Die Deutschen
waren die Mörder - aber auch viele Nichtdeutsche mordeten
mit. Der Fall John Demjanjuk lenkt jetzt den Blick auf einen
vernachlässigten Aspekt des Judenmords der Nationalsozialisten:
Hitlers Häscher hatten willige Helfer für ihr Jahrtausendverbrechen
- in fast allen Ländern Europas. Von Georg Bönisch,
Michael Sontheimer und Klaus Wiegrefe
In dem rumänischen Städtchen Hirsova an der Donau
ergriffen Kämpfer der Eisernen Garde Ende 1940 den Kaufmann
Alexandru Spiegel. Zunächst verprügelten die Faschisten
den Juden, dann fesselten sie ihn an einen Pfahl. Die Wachen,
die sich wegen der bitteren Kälte alle zwei Stunden
abwechselten, holten Kinder aus der Schule, die den Unglücklichen
mit Schneebällen bewarfen. In Socken stand er da. Als
er seinen Kopf nicht mehr aufrecht halten konnte, klemmten
seine Peiniger ihm ein Stück Holz zwischen Brust und
Kinn. Der Tod war eine Erlösung für Alexandru Spiegel.
In Rumänien, wo vor dem Zweiten Weltkrieg der Antisemitismus
laut Hannah Arendt am stärksten in Europa war, kam es
schon vor der Allianz mit Nazi-Deutschland zu zahlreichen
Mordexzessen gegen Juden. Als Legionäre unweit von Bukarest
Juden ermordet hatten, hängten sie mehrere der Toten
wie Vieh an Haken auf. Dazu stellten sie ein Schild: "Koscheres
Fleisch zu verkaufen".
Wieviele Juden während des Zweiten Weltkriegs in Rumänien
ermordeten wurden, ist umstritten. Die Schätzungen der
Experten bewegen sich zwischen 200.000 und 400.000. Fest
steht, dass die allermeisten ohne deutsches Zutun von Rumänen
getötet wurden, "aus eigenem Antrieb", wie
der Historiker Armin Heinen schreibt.
"Das war tägliche Arbeit"
Und in anderen Ländern rund um Deutschland herum war
es nicht viel besser. Iwan Demjanjuk, der nun in München
in Untersuchungshaft sitzt, stammt aus der Ukraine und zählte
offensichtlich zu den "Trawniki" genannten Handlangern
des Holocaust. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe
zum Mord an mindestens 29.000 Juden im Vernichtungslager
Sobibor vor. Der inzwischen verstorbene ehemalige Trawniki
Ignat Daniltschenko hat 1949 und 1979 bekundet, Demjanjuk
sei ein "erfahrener und effizienter Wachmann" gewesen,
der Juden in die Gaskammer getrieben habe - "das war
tägliche Arbeit".
Mit Demjanjuk geraten nun auch die nichtdeutschen Täter
stärker in den Fokus: ukrainische Gendarmen und lettische
Hilfspolizisten, rumänische Soldaten oder ungarische
Eisenbahner. Auch polnische Bauern, niederländische
Katasterbeamte, französische Bürgermeister, norwegische
Minister, italienische Soldaten - viele haben mitgemacht
bei dem Jahrtausendverbrechen schlechthin, dem Holocaust.
Auf über 200.000 schätzt der Historiker Dieter
Pohl vom Institut für Zeitgeschichte die Zahl der Nichtdeutschen,
die die "Mordaktionen vorbereiteten, durchführten
und unterstützten" - ungefähr genauso viele
wie Deutsche.
Und oft standen sie den SS-Schergen und Wehrmachtsoldaten
an Grausamkeit in nichts nach. Baltische Mordkommandos wüteten
im deutschen Auftrag in Lettland, Litauen, Weißrussland
und der Ukraine. Den deutschen Einsatzgruppen zwischen Warschau
und Minsk fiel es gewöhnlich nicht schwer, die nichtjüdische
Bevölkerung zu Pogromen anzustacheln.
Ein "europäisches Projekt"?
Niemand kann das Faktum bezweifeln, dass es den Holocaust
ohne Hitler, Himmler, Heydrich und die vielen, vielen deutschen
Volksgenossen, die ihn exekutierten, nie gegeben hätte.
Ebenso unstrittig ist allerdings auch, "dass die Deutschen
den millionenfachen Mord an den europäischen Juden nicht
allein hätten bewerkstelligen können", konstatiert
der Hamburger Historiker Michael Wildt.
Auf den Totenfeldern in Osteuropa kamen auf einen deutschen
Polizisten bis zu zehn einheimische Hilfskräfte. Ähnlich
war das Zahlenverhältnis in den Vernichtungslagern.
Zwar nicht in Auschwitz, das fast ausschließlich von
Deutschen betrieben wurde, wohl aber in Belzec, Treblinka
oder eben Sobibor, wo mutmaßlich John Demjanjuk wütete.
Dort standen einer Handvoll SS-Leute ungefähr 120 Trawniki
zur Seite. Ohne diese hätten es die Deutschen "niemals
geschafft", in Sobibor 250.000 Juden umzubringen, urteilt
ein Überlebender. Es waren die Trawniki, die das Lager
bewachten, die Juden nach ihrer Ankunft aus den Waggons und
von den Lastwagen trieben, sie in die Gaskammer prügelten.
