Freitag, 22. Mai 2009 03:26 morgenpost.de
Zu wenig Anklagen, zu viele Freisprüche

In München wird der wahrscheinlich letzte große Prozess gegen einen NS-Verbrecher stattfinden. Mit Ernst Cramer sprach Richard Herzinger über den Fall Demjanjuk und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.

Berliner Morgenpost:
Herr Professor Cramer, John Demjanjuk wird vielleicht der letzte lebende NS-Täter sein, dessen Verbrechen vor einem deutschen Gericht verhandelt wird. Wie beurteilen Sie diesen Fall?
Ernst Cramer:
Der letzte deutsche Prozess sollte gegen einen Deutschen gehen und nicht gegen einen Ausländer, auch wenn er möglicherweise genauso schuldig ist. Ich weiß, dass damals auch Leute aus Polen, der Ukraine und anderen Ländern, die von den Deutschen besetzt worden sind, an der Ermordung und Misshandlung von Juden mitgewirkt haben. Aber ausgegangen ist dies alles schrecklicherweise nun einmal von Deutschland.
Die deutsche Justiz kann aber doch nicht hinnehmen, dass er möglicherweise straffrei ausgeht?
Sicher, wenn Demjanjuk schuldig ist, muss er verurteilt werden. Und die Amerikaner sind zwar entsetzt darüber, dass sich Leute wie er in ihr Land geflüchtet haben, sie selbst können ihn aber nicht vor Gericht stellen. Dennoch, wenn es sich beim letzten großen NS-Prozess in Deutschland um einen Ukrainer handelt, könnten sich hierzulande viele zurücklehnen und sagen: Ach wie schön, das waren ja gar nicht wir Deutschen, das waren die Ukrainer.
Hinzu kommt, dass Demjanjuk 89 Jahre alt ist und sich als Opfer einer gnadenlosen Justiz hinstellen wird ...
Ja, aber wenn der Mann tatsächlich nicht mehr fähig ist, entweder eine Verhandlung durchzustehen oder ihr geistig zu folgen, dann verlangt es nun einmal das Recht, dass man sagt: Dieser Prozess kann nicht mehr geführt werden.
Wie beurteilen Sie im Rückblick die Bilanz der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die Justiz?
Die Zahl derer, die verurteilt wurden, ist mit rund 6500 ungeheuer gering. Schon alleine im KZ Buchenwald, in dem ich selbst eingesperrt war und wo Menschen umgebracht wurden, gab es Hunderte von Aufsehern, SS und Kapos. Da sind rund 6500, die überhaupt je zur Rechenschaft gezogen wurden, doch eine unerhört niedrige Zahl.
Wobei ja auch nur etwa 1200 wegen Mordes oder Totschlags verurteilt wurden. Und es gab seit 1945 über 106 000 Ermittlungsverfahren gegen NS-Täter, von denen über 90 Prozent eingestellt wurden. Woran lag es Ihrer Ansicht nach, dass es nicht zu mehr Verurteilungen kam?
Ich bin kein Jurist. Aber es gilt der alte Rechtsgrundsatz "in dubio pro reo". Wenn ich keinen hundertprozentigen Beweis habe, bekomme ich die Anklage nicht durch. Man darf aber auch die Rolle der Verteidigung nicht vergessen. Die Verteidiger in den Kriegsverbrecherprozessen, etwa in Nürnberg, haben - mit Ausnahmen, natürlich - offen mit den Leuten sympathisiert, die sie vertraten ...
... wie es ja zum Beispiel in dem großartigen Spielfilm "Das Urteil von Nürnberg" gezeigt wird. Waren Sie denn persönlich bei den Nürnberger Prozessen anwesend?
Nur einmal, als Zuschauer. Ich arbeitete damals für die amerikanische Militärregierung und hatte dadurch die Möglichkeit zuzusehen. Ich war froh, dass die Alliierten diesen Prozess führten. Ein guter Freund, ein Jurist, war der Ansicht, es wäre besser gewesen, wenn das Nürnberger Gericht deutsche Richter gehabt hätte. Ich mache mir das nicht zu eigen. Denn die deutschen Richter waren - wieder mit Ausnahmen - damals nicht objektiv. Konnte man denn im Jahr 1946 überhaupt objektiv sein? Die ganzen Gräuel der Nazi-Zeit wurden erst mit Kriegsende bekannt. Die Prozesse in Nürnberg begannen bereits Ende 1945. Das war noch zu nahe daran. Die heutige Abgeklärtheit konnte man damals noch nicht aufbringen.
