In München
wird der wahrscheinlich letzte große Prozess gegen
einen NS-Verbrecher stattfinden. Mit Ernst Cramer sprach
Richard Herzinger über den Fall Demjanjuk und die Aufarbeitung
der NS-Vergangenheit.
Berliner Morgenpost:
Herr Professor Cramer, John Demjanjuk wird vielleicht der
letzte lebende NS-Täter sein, dessen Verbrechen vor
einem deutschen Gericht verhandelt wird. Wie beurteilen
Sie diesen Fall?
Ernst Cramer:
Der letzte deutsche Prozess sollte gegen einen Deutschen
gehen und nicht gegen einen Ausländer, auch wenn er
möglicherweise genauso schuldig ist. Ich weiß,
dass damals auch Leute aus Polen, der Ukraine und anderen
Ländern, die von den Deutschen besetzt worden sind,
an der Ermordung und Misshandlung von Juden mitgewirkt haben.
Aber ausgegangen ist dies alles schrecklicherweise nun einmal
von Deutschland.
Die deutsche Justiz kann aber doch nicht hinnehmen, dass
er möglicherweise straffrei ausgeht?
Sicher, wenn Demjanjuk schuldig ist, muss er verurteilt werden.
Und die Amerikaner sind zwar entsetzt darüber, dass
sich Leute wie er in ihr Land geflüchtet haben, sie
selbst können ihn aber nicht vor Gericht stellen. Dennoch,
wenn es sich beim letzten großen NS-Prozess in Deutschland
um einen Ukrainer handelt, könnten sich hierzulande
viele zurücklehnen und sagen: Ach wie schön, das
waren ja gar nicht wir Deutschen, das waren die Ukrainer.
Hinzu kommt, dass Demjanjuk 89 Jahre alt ist und sich als
Opfer einer gnadenlosen Justiz hinstellen wird ...
Ja, aber wenn der Mann tatsächlich nicht mehr fähig
ist, entweder eine Verhandlung durchzustehen oder ihr geistig
zu folgen, dann verlangt es nun einmal das Recht, dass man
sagt: Dieser Prozess kann nicht mehr geführt werden.
Wie beurteilen Sie im Rückblick die Bilanz der juristischen
Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die Justiz?
Die Zahl derer, die verurteilt wurden, ist mit rund 6500
ungeheuer gering. Schon alleine im KZ Buchenwald, in dem
ich selbst eingesperrt war und wo Menschen umgebracht wurden,
gab es Hunderte von Aufsehern, SS und Kapos. Da sind rund
6500, die überhaupt je zur Rechenschaft gezogen wurden,
doch eine unerhört niedrige Zahl.
Wobei ja auch nur etwa 1200 wegen Mordes oder Totschlags
verurteilt wurden. Und es gab seit 1945 über 106 000
Ermittlungsverfahren gegen NS-Täter, von denen über
90 Prozent eingestellt wurden. Woran lag es Ihrer Ansicht
nach, dass es nicht zu mehr Verurteilungen kam?
Ich bin kein Jurist. Aber es gilt der alte Rechtsgrundsatz "in
dubio pro reo". Wenn ich keinen hundertprozentigen Beweis
habe, bekomme ich die Anklage nicht durch. Man darf aber
auch die Rolle der Verteidigung nicht vergessen. Die Verteidiger
in den Kriegsverbrecherprozessen, etwa in Nürnberg,
haben - mit Ausnahmen, natürlich - offen mit den Leuten
sympathisiert, die sie vertraten ...
... wie es ja zum Beispiel in dem großartigen Spielfilm "Das
Urteil von Nürnberg" gezeigt wird. Waren Sie denn
persönlich bei den Nürnberger Prozessen anwesend?
Nur einmal, als Zuschauer. Ich arbeitete damals für
die amerikanische Militärregierung und hatte dadurch
die Möglichkeit zuzusehen. Ich war froh, dass die Alliierten
diesen Prozess führten. Ein guter Freund, ein Jurist,
war der Ansicht, es wäre besser gewesen, wenn das Nürnberger
Gericht deutsche Richter gehabt hätte. Ich mache mir
das nicht zu eigen. Denn die deutschen Richter waren - wieder
mit Ausnahmen - damals nicht objektiv. Konnte man denn im
Jahr 1946 überhaupt objektiv sein? Die ganzen Gräuel
der Nazi-Zeit wurden erst mit Kriegsende bekannt. Die Prozesse
in Nürnberg begannen bereits Ende 1945. Das war noch
zu nahe daran. Die heutige Abgeklärtheit konnte man
damals noch nicht aufbringen.
Da haben Sie alle diese Top-Nazis gesehen - Göring,
Hess, Keitel. Wie war Ihr Eindruck?
