23. Mai 2009, 04:12 Uhr welt.de
Ein neuer Anfall von Geschichtshysterie
Von Gerhard Gnauck

Der "Spiegel"-Titel über Hitlers Helfer in Europa versetzt polnische Medien in Aufregung. Aber es gibt auch mäßigende Stimmen

Die Schlagzeilen sprechen wieder einmal eine klare Sprache. "Die Deutschen wollen sich reinwaschen", alarmiert die polnische Boulevardzeitung "Fakt". Die Zeitungen "Dziennik" und "Rzeczpospolita" schreiben in ähnlichem Ton. Der konservative Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski sekundiert, in Europa machten sich nur wenige eine Vorstellung, welch "unglaublichen Bandenterror" die deutschen Invasoren nach 1939 entfaltet hätten. Da wolle jemand den Europäern weismachen, die Besatzungsherrschaft in Polen sei vergleichsweise zivilisiert gewesen - "so wie in Dänemark".

Anlass für die neuste Historienhysterie ist der "Spiegel" von dieser Woche. Das Magazin hatte noch einmal zusammengetragen, was immer wieder in Büchern und oft genug auch in Zeitungen zu lesen war: dass französische Bürgermeister, rumänische und italienische Soldaten, ukrainische ebenso wie lettische Gendarmen und polnische Bauern mitgemacht haben "bei dem Verbrechen schlechthin, dem Holocaust". Seit es in Polen - schon vor der Kaczynski-Zeit - Teil der Staatsräson geworden ist, ausländischen Medien beim Gebrauch fahrlässiger Formulierungen (etwa "Polish death camps" oder "polnische

Konzentrationslager") Protestschreiben ins Haus zu schicken, führen Verdachtsmomente dieser Art regelmäßig zu scharfen Reaktionen. Diesmal meldete sich auch der frühere israelische Diplomat und Knesset-Vorsitzende Schewach Weiss in der polnischen Presse zu Wort. Weiss, der mit seinen Eltern den Holocaust in Verstecken bei Polen überlebte und der an der Weichsel große Beliebtheit genießt, warnte, in Deutschland lebten die unterirdischen "Quellen des Bösen" fort. In Zeiten von Krise und Arbeitslosigkeit "kann aus diesen Quellen ein neuer deutscher Nationalismus erwachsen".

Doch schon die erste Reaktion des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski war um Mäßigung bemüht: "Die Presse in Deutschland ist frei, ebenso wie in Polen." Das Außenministerium sieht trotz entsprechender Aufforderungen aus der Kaczynski-Partei keinen Handlungsbedarf. Sikorski gab die Aufgabe elegant an das "Institut des Nationalen Gedenkens" weiter, das die polnischen Stasi-Akten verwaltet, dessen Aufgabenbereich jedoch zurückreicht bis ins Jahr 1939 und auch Bildungsarbeit umfasst. Das Institut beeilte sich mitzuteilen, man werde dem "Spiegel" ein jüngst zur medialen Verwendung geschnürtes Päckchen mit Bildungsgut schicken: über jene Polen, die im Krieg Juden gerettet haben. Soweit das Erwartbare. Doch diesmal war da noch mehr: Die Fraktion der Nachdenklichen war nicht zu übersehen. Adam Rotfeld, Polens früherer Außenminister, der sein Überleben im Holocaust ukrainischen Mönchen in Galizien verdankt, schrieb sachlich: "Die Deutschen berühren jetzt Themen, die früher zu berühren sie nicht den Mut hatten." 60 Jahre nach Kriegsende lebe in Deutschland nun einmal "eine ganz neue Generation, die eine ganz neue Erinnerung an den Krieg hat". In der Tat habe in vielen Völkern "das immanente Böse" geschlummert; der deutsche Nazismus habe es zum Ausbruch kommen lassen. Den "Spiegel" nahm Rotfeld in Schutz.

Auch die liberale "Gazeta Wyborcza" mahnte von Anfang an zur Besonnenheit. Die oft vorgebrachte Behauptung, die Deutschen wollten "ihre Geschichte relativieren", entspringe einer "ziemlich paranoiden Vision". Die Titelseite der deutschen Publikation ("Hitlers europäische Helfer beim Judenmord") sei zwar ein "widerlicher Marketing-Gag", aber mehr auch nicht. Wundern könne man sich lediglich über die Aussage der deutschen Autoren, Polen sei bei der Aufarbeitung dunkler Flecken in seiner Vergangenheit ganz am Anfang.

Inzwischen hat die polnische Holocaust-Forschung, ebenso wie die Untersuchung des landeseigenen Antisemitismus, aber auch des Phänomens der Rettung von Juden, zu dieser Aufarbeitung wichtige Beiträge geliefert. Einer der Beitragenden ist der schwedische Historiker Gunnar Paulsson, der in Polen kürzlich ein Buch über diese Rettungsaktionen und ihren Kontext veröffentlicht hat. Er schätzt, allein in Warschau hätten sich bis zu 60 000 Polen wissentlich an der Rettung von Juden beteiligt - eine unter Lebensgefahr geleistete Arbeit, deren Früchte jedoch durch die "Gegenseite", durch einige tausend Verräter in der Stadt, die so genannten "Schmalzowniks", oft genug zunichte gemacht wurden.

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