03.11.2011
baltische-rundschau.eu
Der Fall Michail Gorschkow

Tallinn/BR. Am 8. und 9. Februar 1943 wurde in der weißrussischen Stadt Sluzk (polnisch Słuck) in der Nähe von Hauptstadt Minsk von einem aus Einheimischen zusammengestellten Kommando die Umsiedlung der dortigen Juden vorgenommen. Der Name Michail Gorschkow steht auf der Liste der Anführer dieses Massenmords, bei dem 3000 Männer, Frauen und Kinder starben, sie wurden erschossen oder bei lebendigem Leibe verbrannt. Gorschkow diente nach eigenen Angaben als Dolmetscher für die Gestapo. Der Este bestritt nicht, dass gerade er der von Simon-Wiesenthal-Zentrum genannte Holocaust-Verbrecher „Gorschkow“ sei und gehörte so zu der „top ten Liste“ der meistgesuchten Kriegsverbrecher.

Sluzk ist eine der ältesten Städte Russlands und wurde bereits im Jahre 1116 erstmals erwähnt. 1160 wurde sie Hauptstadt eines selbständigen Herzogtums. Vom 14. Jahrhundert bis 1793 gehörte sie als Teil der Woiwodschaft Nowogródek zum Großfürstentum Litauens.Von 1793 bis 1915 war Sluzk als Kreisstadt Teil des Gouvernements Minsk innerhalb des Russischen Reiches, zwischen 1919 und 1991 gehörte sie dann zur Weißrussischen SSR innerhalb der Sowjetunion, unterbrochen von den drei Jahren deutscher Besatzung (1941–1944). Seit 1991 ist sie ein Teil des unabhängigen Staates Weißrussland.

Im Jahre 1943 wurde in Sluzk für Juden aus der Umgebung ein Ghetto errichtet, dessen Insassen unter der Leitung von SS-Hauptscharführer Adolf Rübe umgebracht wurden, welcher ebenfalls für die Ermordung der Insassen des Ghetto Minsk zuständig war.

Die estnische Staatsanwaltschaft gab jetzt bekannt, dass gegen den mutmaßlichen Anführer des Massakers kein Strafverfahren durchgeführt wird. Es gebe kein hinreichendes Beweismaterial dafür, dass der 1923 in Estland geborene Michail Gorschkow und am Verbrechen in Sluzk beteiligte “Gorschkow” ein und dieselbe Person sind.

Michail Gorschkow war nach dem Krieg in einem Gefangenenlager der Alliierten in Süddeutschland gelandet und nach dem Entnazifizierungsverfahren in die USA ausgewandert. Er bekam die amerikanische Staatsbürgerschaft und lebte bis 2002 in Florida. Als Informationen über seine Beteiligung am Massenmord in Sluzk aufkamen, erkannte das US-Justizministerium ihm die Staatsbürgerschaft ab und kündigte seine Ausweisung nach Estland an. Es gehöre in die Zuständigkeit der estnischen Justizbehörden, die Anschuldigungen gegen Gorschkow zu klären. Bevor ein formaler Beschluss geschrieben war, reiste der Beschuldigter jedoch freiwillig in seine alte Heimat aus.

Die aktuelle Entscheidung der estnischen Staatsanwaltschaft kritisiert Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Zentrum als “typisch für das völlige Versagen der estnischen Behörden seit 1991″. Auch der Vorsitzende des Außenkomitees in der russischen Duma, Michail Margelow brachte seinen Unmut wegen Freisprechung des Esten zum Ausdruck. Angeblich lebt Michail Gorschkow bis heute in seinem Geburtsland.

Nicht aufgeklärte Fälle
In Estland ist bis jetzt noch nie ein Nazi-Verbrechen aufgeklärt oder einem mutmaßlichen Schuldigen der Prozess gemacht worden. Ein Auslieferungsbegehren gegen den auf Island lebenden Vizechef der Sicherheitspolizei von Tartu, Evald Mikson, war so lange verzögert worden, bis dieser 1993 starb. Nach seinem Tod konstatierte eine estnische Historikerkommission, dass er an Kriegsverbrechen schuldig war. Evald Mikson, später Eðvald Hinriksson, wurde 1911 in Tartu geboren, er starb 1993 in Reykjavik. Er war Torhüter der estnischen Fußballnationalmannschaft und stellvertretender Polizeichef in Tallinn während der deutschen Okkupation.

Am Ende des Krieges floh Evald Mikson vor der heranrückenden roten Armee nach Schweden, wo er jedoch nach einer Anhörung von einem schwedischen Gericht als unerwünschte Person und Kriegsverbrecher betrachtet und ausgewiesen wurde. 1946 wurde er in Halden in Norwegen auf ein Schiff nach Venezuela gebracht. Das Schiff lief jedoch vor der isländischen Küste auf Grund, die Überlebenden wurden von Island aufgenommen. Die USA verweigerten dem Esten das beantragte Visum.

Mikson wurde vom Simon Wiesenthal Center von an Juden begangener Kriegsverbrechen bezichtigt. Nach ausländischem Druck und scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen leitete die isländische Regierung 1993 eine Untersuchung der Vorwürfe in die Wege. Mikson starb, bevor es zu einer Anklage kommen konnte.

Mikson war der Vater von Jóhannes Eðvaldsson (* 1950), der in den 1970er Jahren für Celtic Glasgow spielte und von Atli Eðvaldsson (* 1957), der als Spieler für Borussia Dortmund, Bayer Uerdingen und Fortuna Düsseldorf in der Fußball-Bundesliga aktiv war und später von 2000-2003 Trainer der isländischen Fußballnationalmannschaft war.

Auch ein Verfahren gegen den Polizeioffizier Harry Männil wegen der Deportation von Juden und Kommunisten 1941 und 1942 wurde nach fünfjährigen Ermittlungen 2006 “mangels Beweisen” eingestellt. Er starb 2010 in Costa Rica. Er lebte jedoch von 1946 bis 2010 in Venezuela. In die Costa Rica war er wegen eines Generalstreiks in seiner Wahlheimat gereist.Männil wird als reichste Este angegeben. Er verkehrte mit David Rockefeller, Ariel Sharon und Gerald Ford. Aber er hatte Kontakte auch zu Kommunisten wie Vaino Väljas und Edgar Savisaar. Der Schriftsteller Olavi Remsu hat in diesem Jahr die Biographie „Der elitäre Mann Harry Männil“ (“Elitaarne mees Harry Männil” Verlag Tänapäev, 2011) veröffentlicht. Seit 1955 war der Este mit Mazula D’Empaire verheiratet. Das Paar hat vier Kinder bekommen. Harry Männil war Katholik und Angehörige des Malteser-Ritterordens.

Text Aino Siebert, Deutsche Bearbeitung: Werner Siebert

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