19.10.2005
OVB online
  Aktenzeichen NS ungelöst
Von DIRK WALTER
 
 

München - Namen, die kaum jemand kennt: Aribert Heim, Milivoj Asner, Sören Kam - sie sind im Moment die Top-Leute auf den Kriegsverbrecherlisten deutscher Staatsanwaltschaften. Auch mehr als 60 Jahre nach Kriegsende laufen die Ermittlungen weiter, wie zuletzt erst wieder die Fahndung nach dem Mauthausener KZ-Arzt Heim zeigte. "Es tauchen immer neue Fälle auf", sagt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, die die Aufklärung von NS-Verbrechen koordiniert. Schrimm weiß: Viele Haupttäter sind, soweit nicht gefasst und abgeurteilt, in Freiheit gestorben. Mengele, Müller, Best und andere.

Dennoch suchen die Staatsanwälte weiter: Mehrere hundert hochbetagte Täter dürften in Deutschland noch leben. Es sind keine großen Namen, aber mit ihnen verbinden sich monströse Verbrechen. Allein in Dortmund, wo es eine Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von NS-Taten gibt, werden 22 Verfahren mit 148 noch lebenden Beschuldigten geführt. In München führt Staatsanwalt Konstantin Kuchenbauer sechs Verfahren und zwei Vorermittlungen. "Ludwigsburg" führt noch einmal knapp 30 Vorermittlungsverfahren. Mitarbeiter sichten Akten in der Ukraine, um Licht in bislang nicht aufgeklärte spektakuläre Fälle wie die "Aktion Erntefest" zu bekommen.

Tatsächlich ist für die zynisch "Erntefest" genannte Erschießung von rund 41 000 Juden in Lublin 1943 - die größte einzelne Mordaktion im Holocaust - bislang kein Einzeltäter bestraft worden. "Einige hundert Personen" könnten wohl noch namentlich ermittelt werden, meint Schrimm. Ob überhaupt noch welche leben? Schrimm schweigt. Hauptproblem ist das Fehlen eines zentralen Melderegisters in Deutschland - es dauert ewig, bis der Wohnort einzelner Personen ermittelt ist.

Neue Ermittlungen gegen Gebirgsjäger

In zwei Fällen gelang das dem Dortmunder Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß: Er führte Ermittlungen zu der Ermordung von rund 5000 italienischen Kriegsgefangenen im September 1943 auf der griechischen Ägäis-Insel Kephallonia - ein Massaker, das alljährlich zu Pfingsten bei den Protestaktionen gegen die Gedenkfeier der Gebirgsjäger-Kameradschaft am Hohen Brendten bei Mittenwald eine Rolle spielt. Die Beschuldigtenbefragung im Fall Kephallonia führte Maaß zu einem Baden-Württemberger, einem Nordrhein-Westfalen und drei Bayern - immer in der vagen Hoffnung, "dass sich noch etwas ergibt". Denn die Gesprächspartner "sind für uns zunächst einmal Zeugen" - die aber im Laufe einer Vernehmung zu mutmaßlichen Mördern werden können.

Tatsächlich haben sich zwei Verdachtsfälle jüngst erhärten lassen: Zwei im Großraum München lebende ehemalige Gebirgsjäger des Regiments 98 im 3. Bataillon stehen im Verdacht, an den Erschießungen teilgenommen zu haben. Maaß hat sich sogar durch ein beschlagnahmtes Kriegstagebuch eines Bataillonskommandeurs gewühlt, um die Taten zu rekonstruieren. Die Lektüre hat ihn beeindruckt: "Man sieht, wie die Gebirgsjäger sich mental umstellten, die NS-Diktion im Laufe des Krieges mehr und mehr übernahmen."

Es muss sich um Mitglieder der Kompanien 11 bis 15 handeln, denn genau diesen etwa 300 bis 500 Mann umfassenden Trupp wird das Kephallonia-Massaker zur Last gelegt. Einer der beiden derzeit Verdächtigen, ein Feldwebel, ist indes 90-jährig vor einigen Monaten gestorben. Beim zweiten Mann, einem inzwischen 85 Jahre alten ehemaligen Offizier, hat Maaß die Ermittlungen seinem Kollegen Kuchenbauer von der Staatsanwaltschaft München I. übergeben.

