfeindes“, so lernten
die 4000 Aufseherinnen, „entscheidet der Führer“. Vom industriellen
Judenmord war damals noch nicht die Rede, auch wenn er
zu jener Zeit im Geheimen schon vorbereitet wurde.
Erna Wallisch lernte in Ravensbrück erstmals den Alltag im
KZ kennen. Germaine Tillion, die als Gefangene in Ravensbrück
war, schreibt über die ersten Erfahrungen von Wärterinnen
in KZs: „Die Neurekrutinnen wirkten bei ihrem ersten Kontakt
mit dem Lager entsetzt.“ Sie hätten „mit erschreckten Augen
auf vorbeimarschierende Häftlinge geblickt“, erinnert sich
eine andere Insassin. Es brauchte einige Zeit, bis die
jungen Frauen die „zügellose Grausamkeit“ der dienstälteren
Aufseherinnen erreichten – vier, vielleicht fünf Tage.
Simon Wiesenthal erklärte später, dass diese Leute „an der
Wäschekammer auch ihr Gewissen abgegeben haben“. Die jungen
Frauen tauschten ihre Damenschuhe gegen kniehohe Lederstiefel
mit Stahlkappen, die sonst Männern als Symbol ihrer Machtstellung
vorbehalten waren. Für 68 Wochenstunden erhielten sie 105
Reichsmark netto, das entspricht heute etwa tausend Euro.
In wenigen Tagen wurden Befehlsempfängerinnen zu Befehlshaberinnen,
unbedeutende Bedienerinnen zur „Frau Aufseherin“. Aufgrund
ihrer schwarzen Mäntel nannten Gefangene die SS-Frauen
„schwarze Krähen“. Die Wärterinnen prügelten tagsüber auf
gebrechliche Gefangene ein und zogen sich nach Feierabend
in Räume zurück, die im „Landhausstil“ eingerichtet und
mit Kochnischen und Waschbecken ausgestattet waren. Vor
Erna Wallischs Loggia erstreckte sich der Schwedtsee.
Im Oktober 1942, nach mehr als einem Jahr Dienst in Ravensbrück,
änderte sich ihr Leben radikal. Gemeinsam mit neun anderen
Wärterinnen wird sie nach Polen ins Lubliner Lager Majdanek
versetzt, es ist kein Arbeits-, sondern ein Vernichtungslager.
Ursprünglich sollten dort vor allem sowjetische Kriegsgefangene
interniert werden. Doch schon bald wurde vor allem die
jüdische Zivilbevölkerung Europas hierhergebracht. Zehntausende
starben im ersten Winter, sie erfroren, verhungerten oder
erlagen Seuchen. Die SS erschoss die Juden massenhaft in
Wäldern, erhängte sie oder prügelte sie an Ort und Stelle
tot.
Wallisch wohnt zunächst in einer Dienstvilla, wie sie später
selbst erzählte. Zum ersten Mal sehen Wärterinnen wie sie
die Krematorien, die Haufen nackter Leichen und SS-Wärter,
die sich daneben betrinken.
Die von der Historikerin Mailänder-Koslov gesammelten Berichte
jener, die das Lager überlebten, legen Zeugnis ab über
den alltäglichen Horror und jene Männer und Frauen, die
ihn nach Majdanek gebracht haben: Aufseherinnen schlugen
und traten so lange mit Peitschen und Stiefeln auf Gefangene
ein, bis sie „nur noch in Fetzen“ am Boden lagen. Sie hetzten
Hunde auf schwangere Frauen und sahen zu, wie sie ihnen
die Babys aus den Bäuchen rissen. SS-Leute trugen Neugeborene
eigenhändig zu den Verbrennungsöfen. Insassen wurden in
Jauche ertränkt, in den Stromzaun gejagt, mit Eisenstangen
erschlagen oder vor den Augen ihrer Familien erhängt. Die
SS verbrannte Frauen bei lebendigem Leib. Wer nicht durch
Prügel umkam, wurde vergast. Durch ein Fenster schauten
SS-Leute ihren Opfern beim qualvollen Sterben zu. Ein Wärter
wird später berichten, dass er bei einer der zwei „Kindervergasungen“
die Kleinen in der Gaskammer beobachtete. Sie beteten auf
Knien.