Na ja, sagen wir, sie sahen keinesfalls wie die Führer
der Menschheit aus.
So ist das wohl immer mit den selbst ernannten Führern
der Menschheit, hinterher. War aber denn die Stimmung im
Deutschland der späten 40er- und der 50er-Jahre, als
sich niemand der Vergangenheit stellen wollte, für Sie
nicht bedrückend?
Es ist kein Zufall, dass ich in den ersten Nachkriegsjahren überhaupt
nicht an die Möglichkeit gedacht habe, hier jemals wieder
sesshaft zu werden. Als ich 1939 aus Deutschland fortgehen
musste, war die Umgebung voll von Nazis. Nicht alle, aber
das Gros der Bevölkerung hat mitgemacht, vor allem die
Kirchen.
Inwiefern vor allem die Kirchen?
Ich möchte das präzisieren: Ich habe damals als
junger Mann, als verfolgter Jude in den 30er-Jahren, eigentlich
erwartet, dass die christlichen Kirchen gegen die Nazis aufstehen.
Natürlich hat es einzelne großartige Kirchenleute
gegeben, ich möchte nur den Namen Bonhoeffer nennen.
Aber insgesamt war von der christlichen Liebe und Menschenfreundlichkeit,
die der deutsche Papst heute mit Recht einfordert, damals
nichts zu spüren. Als ich aber mit der US-Armee 1944/45
zurückgekommen bin, da hat es plötzlich keine Nazis
mehr gegeben. Einige, die ich darauf angesprochen habe, haben
sich um Antworten gedrückt. Vielleicht ist das sogar
menschlich verständlich.
Sie konnten somit gar nicht allzu niedergedrückt sein über
die fehlende Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen,
weil Sie es von vorneherein nicht anders erwartet hatten?
Ich habe befürchtet, dass dies negativ ausgeht. Deshalb
war ich auch nicht wie mein Freund für eine deutsche
Gerichtsbarkeit, weil ich befürchtet hätte, dass
dann sogar die Hauptkriegsverbrecher frei davonkommen würden.
Ich bin allerdings ein Gegner der Todesstrafe, und man kann
nur für oder gegen sie sein. Ein Mittelding gibt es
da nicht. Ich hätte die Angeklagten in Nürnberg
deshalb zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt,
nicht aber, wie in einigen Fällen geschehen, zum Tode.
Ende der 50er-Jahre kam ja die juristische Verfolgung der
NS-Massenmorde doch noch in Gang. Der erste große Prozess
war der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958. Haben Sie diesen
Prozess, haben Sie spätere Prozesse mit eigenen Augen
verfolgt?
Nein, ich war nie an Ort und Stelle. Vielleicht aus Feigheit,
ich wollte mir aber auch nicht das Gewimmer der Angeklagten
anhören, die nicht zu ihrer Schuld stehen konnten. Ich
wollte mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Ich habe das
aber natürlich in den Medien verfolgt und fand es gut,
dass es diese Prozesse gab.
Wann hat sich nach Ihrem Gefühl die Atmosphäre
des "Beschweigens" der NS-Vergangenheit verändert?
Eigentlich erst in der dritten Generation. Die Kinder und
die Schüler der Nazis haben noch geschwiegen, aus Rücksicht
auf ihre Eltern und Lehrer. Erst für die dritte und
vierte Generation war das alles weit genug weg. Und je weiter
man weg ist, umso mehr werden die Tatsachen zu einer aufzuarbeitenden
Geschichte und umso weniger zu einer persönlichen.
Ist es eine Art Naturgesetz, dass mindestens 20 Jahre vergehen
müssen, bis der Abstand für eine Gesellschaft groß genug
ist, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen?
Ich fürchte, ja. Ähnliches wiederholt sich ja jetzt
in Bezug auf die DDR-Diktatur.
Wie wichtig waren die Auschwitz-Prozesse in den 60er-Jahren
für den Bewusstseinswandel in der deutschen Gesellschaft?
Ich fand es sehr bedeutsam, dass es diese Prozesse gab. Allerdings,
und vielleicht bin ich ungerecht, war ich immer unzufrieden
damit, dass zu wenige angeklagt und zu viele freigesprochen
wurden. Aber das hängt sicher mit meiner Biografie zusammen.
Ich glaube insgesamt, dass es zum Wiedererwachen eines deutschen
Selbstgefühls gehörte, diese Prozesse zu führen.
Man kann keine geachtete Nation werden, wenn man nichts Achtbares
tut.
Wie standen Sie denn zu den sogenannten 68ern, die die Auseinandersetzung
mit der NS-Vergangenheit ja sehr lautstark eingefordert haben?
