Tallinn/BR.
Am 8. und 9. Februar 1943 wurde in der weißrussischen Stadt
Sluzk (polnisch Słuck) in der Nähe von Hauptstadt Minsk von
einem aus Einheimischen zusammengestellten Kommando die Umsiedlung
der dortigen Juden vorgenommen. Der Name Michail Gorschkow
steht auf der Liste der Anführer dieses Massenmords, bei
dem 3000 Männer, Frauen und Kinder starben, sie wurden erschossen
oder bei lebendigem Leibe verbrannt. Gorschkow diente nach
eigenen Angaben als Dolmetscher für die Gestapo. Der Este
bestritt nicht, dass gerade er der von Simon-Wiesenthal-Zentrum
genannte Holocaust-Verbrecher „Gorschkow“ sei und gehörte
so zu der „top ten Liste“ der meistgesuchten Kriegsverbrecher.
Sluzk ist eine der ältesten Städte Russlands und wurde bereits im Jahre 1116
erstmals erwähnt. 1160 wurde sie Hauptstadt eines selbständigen
Herzogtums. Vom 14. Jahrhundert bis 1793 gehörte sie als
Teil der Woiwodschaft Nowogródek zum Großfürstentum Litauens.Von
1793 bis 1915 war Sluzk als Kreisstadt Teil des Gouvernements
Minsk innerhalb des Russischen Reiches, zwischen 1919 und
1991 gehörte sie dann zur Weißrussischen SSR innerhalb der
Sowjetunion, unterbrochen von den drei Jahren deutscher Besatzung
(1941–1944). Seit 1991 ist sie ein Teil des unabhängigen
Staates Weißrussland.
Im Jahre 1943 wurde in Sluzk für Juden aus der Umgebung ein Ghetto errichtet,
dessen Insassen unter der Leitung von SS-Hauptscharführer
Adolf Rübe umgebracht wurden, welcher ebenfalls für die Ermordung
der Insassen des Ghetto Minsk zuständig war.
Die estnische Staatsanwaltschaft gab jetzt bekannt, dass gegen den mutmaßlichen
Anführer des Massakers kein Strafverfahren durchgeführt wird.
Es gebe kein hinreichendes Beweismaterial dafür, dass der
1923 in Estland geborene Michail Gorschkow und am Verbrechen
in Sluzk beteiligte “Gorschkow” ein und dieselbe Person sind.
Michail Gorschkow war nach dem Krieg in einem Gefangenenlager der Alliierten
in Süddeutschland gelandet und nach dem Entnazifizierungsverfahren
in die USA ausgewandert. Er bekam die amerikanische Staatsbürgerschaft
und lebte bis 2002 in Florida. Als Informationen über seine Beteiligung
am Massenmord in Sluzk aufkamen, erkannte das US-Justizministerium
ihm die Staatsbürgerschaft ab und kündigte seine Ausweisung nach Estland
an. Es gehöre in die Zuständigkeit der estnischen Justizbehörden, die
Anschuldigungen gegen Gorschkow zu klären. Bevor ein formaler Beschluss
geschrieben war, reiste der Beschuldigter jedoch freiwillig in seine
alte Heimat aus.
Die aktuelle Entscheidung der estnischen Staatsanwaltschaft
kritisiert Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Zentrum als “typisch
für das völlige Versagen der estnischen Behörden seit 1991″. Auch der
Vorsitzende des Außenkomitees in der russischen Duma, Michail Margelow
brachte seinen Unmut wegen Freisprechung des Esten zum Ausdruck. Angeblich
lebt Michail Gorschkow bis heute in seinem Geburtsland.
Nicht aufgeklärte Fälle
In Estland ist bis jetzt noch nie ein Nazi-Verbrechen aufgeklärt
oder einem mutmaßlichen Schuldigen der Prozess gemacht worden. Ein
Auslieferungsbegehren gegen den auf Island lebenden Vizechef der
Sicherheitspolizei von Tartu, Evald Mikson, war so lange verzögert
worden, bis dieser 1993 starb. Nach seinem Tod konstatierte eine
estnische Historikerkommission, dass er an Kriegsverbrechen schuldig
war. Evald Mikson, später Eðvald Hinriksson, wurde 1911 in Tartu
geboren, er starb 1993 in Reykjavik. Er war Torhüter der estnischen
Fußballnationalmannschaft und stellvertretender Polizeichef in Tallinn
während der deutschen Okkupation.
Am Ende des Krieges floh Evald Mikson vor der heranrückenden
roten Armee nach Schweden, wo er jedoch nach einer Anhörung von einem
schwedischen Gericht als unerwünschte Person und Kriegsverbrecher betrachtet
und ausgewiesen wurde. 1946 wurde er in Halden in Norwegen auf ein
Schiff nach Venezuela gebracht. Das Schiff lief jedoch vor der isländischen
Küste auf Grund, die Überlebenden wurden von Island aufgenommen. Die
USA verweigerten dem Esten das beantragte Visum.
Mikson wurde vom Simon Wiesenthal Center von an Juden
begangener Kriegsverbrechen bezichtigt. Nach ausländischem Druck und
scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen leitete die isländische
Regierung 1993 eine Untersuchung der Vorwürfe in die Wege. Mikson starb,
bevor es zu einer Anklage kommen konnte.
Mikson war der Vater von Jóhannes Eðvaldsson (* 1950),
der in den 1970er Jahren für Celtic Glasgow spielte und von Atli Eðvaldsson
(* 1957), der als Spieler für Borussia Dortmund, Bayer Uerdingen und
Fortuna Düsseldorf in der Fußball-Bundesliga aktiv war und später von
2000-2003 Trainer der isländischen Fußballnationalmannschaft war.
Auch ein Verfahren gegen den Polizeioffizier Harry Männil wegen der Deportation
von Juden und Kommunisten 1941 und 1942 wurde nach fünfjährigen Ermittlungen
2006 “mangels Beweisen” eingestellt. Er starb 2010 in Costa Rica. Er
lebte jedoch von 1946 bis 2010 in Venezuela. In die Costa Rica war
er wegen eines Generalstreiks in seiner Wahlheimat gereist.Männil wird
als reichste Este angegeben. Er verkehrte mit David Rockefeller, Ariel
Sharon und Gerald Ford. Aber er hatte Kontakte auch zu Kommunisten
wie Vaino Väljas und Edgar Savisaar. Der Schriftsteller Olavi Remsu
hat in diesem Jahr die Biographie „Der elitäre Mann Harry Männil“ (“Elitaarne
mees Harry Männil” Verlag Tänapäev, 2011) veröffentlicht. Seit 1955
war der Este mit Mazula D’Empaire verheiratet. Das Paar hat vier Kinder
bekommen. Harry Männil war Katholik und Angehörige des Malteser-Ritterordens.
Text Aino Siebert, Deutsche Bearbeitung: Werner Siebert baltische-rundschau.eu
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