Die Verbrechen,
die sie begangen haben sollen, liegen mehr als sechs Jahrzehnte
zurück: Noch immer genießen Dutzende mutmaßliche
Nazi-Kriegsverbrecher unbehelligt von der Justiz ihren Lebensabend.
Für die Ermittler ist es ein Kampf gegen die Zeit.
Hamburg - Für Karoly Charles Zentai war dieser Dienstag
ein guter Tag: Seine Abschiebung aus Australien nach Ungarn
wurde gestoppt - in letzter Minute. Die Regierung in Budapest
schien zuletzt doch nicht mehr interessiert daran, dem 87-Jährigen,
der im November 1944 als Soldat den 18-jährigen ungarischen
Juden Peter Balazs gequält, ermordet und seine Leiche
in der Donau versenkt haben soll, den Prozess zu machen.
Im Juli 2005 hatten australische Polizisten Zentai festgenommen
- seither werden der Prozess und eine Entscheidung darüber,
was aus dem Greis werden soll, immer wieder vertagt. Dass
der fast 90-Jährige sich je vor einem ungarischen
Richter wird verantworten müssen, scheint mehr als
fraglich.
Zentai ist nur einer von weltweit Dutzenden mutmaßlichen
Nazi-Kriegsverbrechern, die von der Justiz nicht belangt
werden. Die Verfahren werden vertagt - und platzen schließlich,
weil der Angeklagte nicht verhandlungsfähig ist, es
keine noch lebenden Zeugen oder einschlägige Dokumente
gibt. Nach Schätzungen renommierter Historiker haben
mindestens 200.000 Deutsche und Österreicher am Holocaust
mitgewirkt. Gegen 106.000 Beschuldigte ermittelten deutsche
Staatsanwaltschaften, aber nur rund 6500 wurden verurteilt
- eine magere Bilanz.
"Ein Prozess macht keinen Sinn mehr"
Zuletzt war im Januar einer der letzten geplanten Nazi-Kriegsverbrecher-Prozesse
in Deutschland geplatzt. Das Landgericht Aachen konnte sich
nicht dazu durchringen, das Verfahren gegen den früheren
SS-Sturmmann Heinrich Boere zu eröffnen. Er sei "aufgrund
vielfältiger erheblicher Gesundheitsstörungen nicht
in der Lage, einer Hauptverhandlung als Angeklagter beizuwohnen",
hieß es zur Begründung.
Der inzwischen 87-Jährige hatte als Mitglied des Kommandos "Silbertanne" 1944
in den Niederlanden drei unschuldige Menschen erschossen.
Wie mehrere Gerichte übereinstimmend erkannten, tötete
Boere jeweils gemeinsam mit einem Kameraden heimtückisch
den Apotheker Bicknese in Breda, den Fahrradhändler
Teunis de Groot in Voorschoten und Herrn Kusters in Wassenaar.
Dennoch lebte der Bergmann jahrzehntelang unbehelligt von
der Justiz im deutsch-niederländischen Grenzgebiet -
und alles deutet darauf hin, dass dies auch so bleiben wird.
Zwar hat die Dortmunder Staatsanwaltschaft, als nordrhein-westfälische
Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen
zuständig, gegen die Nichteröffnung des Verfahrens
Beschwerde eingelegt. Nach Ansicht der Ankläger könnte
der körperlich gebrechliche Boere geistig fit genug
für ein Verfahren sein. "Das müssen wir jetzt
genau prüfen", sagte Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß SPIEGEL
ONLINE. Doch Boeres Kölner Anwalt gibt sich gelassen: "Ich
müsste mich schon sehr täuschen, wenn da noch etwas
passieren sollte", so Gordon Christiansen zu SPIEGEL
ONLINE.
Sein Mandant könne nicht mehr laufen, sei schwer herzkrank
und überhaupt in zunehmend schlechter Verfassung. "Ein
Prozess macht gar keinen Sinn mehr." Dennoch werden
nach Christiansens Angaben in der kommenden Woche Ermittler
des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts Angestellte
des Pflegeheims befragen, in dem Boere untergebracht ist. "Die
wollen ganz sicher gehen", so der Anwalt.
Der ehemalige SS-Mann selbst sorgt sich offenbar am allerwenigsten, überhaupt
noch vor Gericht gestellt zu werden: "Ich bin alleine,
ich habe nicht mehr lange zu leben und warte nur noch auf
den Tod", sagte er bereits im August 2007 im Gespräch
mit SPIEGEL ONLINE. Und konfrontiert mit seinen Verbrechen
im Krieg, entgegnete er: "Was damals passiert ist, interessiert
mich nicht mehr."
"Die Liste der Entschuldigungen ist lang"
"In den vergangenen Jahren hat die Strafverfolgung
der Täter in Deutschland unter einem Mangel an Einsatz
gelitten", so Efraim Zuroff, Leiter des Simon Wiesenthal
Centers in Jerusalem, zu SPIEGEL ONLINE. "Die Mühlen
der Bürokratie mahlen langsam - und die Liste der Entschuldigungen,
warum jemandem nicht der Prozess gemacht werden kann, ist
lang." Den Verfahren gegen die mutmaßlichen Nazi-Schergen
müsse Priorität eingeräumt werden, sie müssten
mit Nachdruck verfolgt werden "unabhängig vom Alter
der Angeklagten".