Ich habe sie eigentlich nie geschätzt, weil ich es für
falsch hielt, wie sie immerzu sagten: Ihr seid schuld, ihr
seid schuld. Die 68er wollten diesen im Werden begriffenen
Staat kaputt machen. Sie haben sich gar nicht wirklich mit
den Nazis auseinandergesetzt. Ihnen ging es darum, Leute
wie Adenauer, Erhard und andere aktive Politiker mit der
NS-Vergangenheit in Verbindung zu bringen und damit zu diskreditieren.
Ausnahmen gab es natürlich auch hier.
Es brauchte aber doch Provokateure wie Beate Klarsfeld, um
die deutsche Justiz überhaupt zum Vorgehen gegen Nazi-Täter
zu drängen. Klarsfeld spürte zum Beispiel Anfang
der 70er-Jahre den SS-Obersturmbannführer Kurt Lischka
auf, der unbehelligt in Köln lebte ...
... und sie hat 1968 den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg
Kiesinger öffentlich geohrfeigt.
Ja. Klarsfeld und ihr Mann wollten Lischka sogar nach Frankreich
entführen, wo er 1950 in Abwesenheit zu lebenslanger
Zwangsarbeit verurteilt worden war. Das schlug fehl, aber
Lischka wurde 1979 schließlich doch noch vor ein deutsches
Gericht gestellt und verurteilt.
Die Methoden von Beate Klarsfeld fand ich nicht immer richtig.
Dass es aber jüdische Menschen gab, zum Beispiel in
Frankreich, oder jemanden wie Simon Wiesenthal - Leute, die überlebt
haben und sagten: Ich kann nicht einfach so weitermachen,
ich nutze den Rest meines Lebens, um die Täter aufzuspüren,
die sich versteckt haben -, das ist sehr verständlich.
Ihnen haben wir zu verdanken, dass manche der deutschen Demjanjuks
gefunden wurden.
Gab es aber in der deutschen Gesellschaft nicht viel zu wenige
solcher Aufklärer? Auch die 68er haben sich ja lieber
um die sozialistische Revolution gekümmert ...
Ja, in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg und den ersten
Jahrzehnten nach dem Krieg gab es meiner Meinung nach viel
zu wenige. Wobei ich dafür auch Verständnis aufbringe.
Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte,
wenn ich kein Jude gewesen wäre. Nehmen wir einmal an,
ich hätte die Nazi-Zeit einigermaßen anständig überstanden,
ohne selbst Nazi geworden zu sein. Dann hätte ich möglicherweise
nach dem Krieg auch mehr Verständnis für die Nazis
gehabt, als ich es als ehemaliger Verfolgter haben konnte.
Man muss da sehr vorsichtig sein. Ich habe den jungen Leuten
damals immer gesagt: Ihr habt nicht das Recht, zu beurteilen,
wie es etwa im Jahr1937 war, das kann man im Jahr 1968 nicht
mehr rekonstruieren, wenn man nicht dabei gewesen ist.
Die westdeutschen Gerichte mussten aber doch auch über
die Täter von damals urteilen, selbst wenn die Richter
nicht selbst dabei gewesen waren?
Diejenigen, die es noch selbst erlebt haben, die wussten
Bescheid, haben aber geschwiegen. Das war ja ein Beweggrund
für die 68er-Generation, so laut zu werden, weil die
Vorläufergeneration den Mund gehalten hat. Aber sie
selbst konnte es nicht mehr beurteilen. Im Übrigen:
Wahrscheinlich ist die geringe Zahl der Verurteilungen auch
genau darauf zurückzuführen, dass es, je weiter
man weg ist, gerade für Juristen immer schwieriger wird,
sich in die Zeit zu versetzen.
Es gibt also eine gewisse Tragik: Einerseits muss Zeit vergehen,
bis eine Gesellschaft sich ihrer Schuld stellen kann. Andererseits
ist es dann in gewisser Weise schon zu spät?
Cramer:
Ja, und gerade deshalb mussten das in der Nachkriegszeit
Außenstehende, also die Alliierten, in die Hand nehmen.
Daher waren die Nürnberger Prozesse im Prinzip richtig.
Vor deutschen Gerichten hätte es damals entweder Freisprüche
gegeben oder Rache.
Haben Sie es je als etwas spezifisch Deutsches angesehen,
wie man sich um die Schuld gedrückt hat?
Cramer:
Nein, nein, das ist allgemein menschlich. Aber der Holocaust
war leider eine deutsche Idee. Eben darum ist es unglücklich,
dass der vielleicht letzte NS-Prozess gegen einen Ukrainer
geführt wird.
morgenpost.de
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