Von Jakob Lemke
Tallinn (dpa) - In Estland macht das unschöne Wort "Zensur"derzeit
die Runde unter westlichen Diplomaten, nachdem die führenden Zeitungen des Landes den Abdruck einer Anzeige des renommierten
Simon-Wiesenthal-Zentrums abgelehnt haben. Es geht um Geschichte, um
Zusammenarbeit estnischer Soldaten mit der Waffen-SS, um die
systematische Ermordung baltischer Juden. Die Aufarbeitung des
Holocausts ist sensibel und schmerzhaft für den EU-Anwärter Estland.
Im Sommer
2002 begann das nach dem Nazi-Jäger Simon Wiesenthal
benannte Zentrum die Aktion "Last
Chance". Unter Federführung der
Jerusalemer Filiale setzte die Organisation 10 000 Dollar B Belohnung
für Personen aus, die "entscheidende Hinweise
für die Verfolgung und
Verurteilung von Nazi-Kriegsverbrechern geben".
Die baltischen
Staaten Litauen, Lettland und Estland wurden als Zielregion
ausgesucht. "Dort gab es die höchste Todesrate während
des
Holocausts. Eine extrem hohe Zahl von einheimischen Kollaborateuren
hat aktiv am Massenmord an einheimischen und deportierten Juden
mitgewirkt", hieß es zur Begründung.
Litauische und lettische Medien druckten
- gegen Bezahlung -
entsprechende Anzeigen. Das Wiesenthal-Zentrum berichtete von
Dutzenden von Antworten. Die Sonder-Staatsanwaltschaft von Vilnius
für Kriegsverbrechen prüft derzeit sogar die weitergeleiteten
Angaben. Zur Jahreswende sollte dann estnische Öffentlichkeit
mobilisiert werden. "Der
Beitritt zur NATO ist gut, aber er wird die
Geschichte nicht wegwischen", hieß
es im Textentwurf, ähnlich den
Anzeigen in den baltischen Nachbarländern: "Während
des Holocausts
haben Nazis und ihre estnischen Helfer tausende von Juden in Estland
und anderen Ländern ermordet".
Zuerst lehnte die Talliner Werbeagentur "Media
House" ab, die
Anzeigen zu platzieren. "Es ging nicht
wegen einiger Ungereimtheiten
in der Vorlage", sagte Hanno Kindel von "Media
House" der dpa. Es
seien ohne Absprache Telefonnummern der estnischen Sicherheitspolizei
enthalten gewesen, die gesamte estnische Bevölkerung der
Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland bezichtigt gewesen. "Sogar
die
jüdische Gemeinde Estlands hat uns von der Veröffentlichung
abgeraten", sagte Kindel. Das Wiesenthal-Zentrum sprach
unterdessen
in einer Stellungnahme von einem "Schock",
die Zurückweisung sei"völlig unverständlich" und verstoße
unter Umständen gegen die
estnische Verfassung.
In dieser Woche nun legte das Zentrum
überarbeite Anzeigentexte
den estnischen Zeitungen vor, diesmal direkt und ohne Mittler. Und
wieder kamen Absagen. "Die Anzeige verstößt
gegen estnische Gesetze",
begründete Väino Koorberg, Chefredakteur der auflagenstärksten
einheimischen Tageszeitung "Slöhtuleht".
Details aber nannte er
nicht. Ebenso allgemein argumentierten Priit Höbemägi, Chefredakteur
von "Eesti Pävaleht", und Urmas
Klaas, Chefredakteur von "Postimees",
auf dpa-Anfrage.
Estland war im 20. Jahrhundert Opfer
der Geschichte, unter
russisch-sowjetischer Okkupation ließ Stalin mehrere zehntausend
Esten nach Sibirien deportieren. Auf der anderen Seite aber gehen
Historiker nach aktuellen Erkenntnissen davon aus, dass zwischen 1941
und 1944 unter deutscher Besatzung die etwa 1000 im Lande
verbliebenen einheimischen und mehrere tausend ausländische Juden
ermordet wurden. Über die mögliche Beteiligung der rund 100 000
estnischen Mitglieder der Waffen-SS, die gegen die verhasste Rote
Armee zogen, besteht Uneinigkeit zwischen Experten.
Seitdem der kleine Ostseestaat 1991
seine Unabhängigkeit
wiederlangte, wurden einige Urteile wegen sowjetischer
Kriegsverbrechen gesprochen. Nazi-Kollaborateure standen bisher nicht
vor Gericht. Im Januar beging Estland erstmals einen offiziellen
Holocaust-Gedenktag. Ob die umstrittenen Anzeigen, vielleicht
abermals geändert, doch noch erscheinen? Man weiß es nicht, weder im
Simon-Wiesenthal-Zentrum noch bei den estnischen Zeitungen. Politiker
haben sich bislang nicht in die Angelegenheit eingemischt.
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