25.10.2007 Süddeutsche Zeitung
  Gute Kameraden  
 

Das Massaker von Rechnitz: Die Gräfin Thyssen gehört dem Boulevard. Aber das Problem ist die Justiz

Die Ermordung von etwa 200 Juden in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 im österreichischen Rechnitz sorgt gegenwärtig für hitzige Debatten darüber, ob der Mord auf der Party einer "Thyssen-Gräfin" stattfand. Dabei ist die Tat spätestens durch die Untersuchung der Historikerin Eva Holpfer aus dem Jahr 1998 über das "Massaker von Rechnitz" unstrittig: Der Massenmord wurde in dieser Nacht von Gästen einer Feier auf Schloss Rechnitz verübt. Viel interessanter aber als die mögliche Beteiligung einer deutschen Erbin ist die Frage, was aus den Tätern wurde.

Jetzt ausgewertete Akten der Zentralstelle zur Bearbeitung von NS-Verbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund decken eine groteske und skandalöse westdeutsche Ermittlungspraxis auf: SS-Sturmscharführer Franz Podezin, der mutmaßliche Haupttäter beim "Massaker von Rechnitz", arbeitete nach 1945 nicht nur als Agent der Westalliierten in der DDR. Westdeutsche Strafverfolgungsbehörden ermöglichten dem SS-Führer auch die Flucht aus Deutschland. Der Fall zeigt vor allem, dass die Geschichte des Bundeskriminalamts dringend aufgearbeitet werden muss.

In den vergangenen Tagen wurde dieses nationalsozialistische Massaker zum Medienereignis aufgebläht: Gräfin Margit von Batthyany, eine geborene Thyssen, habe 200 Juden auf einer "Party" im österreichischen Rechnitz erschießen lassen, meldete die Bild-Zeitung. Welche Rolle sie bei der Tat am 24./25. März 1945 spielte, ist indessen unklar. Verbürgt ist hingegen, dass sie an der Feier im Schloss Rechnitz teilnahm und in engerer Beziehung zu mindestens einem der Verantwortlichen stand. Bekannt ist auch, dass der Fall nicht einzigartig ist: Nach Feststellungen österreichischer Ermittler waren in Rechnitz schon Anfang März 220 ungarische Juden erschossen worden. Kreisleiter Eduard Nicka habe, "als dort die Juden erschossen wurden und nach der Erschießung derselben, an einem Zechgelage der Mörder im Schlosse Rechnitz" teilgenommen.

Der Hauptbeschuldigte Franz Podezin, geboren 1911 in Wien, war Ortsgruppenleiter der NSDAP von Rechnitz, SS-Sturmscharführer und Kriminalassistent bei der Grenzpolizei in Rechnitz/Burgenland. In dieser Funktion führte er in Rechnitz die Geschäfte der Gestapo, die ihren Sitz im Schloss hatte. Gegen ihn ermittelte nach dem Krieg zunächst die österreichische Justiz. Angeblich war sein Aufenthaltsort unbekannt. Im Jahr 1963 wohnte er jedoch in Kiel und entkam der deutschen Nachkriegsjustiz.

In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 hatte er die Massenexekution von Rechnitz organisiert, während er mit der regionalen braunen Elite das "Kameradschaftsfest" von SS, Gestapo und NSDAP im Schloss Rechnitz feierte. Gräfin und Schlossherrin Margit Batthyany hatte das Schloss nicht zum ersten Mal für solche Zwecke zur Verfügung gestellt. Der überwiegende Teil der Opfer - es waren insgesamt etwa 180 - ist bis heute nicht gefunden worden. Sie gehörten zu den Tausenden jüdischen Ungarn, die zum Bau des "Südostwalls" gezwungen worden waren. Sie sollen am 24. März 1945 als "Arbeitsunfähige" nach Rechnitz transportiert worden sein, um dort erschossen zu werden. Sie trafen am frühen Abend ein.