Erna Wallisch sprach erst zwanzig Jahre später über diese
Zeit. Das erste Mal im Jahr 1965, als die Grazer Justiz
gegen sie, ihren Mann und weitere Wärter von Majdanek ermittelte.
Den österreichischen Behörden erzählte sie, dass sie von
Prügeleien und Gaskammern nichts mitbekommen hätte. Das
Verfahren gegen die Wallischs wird eingestellt. 1972 wird
sie in Wien erneut vernommen, diesmal als Zeugin für einen
Prozess in Deutschland. Ein deutscher Staatsanwalt reist
nach Österreich und befragt sie gemeinsam mit einem Wiener
Strafrichter. Jetzt erzählt sie auch von „Selektionen“
und von Aufseherinnen, die „mit der Hand oder mit einem
Stock in der Hand“ über Leben und Tod entschieden. „Es
hat geheißen, sie würden zum Bad gebracht. Für mich war
klar, dass diese Frauen vom Bad nicht mehr zurückkommen
würden, weil sie in die Gaskammer geführt werden.“
Wallisch beschrieb geschlossene Räume ohne Fenster und Türen
aus Eisen. „Ich musste vor der Gaskammer Häftlingsfrauen
bewachen, die sich auszogen und duschten. Am Ende des Duschraums
war eine solche Stahltür und dahinter lag meines Wissens
die Gaskammer. Dort wurden die Frauen nach dem Duschen
hineingeführt. Das habe ich selbst gesehen.“ Wallisch musste
„für Ordnung sorgen“, als sich die Frauen und Kinder auszogen.
Aufseher zwangen Gefangene anschließend, die Leichen zu
verbrennen. Die Asche wurde zu Mehl verarbeitet, und als
Dünger auf den Lageräckern verstreut. Die Kohlköpfe, die
auf diesen Feldern wuchsen, bekamen die Insassen zu essen.
Es habe durch die Verbrennungen so gestunken, wird später
ein Zeuge zu Protokoll geben, dass die Aufseherinnen mit
einem Taschentuch vor der Nase durchs Lager gingen. „Die
Vernichtung“, so die Historikerin Mailänder-Koslov, „war
allgegenwärtig: sie war sichtbar, hörbar, riechbar“. Unter
den Aufseherinnen, die in den Tötungsprozess „involviert“
gewesen seien, habe „stillschweigendes
Tolerieren“ geherrscht.
Erna Wallisch trug unter Gefangenen den Spitznamen „Halte
Klappe, Mensch“, weil sie so lautstark auftrat. Unter der
Wachmannschaft galt sie laut Mailänder-Koslov als „Aufsässige“.
In Meldungen wird ihr „äußerst frecher Ton“ gegenüber Oberen
gerügt. Einmal sagte sie einem Vorgesetzten, er möge sie
„am Arsch lecken“. Sogar eine Verwarnung wegen Befehlsverweigerung
handelte sie sich ein. Gegen die Gaskammern hat sie jedoch
nie protestiert. Zumindest findet sich davon nichts in
den Verhörprotokollen.
Vom Leben nach Dienstschluss ist wenig bekannt. Die Aufseherinnen
kochten und aßen gemeinsam, sie flickten ihre Kleidung
und lasen Liebesromane aus der Lagerbibliothek, ritten
mit Vollblütern aus und tranken Kaffee im „Deutschen Haus“,
einem Treffpunkt des Lagerpersonals in Lublin. „Ja meine
Güte“, wird eine der brutalsten Aufseherinnen später erzählen,
„dann war man müde, man war zerschlagen, man musste mal
schreiben, man musste seine Wäsche in Ordnung bringen“.
Im Lager schob zu jener Zeit auch der Sohn eines Feuerwehrmannes
und einer Hausfrau aus Wien Wache: Georg Wallisch. Er war
damals 21 Jahre alt. Im Mai 1938, als 17-Jähriger, meldete
er sich freiwillig zur SS. Er kämpfte zunächst an der Front
im Sudetenland, von wo er über Oranienburg im Jahr 1941
als Wache ins KZ Majdanek kam. Erna und Georg fanden einander.