Da haben Sie alle diese Top-Nazis gesehen - Göring, Hess, Keitel. Wie war Ihr Eindruck?
Na ja, sagen wir, sie sahen keinesfalls wie die Führer der Menschheit aus.
So ist das wohl immer mit den selbst ernannten Führern der Menschheit, hinterher. War aber denn die Stimmung im Deutschland der späten 40er- und der 50er-Jahre, als sich niemand der Vergangenheit stellen wollte, für Sie nicht bedrückend?
Es ist kein Zufall, dass ich in den ersten Nachkriegsjahren überhaupt nicht an die Möglichkeit gedacht habe, hier jemals wieder sesshaft zu werden. Als ich 1939 aus Deutschland fortgehen musste, war die Umgebung voll von Nazis. Nicht alle, aber das Gros der Bevölkerung hat mitgemacht, vor allem die Kirchen.
Inwiefern vor allem die Kirchen?
Ich möchte das präzisieren: Ich habe damals als junger Mann, als verfolgter Jude in den 30er-Jahren, eigentlich erwartet, dass die christlichen Kirchen gegen die Nazis aufstehen. Natürlich hat es einzelne großartige Kirchenleute gegeben, ich möchte nur den Namen Bonhoeffer nennen. Aber insgesamt war von der christlichen Liebe und Menschenfreundlichkeit, die der deutsche Papst heute mit Recht einfordert, damals nichts zu spüren. Als ich aber mit der US-Armee 1944/45 zurückgekommen bin, da hat es plötzlich keine Nazis mehr gegeben. Einige, die ich darauf angesprochen habe, haben sich um Antworten gedrückt. Vielleicht ist das sogar menschlich verständlich.
Sie konnten somit gar nicht allzu niedergedrückt sein über die fehlende Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen, weil Sie es von vorneherein nicht anders erwartet hatten?
Ich habe befürchtet, dass dies negativ ausgeht. Deshalb war ich auch nicht wie mein Freund für eine deutsche Gerichtsbarkeit, weil ich befürchtet hätte, dass dann sogar die Hauptkriegsverbrecher frei davonkommen würden. Ich bin allerdings ein Gegner der Todesstrafe, und man kann nur für oder gegen sie sein. Ein Mittelding gibt es da nicht. Ich hätte die Angeklagten in Nürnberg deshalb zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt, nicht aber, wie in einigen Fällen geschehen, zum Tode.
Ende der 50er-Jahre kam ja die juristische Verfolgung der NS-Massenmorde doch noch in Gang. Der erste große Prozess war der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958. Haben Sie diesen Prozess, haben Sie spätere Prozesse mit eigenen Augen verfolgt?
Nein, ich war nie an Ort und Stelle. Vielleicht aus Feigheit, ich wollte mir aber auch nicht das Gewimmer der Angeklagten anhören, die nicht zu ihrer Schuld stehen konnten. Ich wollte mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Ich habe das aber natürlich in den Medien verfolgt und fand es gut, dass es diese Prozesse gab.
Wann hat sich nach Ihrem Gefühl die Atmosphäre des "Beschweigens" der NS-Vergangenheit verändert?
Eigentlich erst in der dritten Generation. Die Kinder und die Schüler der Nazis haben noch geschwiegen, aus Rücksicht auf ihre Eltern und Lehrer. Erst für die dritte und vierte Generation war das alles weit genug weg. Und je weiter man weg ist, umso mehr werden die Tatsachen zu einer aufzuarbeitenden Geschichte und umso weniger zu einer persönlichen.
Ist es eine Art Naturgesetz, dass mindestens 20 Jahre vergehen müssen, bis der Abstand für eine Gesellschaft groß genug ist, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen?
Ich fürchte, ja. Ähnliches wiederholt sich ja jetzt in Bezug auf die DDR-Diktatur.
Wie wichtig waren die Auschwitz-Prozesse in den 60er-Jahren für den Bewusstseinswandel in der deutschen Gesellschaft?
Ich fand es sehr bedeutsam, dass es diese Prozesse gab. Allerdings, und vielleicht bin ich ungerecht, war ich immer unzufrieden damit, dass zu wenige angeklagt und zu viele freigesprochen wurden. Aber das hängt sicher mit meiner Biografie zusammen. Ich glaube insgesamt, dass es zum Wiedererwachen eines deutschen Selbstgefühls gehörte, diese Prozesse zu führen. Man kann keine geachtete Nation werden, wenn man nichts Achtbares tut.
