14. Feb 2015 infosperber.ch
Fröhliche KZ-Häftlinge
Jürg Müller-Muralt

Ein Museum in Estland zeigt Werke, die sich auf künstlerische Weise mit dem Holocaust beschäftigen. Mit schockierendem Resultat.

Estland, Lettland und Litauen sind von der Geschichte stark gebeutelte Staaten. Das Baltikum war lange Zeit Spielball der Grossmächte, die junge Unabhängigkeit dieser drei Staaten ist ihnen ein hohes Gut. Es ist deshalb verständlich, wenn sie sich derzeit von Russland bedroht fühlen und seit langem nach verstärkter Präsenz der Nato als Garantin ihrer territorialen Integrität rufen. Die Angst vor dem mächtigen Nachbarn und die leidvolle Geschichte von Besetzung und Unterdrückung mögen auch Gründe dafür sein, dass im Baltikum manchmal ein etwas irritierender Umgang mit der Vergangenheit gepflegt wird.

Möglicherweise gehört auch eine Ausstellung in Tartu im weitesten Sinn in dieses Kapitel. Im Kunstmuseum der zweitgrössten Stadt Estlands wird derzeit unter dem Titel «Polen – Erinnerung und Vergessen» eine Ausstellung zum Thema Holocaust gezeigt. Gemäss Homepage des Museums geht es um eine Auswahl von Werken zeitgenössischer Kunst, die sich in der einen oder anderen Weise mit dem Albtraum des Zweiten Weltkriegs beschäftigen. Es gehe darum, die eigene Geschichte besser zu verstehen, Minderheiten in der Gesellschaft zu respektieren und wachsendem Extremismus und zunehmender Fremdenfeindlichkeit entgegenzutreten.

Von «Hollywood» zu «Holocaust»

Was dann allerdings gezeigt wird, ist schockierend. So etwa ist ein Bild mit den bekannten Riesenbuchstaben «Hollywood» bei Los Angeles zu sehen, wobei der Hollywood-Schriftzug durch «Holocaust» ersetzt wurde. Was soll das? Uns weismachen, dass die Judenvernichtung durch die Nazis bloss ein Filmereignis ist? Oder: Auf dem Werbeplakat der Ausstellung ist eine durch Schauspieler dargestellte fröhliche Menschengruppe in KZ-Häftlingskleidung zu sehen, die hinter Stacheldraht heiter in die Kamera lächeln. Zwei Videoinstallationen sind besonders abstossend. Die eine zeigt eine Gruppe spielender nackter Menschen in einer Gaskammer von Auschwitz, die andere einen 92-jährigen Überleben des Konzentrationslagers, der offensichtlich unter Druck des «Künstlers» seine auf den Arm tätowierte Häftlingsnummer «auffrischt».

Die Jüdische Gemeinde Estlands und das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem protestierten scharf: Einige der gezeigten Werke «verhöhnen die Erinnerung an den Holocaust», schreibt die Jüdische Gemeinde. Ephraim Zuroff, der Chef des Wiesenthal-Zentrums, verlangte laut Estnischem Rundfunk (ERR) die Schliessung der Ausstellung. Die Ausstellungsmacher rechtfertigten sich damit, dem Trauma des Holocaust bewusst mit Humor entgegentreten zu wollen. Zuroff dagegen findet, ein derart «perverser Humor» habe in keinem Land der Welt Platz, und schon gar nicht in einem Land, in dem Verbrechen nicht nur von Deutschen und Österreichern begangen worden seien.

Museum entschuldigt sich

Der Kurator der Ausstellung, Rael Artel, beruft sich dagegen auf die Freiheit der Kunst, wie der österreichische «Standard» schreibt. In einem Kunstmuseum gebe es keine Zensur. Im Zusammenhang mit der Debatte um «Charlie Hebdo» war auf Infosperber kürzlich zu lesen: «Tatsächlich gibt es Tabus, an die sich auch die schärfsten Satiriker halten. Wer etwa würde es wagen, die Ermordung von Millionen von Juden im Dritten Reich in einer Karikatur als Lachnummer zu zeigen?» Der Autor hat sich ganz offensichtlich in Sachen Schamgrenzen, Tabus und Grenzen der Perversität in unserer Gesellschaft getäuscht.

Immerhin: Das Museum entschuldigte sich wortreich und wich etappenweise vor dem Protest zurück: Am 10. Februar 2015 kündigten die Ausstellungsmacher an, die Videoinstallationen nur noch auf Wunsch und mit einem Kommentar des Kurators zu zeigen; zwei Tage später wurden die Videos vollständig aus der Ausstellung entfernt.

Irritierende Perversitäten

In der estnischen Gesellschaft kommt es in regelmässigen Abständen zu irritierenden und schockierenden Perversitäten im Zusammenhang mit dem Dritten Reich. Zwei Beispiele unter mehreren: Eine estnische Zeitung veröffentlichte vor einigen Jahren eine Anzeige, in der mit einem Bild des Konzentrationslagers Buchenwald für Schlankheitspillen geworben wurde. Und ein estnisches Gasunternehmen wiederum pries seine Dienstleistungen (man wagt es fast nicht zu schreiben) mit einem Bild des Vernichtungslagers Auschwitz an.

Eigenartiges Verhältnis zur Waffen-SS

Auch zur Waffen-SS haben Teile der estnischen Politik ein unverkrampftes Verhältnis. Angehörige dieser besonders brutalen Einheiten werden immer wieder als Freiheitskämpfer gegen die Rote Armee gefeiert. Und immer wieder gibt es Versuche, sie auch offiziell und per Gesetz zu rehabilitieren. Dies ist, wie bereits eingangs erwähnt, vor dem Hintergrund der Geschichte zu sehen: Estland wurde nach zwei Jahrhunderten als zaristische Kolonie erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs unabhängig, geriet aber bereits 1939 erneut unter sowjetischen Einfluss. Zwischen 1941 und 1944 war Estland von der deutschen Wehrmacht besetzt und im Anschluss von 1944 bis 1991 wiederum von der Sowjetunion okkupiert.

Trotzdem, so schrieb die «Welt» schon 2012, seien die Rehabilitationsbemühungen der SS «aus deutscher Sicht zumindest irritierend». Die baltischen Staaten erhielten unter den Nazis das Recht auf beschränkte Selbstverwaltung. Allerdings waren die estnischen Selbstverwaltungsorgane und ihre Militär- und Polizeieinheiten tief in die nationalsozialistischen Verbrechen verstrickt. So ist zum Beispiel dokumentiert, dass reguläre Polizeieinheiten im besetzten Polen an brutalen Ghettoräumungen beteiligt waren, mit dem Ziel, Juden in deutschen Vernichtungslagern umzubringen. 1944 wurden estnische Freiwillige in der «20. Waffen-Grenadier-Division der SS» zusammengezogen. Sie wurde an der Ostfront gegen die Rote Armee eingesetzt.

Der tragischen Geschichte Estlands zum Trotz: Eine solche Einheit verdient keine nachträgliche Ehrung. Und etwas mehr Sensibilität im Umgang mit den Opfern nationalsozialistischer Verbrechen könnte in der Gesellschaft des EU- und Nato-Mitgliedes Estland nicht schaden.

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