Vor diesem Hintergrund stellt sich eine Frage, die der Berliner
Historiker Götz Aly schon vor Jahren formuliert hat:
Handelt es sich bei der "Endlösung der Judenfrage" womöglich
um ein "europäisches Projekt, das sich nicht allein
aus den speziellen Voraussetzungen der deutschen Geschichte
klären lässt"?
Opfer? Täter? Beides?
Erst spät - als die meisten Täter schon tot waren
- begannen Franzosen oder Niederländer, diesen Teil
ihrer Geschichte umfassend aufzuarbeiten. Andere, wie die
Ukrainer oder Litauer, verweigern sich bis heute dieser Aufgabe,
oder sie stehen wie Rumänien, Ungarn und Polen noch
am Anfang.
Seit dem Ende des Krieges sahen die von Hitlers Wehrmacht Überfallenen
sich und ihre vielfach verwüsteten Länder - zu
Recht - als Opfer. Dass dennoch Landsleute den deutschen
Tätern zur Hand gingen, passt einfach nicht in dieses
bequeme Bild.
Die Letten haben, nach den Recherchen des amerikanischen
Holocaust-Historikers Raul Hilberg, pro Kopf der Bevölkerung
die meisten Täter aufzuweisen. Von den niederländischen
Juden überlebten gerade einmal 9 Prozent. Stellt der
Holocaust also nicht nur den Tiefpunkt der deutschen, "sondern
eben auch der europäischen Geschichte" dar, wie
es Historiker Aly formuliert?
Siebeneinhalb Gulden Prämie für jeden Juden
Die Deutschen brauchten schon einheimische Helfer, um die
Juden überhaupt zu identifizieren. Thomas Blatt, ein Überlebender
von Sobibor, der als Nebenkläger in einem möglichen
Prozess gegen Demjanjuk auftreten will, war damals ein blonder
Junge. Er trug in seiner polnischen Heimatstadt Izbica keinen
gelben Stern, aber wurde mehrfach verraten. Solche Denunziationen
kamen in Polen so häufig vor, dass sich für bezahlte
Tippgeber ein besonderer Begriff einbürgerte: "Szmalcowniki",
ursprünglich eine Bezeichnung für Hehler.
In den Niederlanden zahlte die "Hausraterfassungsstelle",
die dem "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" zugeordnet
war, für jeden identifizierten Juden 7,50 Gulden - das
wären heute um die 40 Euro. Denunzianten sorgten dafür,
dass allein in den Monaten März bis Juni des Jahres
1943 über 6800 Juden aufgespürt und zumeist deportiert
wurden.
Auch die Regierungen der mit Nazi-Deutschland verbündeten
Länder - wie Rumänien, Bulgarien und Ungarn - gingen
zur Hand; am willigsten zeigten sich die der Slowaken und
Kroaten, denen Hitler einen Staat geschenkt hatte. Die kroatischen
Ustascha-Faschisten errichteten eigene Konzentrationslager,
in denen Juden, so der Historiker Hilberg, "durch Typhus,
Hunger, Erschießen, Folterung, Ertränken, Erstechen
und Hammerschläge auf den Kopf" ums Leben kamen.
Training an lebenden Objekt
Als die SS an die Ermordung der polnischen Juden ging, rekrutierte
sie bevorzugt unter Ukrainern und Volksdeutschen in Kriegsgefangenenlagern.
Dort standen Rotarmisten wie Iwan Demjanjuk vor der Wahl,
für die Deutschen zu töten oder selbst zu verhungern.
Später stießen in zunehmendem Maße auch
Freiwillige aus der Westukraine und aus Galizien zu diesen "Hilfswilligen".
Die Männer kamen nach Trawniki im Distrikt Lublin,
wo SS-Männer sie auf dem Gelände einer ehemaligen
Zuckerfabrik für ihren Todesjob trainierten. Mitte 1943
waren in Trawniki 3700 Mann stationiert, später 5000;
sie trugen schwarze oder braune Uniformen. Die SS-Männer
zeigten ihren Lehrlingen, wie man Razzien durchführt
und Häftlinge traktiert - vorzugsweise am lebenden Objekt.
Die Truppe fuhr in eine der Kleinstädte der Umgebung,
prügelte Juden aus den Häusern und erschoss sie
im Wald. Die deutschen Chefs setzten die Trawniki bei der
Räumung von Ghettos ein und schließlich in den
Vernichtungslagern; rund um die Uhr, in Acht-Stunden-Schichten.
Der Prozess gegen Demjanjuk wird der letzte große
NS-Prozess auf deutschem Boden sein. In den nächsten
Tagen werden Mediziner klären, ob - und wie lange am
Tag - gegen Hitlers wohl letzten noch lebenden Schergen aus
Sobibor verhandelt werden könnte.
Diejenigen, die in den Lagern unter Trawnikis wie Demjanjuk
litten, empfinden keine Rachegefühle. Es reiche ihm,
sagt der amerikanische Psychoanalytiker Jack Terry, wenn
Demjanjuk "auch nur für einen Tag in einer Zelle
hocken müsste". Terry saß als ganz junger
Bursche im KZ Flossenbürg, als Demjanjuk dort Wache
schob. Ihm sei es "egal, ob er ins Gefängnis muss
oder nicht, der Prozess ist mir wichtig", sagt der Sobibor-Überlebende
Thomas Blatt: "Ich will die Wahrheit." Demjanjuk,
der bislang alles geleugnet hat, könnte als einer der
letzten Täter Auskunft geben - und so Einblicke gewähren
in die Hölle der Holocaust-Helfer.
einestages.spiegel.de
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