Die Rote Armee stand kurz vor Rechnitz. Das Kameradschaftsfest begann um 21 Uhr. Am späten Abend verließ Podezin mit zehn Kameraden das Fest, um die kranken Zwangsarbeiter an Gruben, die im Laufe des Abends ausgehoben worden waren, zu erschießen. Wo genau sich der Tatort befand, ist unbekannt. Laut Aussage des Schlossverwalters Hans-Joachim Oldenburg hatten 300 jüdische Zwangsarbeiter im Schlosskeller "gewohnt". Diese seien aber mit den Opfern nicht identisch.

Die Haupttäter wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, obwohl es in Österreich 1948 einen Prozess gegeben hat. Im Vorfeld des Gerichtsverfahrens wurde ein Zeuge erschossen, möglicherweise stehen weitere mutmaßliche "Fememorde" mit dem Massaker in Verbindung. Nur zwei Beschuldigte wurden zu milden Haftstrafen verurteilt, die später erheblich verkürzt wurden.

Als die Zentralstelle bei der Staatsanwaltschaft Dortmund 1963 das Ermittlungsverfahren gegen Franz Podezin und den Mitbeschuldigten Hans-Joachim Oldenburg wegen Mordes eröffnete, war der zuständige Staatsanwalt auf der Hut: "Da zu befürchten ist, dass Podezin durch Oldenburg und durch die Gräfin Batthyany gewarnt werden könnte, bitte ich, an diese Personen zunächst nicht heranzutreten. Falls gegen Podezin ermittelt werden sollte, bitte ich, ihn nicht zu vernehmen, sondern mir unverzüglich Nachricht zu geben, damit ich zuvor einen Haftbefehl erwirken kann", schrieb er am 18. Februar 1963.

Zwar wurde der Wohnsitz Podezins in Kiel schnell ermittelt, doch die Warnungen verhallten ungehört. "Zwecks Prüfung, ob das Verfahren gegen Oldenburg einzustellen sein wird, erscheint es geboten, ihn zu vernehmen. Es muß jedoch vermieden werden, dass Podezin gewarnt werden und die Flucht ergreifen könnte. Aus diesem Grunde sollen bei der Vernehmung Hinweise auf Podezin unterlassen werden", vermerkte Staatsanwalt Dr. S. noch am 22. März 1963.Die Zentralstelle Dortmund befragte Oldenburg am 26. März 1963, ohne jedoch einen Haftbefehl gegen Podezin erwirkt zu haben. Und wenn es den Dortmunder Ermittlern mit der Vernehmung Oldenburgs zunächst nicht schnell genug ging, so ließen sie sich mit dem Haftbefehl für Podezin viel Zeit. Doch damit nicht genug: Staatsanwalt Dr. S. befragte Oldenburg ganz gezielt nach Podezin.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund wollte das Verfahren gegen Oldenburg nun einstellen und die Sache Podezin an die Staatsanwaltschaft Kiel abgeben. Die Akten gingen am 18. April 1963 dorthin. Um einen Haftbefehl hatte die Zentralstelle Dortmund das Amtsgericht Kiel aber immer noch nicht ersucht. Das geschah erst am 7. Mai 1963. Am 9. Mai 1963 lagen dem Landeskriminalpolizeiamt Kiel Haftbefehl und Durchsuchungsbeschluss vor. Am nächsten Tag sollte der Zugriff erfolgen.

Inzwischen jedoch hatte der zuständige schleswig-holsteinische Kriminalbeamte "hinsichtlich der früheren Tätigkeit des Beschuldigten für alliierte Nachrichtendienste in der SBZ" beim Landesamt für Verfassungsschutz (LAV) festgestellt, dass Podezin in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wegen Spionage zu 25 Jahren Haft verurteilt, aber nach Verbüßung von elf Jahren nach Westdeutschland entlassen worden sei. Es bestand der Verdacht, dass er nunmehr für östliche Nachrichtendienste tätig sei. Der Verfassungsschutz habe die erforderlichen Ermittlungen eingeleitet.