Erna Wallisch wurde im Mai 1943 schwanger. Im Dezember heirateten
sie und Georg Wallisch. Da stand der Kindsvater schon unter
Arrest. Er hatte goldene Uhren gestohlen, die Juden bei der
Selektion auf den Boden werfen mussten. SS-Leiter Heinrich
Himmler sprach zu jener Zeit in seiner Posener Rede davon,
dass SS-Leute zwar die Juden völlig ausrotten sollten, doch
niemals dürften sie sich an ihrem Vermögen vergreifen. Darauf
stünde der Tod. Georg Wallisch wurde nur zu drei Jahren Kerker
verurteilt.
Der dritte November 1943 begann für Erna Wallisch mit einem
Wiener Walzer. Die Musik sollte die Schüsse und die Schreie
übertönen. „Wir Aufseherinnen“, gab sie zwanzig Jahre später
zu Protokoll, „hatten am betreffenden Tage Weisung erhalten,
in den Unterkünften zu bleiben. Schon in den frühen Vormittagsstunden
hörten wir plötzlich vom rückwärtigen Teil des Lagers her
fürchterliches Schießen.“ Die Jüdinnen in der Baracke seien
„furchtbar ängstlich“ gewesen. „Da die Schießerei den ganzen
Tag über nicht aufhörte, war ich schon selber der Meinung,
dass alle Lagerinsassen liquidiert würden.“ Wallisch erlitt
einen Nervenzusammenbruch.
Der Tag, an dem die Schwangere im KZ Majdanek zusammengebrochen
war, ging als „Erntefest“ in die Geschichte ein. Nach einer
Lagerrevolte in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor
ermordeten die Nazis innerhalb von 24 Stunden im Distrikt
Lublin 42.000 Juden. Erschossen wurden die Gefangenen der
umliegenden Lager, aber auch Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz,
in ihren Wohnungen oder in Cafés verhaftet worden waren.
Allein im KZ Majdanek kamen 18.000 Menschen um.
Insgesamt starben in Majdanek nach unterschiedlichen Schätzungen
zwischen 78.000 und 250.000 Menschen. Elsa Ehrich, die
Kommandantin des Frauenlagers, wurde 1948 in Polen zum
Tode verurteilt, ebenso wie 108 andere Majdanek-Aufseher.
Einige der Verantwortlichen wurden in Lublin vor den Augen
von 25.000 Bürgern der Stadt gehängt.
Erna Wallisch hatte das Lager bereits verlassen, als die
Russen es 1944 befreiten. Sie zog nach einem kurzen Aufenthalt
in Deutschland nach Wien. In diesem Jahr brachte sie ihre
erste Tochter zur Welt. Georg Wallisch wurde währenddessen
von der SS begnadigt und an die Front geschickt, von wo
er schwerverwundet in ein Lazarett nach Thüringen gelangte.
Die Amerikaner nahmen ihn fest und hielten ihn bis Oktober
1946 in einem Internierungslager in Darmstadt fest. Dann
kehrte er nach Wien zu seiner Frau zurück.
Während sich die Wallischs ein kleinbürgerliches Leben aufbauten,
begannen die Volksgerichte der Alliierten in Wien die NS-Verbrechen
aufzuarbeiten. Es setzte harte Urteile, sogar für Mitläufer,
die jedoch sehr bald schon wieder abgemildert wurden. Eine
der brutalsten Aufseherinnen in Majdanek, die Hilfsarbeiterin
Hermine Braunsteiner, wurde 1949 zu drei Jahren schweren
Kerkers verurteilt, weil sie in Ravensbrück Gefangene misshandelt
hatte. Bereits 1950 wurde sie begnadigt. Ihre Morde in
Majdanek kamen vor Gericht nicht zur Sprache. So blieben
auch Erna und Georg Wallisch unbehelligt.
Es sollte zwanzig Jahre dauern, bis sich die österreichische
Justiz mit Majdanek zu befassen begann. Mitte der Sechzigerjahre
wurden mehrere ehemalige SS-Angehörige vernommen. 1965
verhörte die Staatspolizei Georg und Erna Wallisch. Ein
Staatsanwalt schrieb in die Akte: „Wegen Verjährung dringend!“
Die Wallischs wohnten nach wie vor in Kaisermühlen. Erna
Wallisch arbeitete als Bedienerin, ihr Mann als Fliesenleger.