Wie standen Sie denn zu den sogenannten 68ern, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ja sehr lautstark eingefordert haben?
Ich habe sie eigentlich nie geschätzt, weil ich es für falsch hielt, wie sie immerzu sagten: Ihr seid schuld, ihr seid schuld. Die 68er wollten diesen im Werden begriffenen Staat kaputt machen. Sie haben sich gar nicht wirklich mit den Nazis auseinandergesetzt. Ihnen ging es darum, Leute wie Adenauer, Erhard und andere aktive Politiker mit der NS-Vergangenheit in Verbindung zu bringen und damit zu diskreditieren. Ausnahmen gab es natürlich auch hier.
Es brauchte aber doch Provokateure wie Beate Klarsfeld, um die deutsche Justiz überhaupt zum Vorgehen gegen Nazi-Täter zu drängen. Klarsfeld spürte zum Beispiel Anfang der 70er-Jahre den SS-Obersturmbannführer Kurt Lischka auf, der unbehelligt in Köln lebte ...
... und sie hat 1968 den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger öffentlich geohrfeigt.
Ja. Klarsfeld und ihr Mann wollten Lischka sogar nach Frankreich entführen, wo er 1950 in Abwesenheit zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden war. Das schlug fehl, aber Lischka wurde 1979 schließlich doch noch vor ein deutsches Gericht gestellt und verurteilt.
Die Methoden von Beate Klarsfeld fand ich nicht immer richtig. Dass es aber jüdische Menschen gab, zum Beispiel in Frankreich, oder jemanden wie Simon Wiesenthal - Leute, die überlebt haben und sagten: Ich kann nicht einfach so weitermachen, ich nutze den Rest meines Lebens, um die Täter aufzuspüren, die sich versteckt haben -, das ist sehr verständlich. Ihnen haben wir zu verdanken, dass manche der deutschen Demjanjuks gefunden wurden.
Gab es aber in der deutschen Gesellschaft nicht viel zu wenige solcher Aufklärer? Auch die 68er haben sich ja lieber um die sozialistische Revolution gekümmert ...
Ja, in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg und den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg gab es meiner Meinung nach viel zu wenige. Wobei ich dafür auch Verständnis aufbringe. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich kein Jude gewesen wäre. Nehmen wir einmal an, ich hätte die Nazi-Zeit einigermaßen anständig überstanden, ohne selbst Nazi geworden zu sein. Dann hätte ich möglicherweise nach dem Krieg auch mehr Verständnis für die Nazis gehabt, als ich es als ehemaliger Verfolgter haben konnte. Man muss da sehr vorsichtig sein. Ich habe den jungen Leuten damals immer gesagt: Ihr habt nicht das Recht, zu beurteilen, wie es etwa im Jahr1937 war, das kann man im Jahr 1968 nicht mehr rekonstruieren, wenn man nicht dabei gewesen ist.
Die westdeutschen Gerichte mussten aber doch auch über die Täter von damals urteilen, selbst wenn die Richter nicht selbst dabei gewesen waren?
Diejenigen, die es noch selbst erlebt haben, die wussten Bescheid, haben aber geschwiegen. Das war ja ein Beweggrund für die 68er-Generation, so laut zu werden, weil die Vorläufergeneration den Mund gehalten hat. Aber sie selbst konnte es nicht mehr beurteilen. Im Übrigen: Wahrscheinlich ist die geringe Zahl der Verurteilungen auch genau darauf zurückzuführen, dass es, je weiter man weg ist, gerade für Juristen immer schwieriger wird, sich in die Zeit zu versetzen.
Es gibt also eine gewisse Tragik: Einerseits muss Zeit vergehen, bis eine Gesellschaft sich ihrer Schuld stellen kann. Andererseits ist es dann in gewisser Weise schon zu spät?
Cramer:
Ja, und gerade deshalb mussten das in der Nachkriegszeit Außenstehende, also die Alliierten, in die Hand nehmen. Daher waren die Nürnberger Prozesse im Prinzip richtig. Vor deutschen Gerichten hätte es damals entweder Freisprüche gegeben oder Rache.
Haben Sie es je als etwas spezifisch Deutsches angesehen, wie man sich um die Schuld gedrückt hat?
Cramer:
Nein, nein, das ist allgemein menschlich. Aber der Holocaust war leider eine deutsche Idee. Eben darum ist es unglücklich, dass der vielleicht letzte NS-Prozess gegen einen Ukrainer geführt wird.

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