Es kam dann, wie es kommen musste: Als die Polizei am 10. Mai 1963 Podezin festnehmen wollte, war er schon in Dänemark. Seine Frau teilte den Beamten mit, er sei geflohen, als er festgestellt habe, dass über ihn Erkundigungen eingeholt wurden. Eine Telefon- und Postüberwachung der Frau lehnte der zuständige Kieler Haftrichter Dr. M. in der Folge ebenso ab wie einen Auslieferungshaftbefehl für Dänemark. Er wollte "noch eine Woche warten um zu sehen, ob Podezin nicht freiwillig zurückkehrt". Damit bewies der Richter ähnlichen Weitblick wie zuvor Polizei und Staatsanwaltschaft in Dortmund und Kiel.

Nun kam das Bundeskriminalamt (BKA) ins Spiel, das von Experten des ehemaligen Reichssicherheitshauptamts aufgebaut worden war. Regierungs-Kriminalrat Kurt Griese aus Wiesbaden teilte der Zentralstelle Dortmund auf deren Anfrage am 13. Mai 1963 mit, der "Generalsekretär von Interpol habe bei einer Präzedenzsache angeordnet, dass Interpol in NSG-Sachen vorliegender Art nicht tätig werden dürfe". Der Kriminalbeamte Kurt Griese war 1943 als SS-Hauptsturmführer Angehöriger des Einsatzkommandos 3 in Litauen gewesen, dann beim Höheren SS- und Polizeiführer Ostland.

So konnte Franz Podezin unbehelligt in die Schweiz reisen und unter Angabe seiner Hoteladresse einen Erpresserbrief an Oldenburg absenden. Ende Mai 1963 war Podezin bereits in Spanien angekommen. Die Zentralstelle Dortmund wandte sich nun mit dem Ziel ans Bundeskriminalamt, seine polizeiliche Festnahme in Spanien "anzuregen". Das Bundeskriminalamt teilte daraufhin am 28. Mai 1963 mit, man habe bisher gegen Podezin in Spanien keine Maßnahmen veranlasst. Solche Entscheidungen seien Regierungskriminalrat Kurt Griese oder Paul Dickopf, dem späteren Präsidenten des BKA und früheren Angehörigen des SD, vorbehalten, beide Herren seien "jedoch z. Zt. nicht erreichbar".

Franz Podezin schrieb unterdessen aus Valencia in Spanien ein zweites Mal an Hans-Joachim Oldenburg und verlangte Geld, wobei er nicht vergaß, seine Adresse anzugeben. Kurt Griese vom BKA aber lehnte die Festnahme seines ehemaligen Kameraden Franz Podezin in Spanien weiterhin ab - da bot sich die Gräfin Batthyany der Staatsanwaltschaft Dortmund im Juni 1963 überraschend als Zeugin an. Doch die Leitung der Behörde sagte das bereits für 8. des Monats im Hotel Römischer Kaiser in Dortmund vereinbarte Treffen ab. Bevor der endlich in Kiel ausgestellte Auslieferungshaftbefehl umgesetzt werden konnte, verschwand Podezin nach Südafrika und war dem Zugriff der deutschen Justiz entzogen. Was aus ihm wurde, ist unbekannt. Die Anschrift von Franz Podezin im Jahre 1973: 1 Briley Court, De Jager Street, Hillbrow, Johannesburg.

Der Fall Podezin ist kein Einzelfall. Auch andere NS-Täter arbeiteten für Geheimdienste der Alliierten. Möglicherweise tat dies auch der KZ-Arzt Dr. Aribert Heim, nach dem bis heute international gefahndet wird. Dr. Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem: "Deutsche Strafverfolgungsbehörden haben die Flucht des SS-Führers Franz Podezin zumindest begünstigt. Die ganze Tragweite der Affäre kann nur die sofortige Untersuchung in Deutschland und Österreich ans Licht bringen." STEFAN KLEMP

Der Autor ist Zeithistoriker und Jounalist. Er ist Autor des Monographie "Nicht ermittelt. Polizeibataillone und die Nachrkriegsjustiz" (2005) und arbeitet für das Simon Wiesenthal Center Jerusalem.

Die Haupttäter wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, obwohl es in Österreich 1948 einen Prozess gegeben hat und Haftbefehle vorlagen

Der Verdächtige schrieb aus Valencia und verlangte Geld, wobei er nicht vergaß, seine Adresse anzugeben. Doch nichts geschah.