Ob es zur Anklage reicht, will Kuchenbauer erst entscheiden, wenn das Landgericht München I den Prozess gegen Ladislav Niznansky (88) beendet hat. Er soll als Kommandant der faschistischen Spezialeinheit "Edelweiß" an der Ermordung von Zivilisten in der Tschechoslowakei beteiligt gewesen sein. Ob es zur Verurteilung reicht? Letzte Jagd gegen 92-jährigen Kroaten Es sieht für Kuchenbauer eher schlecht aus - er hat sich auf einen in der Tschechoslowakei 1962 geführten Prozess gegen Niznansky gestützt. Jetzt stellt sich heraus: Die Zeugenaussagen von damals waren großteils erpresst - sie sind für deutsche Gerichte heute nicht verwertbar.

Auf eine andere Fahndungsaktion sind die Staatsanwälte schlecht zu sprechen: "Operation last Chance" (letzte Chance) nennt sich eine Initiative des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem. Dessen Leiter Efraim Zuroff eröffnete mit Talent zur Show die Jagd nach den letzten Nazis. Die Offensive ist umstritten, weil Zuroff Geld gegen Hinweise in Aussicht stellt. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass er Wirbel ausgelöst hat. Zum Beispiel bei der Jagd nach dem 92-jährigen, in Klagenfurt lebenden Kroaten Milivoj Asner (Georg Aschner). Er soll als Leiter der faschistischen Ustascha-Polizei im kroatischen Pozega 1941 an der Deportation von Serben und Juden beteiligt gewesen sein.

Kroatien hat die Auslieferung verlangt, aber Wien lehnte ab - Asner hat auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Eventuell wird er von der Staatsanwaltschaft Klagenfurt angeklagt. Auch Dr. Aribert Heim (Spitzname: "Dr. Tod") könnte noch leben. Er soll hunderte Häftlinge mit Injektionen getötet haben und wird heute 91-jährig in Spanien vermutet. Gerüchte, das Landeskriminalamt Baden-Württemberg sei dem Senior auf den Fersen, haben sich aber zerschlagen.

Niznansky ist also einer unter vielen. So wie auch Sören Kam, ein aus Dänemark stammender SS-Mann, der heute in Kempten lebt, und 1943 in Kopenhagen einen dänischen Journalisten erschossen haben soll.

Ermittelt wird schon seit Jahren - ohne greifbares Ergebnis: "Kam, sah und blieb", spottete eine Zeitung über den Umstand, dass sich der Däne das Allgäu als behaglichen Ruhestandssitz ausgesucht hat. Dennoch: Die Akten liegen weiter auf Kuchenbauers Schreibtisch, wie auch die zu drei Verfahren wegen Kriegsverbrechen in Italien, sowie die zu zwei Vorermittlungen gegen Gebirgsjäger wegen Kriegsverbrechen in Griechenland 1943 sowie gegen Panzergrenadiere wegen ihrer Taten in Italien im Herbst 1944.

Die biologische Uhr tickt. Immerhin: Kuchenbauer hat schon einen NS-Täter erfolgreich zur Verurteilung gebracht: Der Gestapo-Aufseher in der Kleinen Festung Theresienstadt, Anton Malloth, wurde im Frühjahr 2001 verurteilt, er starb eineinhalb Jahre später.

Malloth war übrigens nicht der letzte NS-Täter, der vor Gericht gebracht wurde: Im September 2003 wurde der ehemalige SS-Mann Herbertus Bikker in Hagen angeklagt - er soll einen niederländischen Widerstandskämpfer erschossen haben. Der Prozess wurde ein halbes Jahr später wegen "dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit" eingestellt. Vielleicht war Malloth also der letzte NS-Täter, der verurteilt worden ist. Dann hätte München immerhin Rechtsgeschichte geschrieben.

OVB online, 19.10.2005