Wed, 19 Feb 2003 19:36:14 EST dpa
 
 

Zensur? - Nazi-Jäger-Anzeigen bleiben in Estland ungedruckt

 
 


Von Jakob Lemke

Tallinn (dpa) - In Estland macht das unschöne Wort "Zensur"derzeit die Runde unter westlichen Diplomaten, nachdem die führenden Zeitungen des Landes den Abdruck einer Anzeige des renommierten Simon-Wiesenthal-Zentrums abgelehnt haben. Es geht um Geschichte, um Zusammenarbeit estnischer Soldaten mit der Waffen-SS, um die
systematische Ermordung baltischer Juden. Die Aufarbeitung des Holocausts ist sensibel und schmerzhaft für den EU-Anwärter Estland.

Im Sommer 2002 begann das nach dem Nazi-Jäger Simon Wiesenthal benannte Zentrum die Aktion "Last Chance". Unter Federführung der Jerusalemer Filiale setzte die Organisation 10 000 Dollar B Belohnung für Personen aus, die "entscheidende Hinweise für die Verfolgung und Verurteilung von Nazi-Kriegsverbrechern geben". Die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland wurden als Zielregion ausgesucht. "Dort gab es die höchste Todesrate während des Holocausts. Eine extrem hohe Zahl von einheimischen Kollaborateuren hat aktiv am Massenmord an einheimischen und deportierten Juden mitgewirkt", hieß es zur Begründung.

Litauische und lettische Medien druckten - gegen Bezahlung - entsprechende Anzeigen. Das Wiesenthal-Zentrum berichtete von Dutzenden von Antworten. Die Sonder-Staatsanwaltschaft von Vilnius für Kriegsverbrechen prüft derzeit sogar die weitergeleiteten
Angaben. Zur Jahreswende sollte dann estnische Öffentlichkeit mobilisiert werden. "Der Beitritt zur NATO ist gut, aber er wird die Geschichte nicht wegwischen", hieß es im Textentwurf, ähnlich den Anzeigen in den baltischen Nachbarländern: "Während des Holocausts haben Nazis und ihre estnischen Helfer tausende von Juden in Estland
und anderen Ländern ermordet".

Zuerst lehnte die Talliner Werbeagentur "Media House" ab, die Anzeigen zu platzieren. "Es ging nicht wegen einiger Ungereimtheiten in der Vorlage", sagte Hanno Kindel von "Media House" der dpa. Es seien ohne Absprache Telefonnummern der estnischen Sicherheitspolizei
enthalten gewesen, die gesamte estnische Bevölkerung der Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland bezichtigt gewesen. "Sogar die jüdische Gemeinde Estlands hat uns von der Veröffentlichung abgeraten", sagte Kindel. Das Wiesenthal-Zentrum sprach unterdessen
in einer Stellungnahme von einem "Schock", die Zurückweisung sei"völlig unverständlich" und verstoße unter Umständen gegen die estnische Verfassung.

In dieser Woche nun legte das Zentrum überarbeite Anzeigentexte den estnischen Zeitungen vor, diesmal direkt und ohne Mittler. Und wieder kamen Absagen. "Die Anzeige verstößt gegen estnische Gesetze", begründete Väino Koorberg, Chefredakteur der auflagenstärksten einheimischen Tageszeitung "Slöhtuleht". Details aber nannte er
nicht. Ebenso allgemein argumentierten Priit Höbemägi, Chefredakteur von "Eesti Pävaleht", und Urmas Klaas, Chefredakteur von "Postimees", auf dpa-Anfrage.

Estland war im 20. Jahrhundert Opfer der Geschichte, unter russisch-sowjetischer Okkupation ließ Stalin mehrere zehntausend Esten nach Sibirien deportieren. Auf der anderen Seite aber gehen Historiker nach aktuellen Erkenntnissen davon aus, dass zwischen 1941 und 1944 unter deutscher Besatzung die etwa 1000 im Lande
verbliebenen einheimischen und mehrere tausend ausländische Juden ermordet wurden. Über die mögliche Beteiligung der rund 100 000 estnischen Mitglieder der Waffen-SS, die gegen die verhasste Rote Armee zogen, besteht Uneinigkeit zwischen Experten.

Seitdem der kleine Ostseestaat 1991 seine Unabhängigkeit wiederlangte, wurden einige Urteile wegen sowjetischer Kriegsverbrechen gesprochen. Nazi-Kollaborateure standen bisher nicht vor Gericht. Im Januar beging Estland erstmals einen offiziellen
Holocaust-Gedenktag. Ob die umstrittenen Anzeigen, vielleicht abermals geändert, doch noch erscheinen? Man weiß es nicht, weder im Simon-Wiesenthal-Zentrum noch bei den estnischen Zeitungen. Politiker haben sich bislang nicht in die Angelegenheit eingemischt.