Mittlerweile hatte sie eine zweite Tochter bekommen. „Ich
bin nicht in der Lage, über die Tötung von Häftlingen im
KZ-Lager Lublin Angaben zu machen“, sagte Georg Wallisch
vor den Behörden, „es war aber ein offenes Geheimnis im
ganzen Lager, dass häufig Tötungen von Häftlingen vorkamen.“
Er habe von der „Verwendung der Gaskammern zum Zweck der
Vergasung von Juden“ gewusst: „Das wusste aber damals die
ganze Stadt Lublin.“ Er widersprach damit seiner Frau.
Erna Wallisch bestritt bei ihrer ersten Vernehmung, von
den Gaskammern gewusst zu haben. Ein fensterloser Raum,
der ans Bad angeschlossen war, sei ihr zwar aufgefallen,
dessen Zweck aber vor ihr verheimlicht worden, beteuerte
sie. Von den Massenerschießungen und von einem Krematorium
habe sie gewusst. Misshandlungen von Insassen habe sie
aber nie beobachtet.
Trotz solcher Widersprüche konnte
das Ehepaar nach wenigen Stunden wieder nach Hause gehen.
Das Verfahren gegen die beiden wurde eingestellt. Am 1. August
1972 geriet Georg Wallisch erneut ins Visier der Justiz.
Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Portier. Von seiner
Frau war er mittlerweile geschieden. Ein Zeuge gab damals
an, Wallisch habe im Winter 1942 mehrere Gefangene erschossen.
Georg Wallisch bestritt das jedoch und sprach von einer Verwechslung.
Abermals reichte das der Staatsanwaltschaft, um den Beschuldigungen
nicht weiter nachzugehen.
Auch politische Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen
sein. Denn anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit,
waren bereits ab Mitte der Fünfzigerjahre NS-Täter in Österreich
kaum noch verurteilt worden. Die Geschworenensenate sprachen
selbst schlimmste NS-Verbrecher frei, weil sie den Opfern
nicht glaubten. In einem Auschwitzprozess in Wien wurden
1972 sogar zwei Konstrukteure der Gaskammern freigesprochen.
Die Politik kam deshalb zum Befund, es habe keinen Sinn
mehr, und zog einen Schlussstrich. 1975 endete der letzte
Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Verbrecher. Mit Freispruch.
In Deutschland hingegen versuchte zu dieser Zeit der junge
Staatsanwalt Dieter Ambach die Verantwortlichen von Majdanek
doch noch vor Gericht zu stellen. Seine Ermittlungen führten
ihn auch nach Wien. Am 30. November 1972 vernahm er Erna
Wallisch. Anders als 1965 sprach Wallisch über die Gaskammern
und die „ängstlichen Frauen“, die sie dort zu „beruhigen“
hatte. Am Ende des Verhörs sagte Wallisch: „Wenn mir gesagt
wird, dass ich mich nach meinen Angaben der Beteiligung
am Mord schuldig gemacht haben kann, so sage ich: Wieso?
Den Befehlen mussten wir folgen. Wenn ich mich geweigert
hätte, so wäre ich vielleicht eingesperrt worden.“ Ambach,
der heute als pensionierter Staatsanwalt in Düsseldorf
lebt, kann sich noch an das Verhör erinnern. „Frau Wallisch
wirkte emotionslos.“
Für die Staatspolizei waren Wallischs Bekenntnisse neu. Sie
drängte die Staatsanwaltschaft Wien, ihr doch noch einmal
den Prozess zu machen. Die stellte das Verfahren jedoch
wegen Verjährung ein.
Am 25. November 1975 begann in Düsseldorf der Majdanek-Prozess,
für den Wallisch als Zeugin in Wien befragt worden war.
Es war der weltweit letzte große Prozess gegen NS-Verbrecher.
Auf der Anklagebank saßen neben neun Männern sechs ehemalige
Aufseherinnen. Darunter auch Hermine Braunsteiner. Es ist
jene Wienerin, die in Wien vom Volksgericht wegen ihrer
Taten in Ravensbrück verurteilt und bereits kurz darauf
begnadigt worden war. Nach ihrer Entlassung war sie in
die USA emigriert, wo sie einen Amerikaner geheiratet hatte.
