11 | 1 | 2012 fr-online.de
Blinde Ehrung der Waffen-SS

Die Regierung Estlands will per Gesetz Angehörige der Waffen-SS zu Freiheitskämpfern erklären. Das ist vor allem mit Blick auf den Holocaust geschichtsblind.

Wenn bei einer Familienfeier irgendwo in Litauen, Lettland oder Estland die Ältesten beisammensitzen, reden sie oft über Sibirien. In den 40er und 50er Jahren ließ Josef Stalin Hunderttausende Bürger in die Sowjetunion umsiedeln. Als Grund der Deportation war in den Dokumenten oft nur vermerkt: „wegen Baltikum“. Wer sich aktiv gegen Moskau aufgelehnt, etwa litauische Bücher über die polnische Grenze geschmuggelt hatte, dem drohte der Gulag.

Nach Stalins Tod durften die Vertriebenen zwar nach und nach zurückkehren, doch in ihre Höfe und Häuser waren ethnische Russen oder moskautreue Balten eingezogen, oder sie waren verfallen. Kinder, die in Sibirien geboren waren, bekamen nur schwer einen Studienplatz. Noch in den 80er Jahren gab es auf den Schulhöfen eine Kluft zwischen Kindern der Deportierten und Kindern derer, die sich aus Sicht der Sibirien-Heimkehrer mit dem Regime arrangiert und vom Leid der Vertriebenen profitiert hatten. Die Eltern ließen ihre Kinder wissen, auf welche Seite sie gehörten.

Die Folge dieser Erfahrungen ist ein Geschichtsbild, das befremden muss. Es drückt sich nicht nur in skandalträchtigen Episoden aus wie in den Gedenkfeiern lettischer SS-Veteranen in Riga oder jetzt darin, dass Estlands nationalistischer Verteidigungsminister Mart Laar estnische SS-Freiwillige per Gesetz zu Freiheitskämpfern erklären will. Es zeigt sich auch in alltäglicheren Dingen. Wer im Baltikum der 60er und 70er Jahre aufgewachsen ist, erzählt nicht von Räuber-und-Gendarm-Spielen: Kinder schlüpften lieber in die Rollen von „bösen“ Sowjet- und „guten“ Wehrmachtssoldaten. Beliebter war es nur, einen der „Waldbrüder“ zu spielen, einen der zum Teil mit der Wehrmacht kollaborierenden antikommunistischen Partisanen.

Bis zu einem bestimmten Punkt sind solche Verzerrungen in der Geschichtsperspektive historisch verständlich. Die Balten hatten sich 1918 gerade nach langer unfreiwilliger Zugehörigkeit zum zaristischen Russland ihre Unabhängigkeit erstritten, als der Hitler-Stalin-Pakt die drei jungen Staaten der Sowjetunion zusprach und die Rote Armee einmarschierte. Litauer, Letten und Esten hofften, als Verbündete der Deutschen ihre Freiheit wiederzubekommen. Immerhin hielten die Nationalsozialisten in ihrer rassistischen Ideologie sie für den Slawen genetisch überlegen.

Effektive Mordmaschine

Doch das Leid, das vielen Balten unter der Sowjetherrschaft widerfuhr, reicht nicht aus, die Blindheit zu erklären, mit der sie geschlagen sind, wenn es um den Holocaust geht. Es waren nicht mal die jetzt in Estland in den Blickpunkt geratenen SS-Einheiten, die sich beim Massenmord an den Juden blutige Hände holten; sie kämpften vor allem gegen die Sowjets. Aber einheimische Freiwillige in paramilitärischen Milizen und bei der Polizei halfen in den drei Baltenstaaten bei Deportationen und Erschießungen. So effektiv wie im Baltikum lief die Mordmaschine in kaum einem Land unter NS-Herrschaft. In Lettland etwa wurden 95 Prozent der 70 000 Juden ermordet.

Im offiziellen Geschichtsbild der Balten spielt diese Beteiligung kaum eine Rolle. Die Opferrolle ist viel bequemer. So bequem, dass sie sich auch auf moderne Phänomene ausdehnen lässt: Wenn baltische Politiker Entscheidungen auf der Ebene der Europäischen Union kritisieren, vergleichen sie die Gemeinschaft gern mit der Sowjetunion. Sofort sind die Reflexe im Wahlvolk wach und die Botschaft kommt an: Die Nation ist in Gefahr.

Wenn Esten und Letten ihre SS-Veteranen als antikommunistische Kämpfer ehren (eine eigene SS-Einheit für litauische Freiwillige gab es nicht), dann ist das ein wenig so, wie wenn am deutschen Stammtisch jemand sagt, „beim Adolf“ gab es wenigstens keine Arbeitslosen. Aber die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten lässt sich eben nicht in gute und böse Teile aufsplitten, in Autobahn und Holocaust. Wer baltische SS-Kämpfer zu Patrioten stilisiert, die eine politisch etwas unkorrekte Uniform trugen, hat von Geschichte nichts verstanden, in der es reines Schwarz und reines Weiß nur selten gibt und alles mit allem zusammenhängt.

Doch die jungen Demokratien in Osteuropa sind immer noch labil, und gerade die Verlierer der Wende sind anfällig für schlichte Erklärungsmuster: Wer heute unzufrieden ist, verklärt die Vergangenheit. In Russland dient die Sowjetunion als nos-talgische Folie für die Früher-war-alles-besser-Nostalgie. Im Baltikum ist es die Zeit der Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen – ganz egal, dass sich damals in allen drei Staaten undemokratische Regierungen an die Macht putschten.

Dass allerdings deutsche Politiker, von der Berliner Tageszeitung taz befragt, sich mit Äußerungen zu den Plänen in Estland zurückhalten, ist verständlich. Es wäre auch mehr als unsensibel, wenn ausgerechnet deutsche Diplomaten die Balten an ihre Mitwirkung am Holocaust erinnern würden. Das Europaparlament oder auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates, dem auch Russland angehört, wären ein weitaus sinnvollerer Mahner.

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