Zuroff, der Nazi-Jäger, weiß, dass Leute wie
Iwan Demjanjuk und Karoly Charles Zentai zu den "kleinen
Fischen" gehören, er weiß, dass die Verfahren
gegen sie vor allem symbolischen Charakter haben: "Aber
nur weil sie symbolisch sind, sind sie nicht weniger nötig
oder weniger wichtig. Die Tatsache, dass es sich bei ihnen
nicht um die Architekten des Holocausts handelt, bedeutet
nicht, dass sie weniger Schuld tragen." Für die
Angehörigen der Opfer sei entscheidend, dass jeder einzelne
zur Rechenschaft gezogen werde.
Auf der Suche nach "Dr. Tod"
Seit Jahrzehnten gehört der ehemalige KZ-Arzt Aribert
Heim zu den meistgesuchten NS-Verbrechern. Heim, der auch "Dr.
Tod" oder der "Schlächter von Mauthausen" genannt
wird, sei für die Fahnder in Deutschland ein "sehr
attraktiver, sexy Fall", sagt Ruroff - im Gegensatz
zu vielen anderen, die mit weit weniger Nachdruck verfolgt
würden. Doch auch die Ermittlungen im Fall Heim gestalten
sich schwierig.
Das ZDF und die "New York Times" hatten im Februar
gemeldet, Heim sei bereits im August 1992 in Kairo an Krebs
gestorben. Ein Sohn des Arztes hatte die Version bestätigt,
eine zufällig in Kairo aufgefundene Aktentasche mit
Dokumenten von Heim sowie Zeugen sollten Leben und Sterben
in Ägypten belegen.
Doch die Ermittlungsbehörden hegen nach SPIEGEL-Informationen
Zweifel an der Geschichte. So haben Spezialisten des Landeskriminalamts
(LKA) Baden-Württemberg die Schriftstücke analysiert.
Erste Bewertungen der Papiere lieferten jedoch "keinen
Beweis für den Tod" Heims. Neue Erkenntnisse "aus
eigenen Quellen" im In- und Ausland sowie die Widersprüche
innerhalb der Version vom Tod in Ägypten ließen
die Zielfahnder des LKA weiter "in alle Richtungen ermitteln".
Wie das LKA auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE mitteilte, hätten
die Beamten noch immer nicht an den Nil fliegen können,
weil "es von den dortigen Behörden noch keine Antwort" auf
die Anfrage zum Informationsaustausch gebe. Weiterhin sei
bislang nicht offiziell bestätigt worden, "dass
Aribert Heim tatsächlich in Ägypten verstorben
ist und dort begraben wurde". Die Fahndung bleibe daher
bestehen. Auch habe man noch nach dem Fund der ominösen
Tasche Hinweise zu möglichen Aufenthaltsorten des Gesuchten
bekommen, denen nun nachgegangen werde.
"Österreich und Deutschland sind nicht Guantanamo"
Wo Milivoj Asner lebt, ist dagegen kein Geheimnis: Der fast
100-Jährige wohnt im österreichischen Klagenfurt,
zeigt sich dort immer wieder mit seiner Frau in der Öffentlichkeit,
sitzt in Cafés, bummelt durch die Straßen. Bei
der Fußball-Europameisterschaft wurde er von einem
Reporter der "Sun" auf einer Fanmeile entdeckt
und interviewt. Im Zweiten Weltkrieg soll er als Chef der
Ustascha-Polizei in der kroatischen Stadt Pozega für
die Deportation Hunderter Juden und Serben verantwortlich
gewesen sein.
Vier Gutachter sind zu dem Schluss gekommen, dass Asner
nicht rechtlich belangt werden kann. Er leide unter fortschreitender
Demenz und sei nicht in der Lage, die Folgen des von ihm
Gesagten abzusehen. Der jüngste ärztliche Bericht
ist gerade einmal vier Wochen alt.
"Dass diese Leute nicht zur Rechenschaft gezogen werden
können, liegt daran, dass die Justiz vor 30 Jahren säumig
war", sagt der Klagenfurter Gerichtssprecher Manfred
Herrenhofer SPIEGEL ONLINE. Damals habe es nicht die gesellschaftliche
Rückendeckung für die Verfolgung der mutmaßlichen
NS-Täter gegeben. "Heute haben wir eine junge Generation
von Richtern. Und die können Unrecht nicht mit Unrecht
vergelten. Jeder hat das Recht auf ein rechtsstaatliches
Verfahren, in dem die Unschuldsvermutung gilt."
Die österreichische Justiz sah sich harten Anschuldigungen
ausgesetzt, nachdem die "Sun", von dem Gespräch
ihres Reporters mit dem offenbar geistig regen Asner berichtete. "Österreich
und Deutschland sind nicht Guantanamo", sagt Herrenhofer. "Wir
sehen die Anliegen der Betroffenen. Aber deshalb dürfen
wir das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit nicht aufweichen.
Sonst machen wir uns unglaubwürdig."
spiegel.de
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