Simon Wiesenthal spürte sie auf. Ebenfalls angeklagt war
Hildegard Lächert, im Lager als „Blutige Brigitte“ gefürchtet,
weil sie so viele Häftlinge mit eigenen Händen totgeschlagen
hatte.
Der Prozess in Düsseldorf endet am 30. Juni 1981, nach fünf
Jahren und 474 Verhandlungstagen. Nur sieben Personen werden
zu Freiheitsstrafen verurteilt. Einzig Hermine Braunsteiner
erhält lebenslänglich, sie starb 1999, drei Jahre nach
ihrer Begnadigung.
Die Ernüchterung war groß. Die Bevölkerung wurde der Verfolgung
von NS-Verbrechen überdrüssig. In Umfragen sprach sich
in Deutschland nach dem Majdanek-Prozess eine Mehrheit
gegen weitere NS-Verfahren aus. Doch immerhin: In Düsseldorf
gab es den Prozess und eine historische Aufarbeitung durch
die Justiz. Vor allem auch für die Opfer war das wichtig.
Anders in Österreich, das sich damals noch als Opfer Hitlerdeutschlands
inszenierte. Nur mehr Einzelne wurden durch den unermüdlichen
Simon Wiesenthal öffentlich mit ihrer NS-Vergangenheit konfrontiert.
Sie starben aber entweder vor dem Prozess, wie etwa der Grazer
Zahnarzt Egon Sabukoschek, der Geiselerschießungen im ehemaligen
Jugoslawien vorbereitet haben soll. Oder sie wurden – wie
der NS-Arzt Heinrich Gross – wegen Demenz für verhandlungsunfähig
erklärt.
Den undankbaren Job des Nazijägers hat nun Efraim Zuroff
übernommen. Im Jahr 2002 rief der gebürtige New Yorker
die Operation „Last Chance“ aus. Er fahndet etwa nach dem
Mauthausener Lagerarzt Aribert Heim. Der ließ die Schädel
von KZ-Gefangenen auskochen, nachdem er sie bei lebendigem
Leibe aufgeschlitzt hatte. Zuroff schaltete auch eine Anzeige
in der Wiener Kronen-Zeitung. Diese veranlasste jemanden
2004, einen anonymen Brief zu verfassen. Zuroff schreckte
auf, als er das Schreiben las. In der Schiffmühlenstraße
100, stand darin, lebe der „Weibsteufel vom KZ“. Es war
die Adresse von Erna Wallisch, ihre Nummer stand sogar
im Telefonbuch. Sie lebte seit sechzig Jahren in dieser
Straße, war nur einmal einen Block weit umgezogen.
Im Januar 2006 forderte Zuroff die damalige Justizministerin
Karin Gastinger auf, gegen die ehemalige Majdanek-Aufseherin
aktiv zu werden. Alles verjährt, bedauerte diese. Zuroff
reiste weiter nach Polen. Die dortigen Behörden übersandten
schließlich fünf neue Aussagen. Erna Wallisch, geborene
Pfannstiel, soll demnach einen Säugling aus einem Versteck
gezogen und „wie ein Holzstück auf den Boden geworfen“
haben. Sie soll selbst Selektionen von Frauen und Kindern
zur Vergasung vorgenommen und Gefangene ausgepeitscht haben,
und nicht nur – wie sie selbst stets beteuert hatte – dabei
zugesehen haben. Die wohl wichtigste Aussage stammt von
Jadwiga L. Sie erzählt von einer schwangeren Frau, die
einen Mann mit einem Brett so lange geschlagen haben soll,
bis er sich nicht mehr rührte und sein Kopf in einer Blutlache
lag.
Die Aussagen seien mit Vorsicht zu bewerten, hieß es aus
Justizkreisen. Sie wurden mehr als sechzig Jahre nach dem
Delikt getätigt. Und die meisten der Anschuldigungen sind
einer schwangeren Frau zugeordnet. Wallisch war damals
zwar schwanger, andere Wärterinnen aber auch. Die Staatsanwaltschaft
Wien eröffnete zwar das Verfahren. Aber bevor entschieden
werden konnte, ob es zu einer Anklage kommt, entzog sich
Erna Wallisch endgültig der Justiz. Durch ihren Tod.
images.zeit.de
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