Zu spät,
aber doch auffallend: Seit dem Beginn des Demjanjuk-Prozesses
in München ist in die Strafverfolgung von NS-Tätern
in Deutschland noch etwas Bewegung gekommen. Der oberste
Nazijäger des Simon-Wiesenthal-Zentrums, der die deutsche
Entwicklung von Israel aus beobachtet, lobt nun erstmals
die deutsche Justiz. Zugleich stellt er die Frage nach politischen
Absichten.
Ein unscheinbares Büro nahe der Altstadt von Jerusalem,
grauer Teppich und braune Kaffeetassen: Seit 24 Jahren leitet
der Historiker Efraim Zuroff von hier aus die weltweiten
Bemühungen des Simon-Wiesenthal-Zentrums, bislang unbehelligte
NS-Verbrecher vor Gericht zu bringen, zuletzt unter dem Motto »Operation
Last Chance«. Zu den späten Überraschungen
zählt es, dass die Arbeit der Nazijäger im Jahr
2010 keineswegs abflaut, sondern gerade zum Ende hin noch
einmal beträchtlich in Bewegung geraten ist. Gegen vier
der zehn meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher auf der Liste
des Zentrums wurden gerichtliche Maßnahmen gerade im
vergangenen halben Jahr eingeleitet. Gegen zwei davon in
Deutschland: Der mutmaßliche SS-Auftragsmörder
Heinrich Boere steht derzeit in Aachen vor Gericht, der mutmaßliche
KZ-Aufseher John Demjanjuk in München. Was man in diesen
Wochen in Deutschland beobachten könne, nennt Zuroff
selbst die größte Überraschung.
Bei einem Gespräch, das vor zwei Jahren am selben Schreibtisch
stattfand, war diese Entwicklung noch nicht absehbar. Da
beklagte der Nazijäger, der vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg
als Experte bei der Fahndung nach flüchtigen NS-Tätern
geschätzt wird, einen »Zustand der Trägheit« in
der deutschen Justiz (Jungle World 45/08). Nach einem viel
diskutierten Leiturteil des Bundesgerichtshofs im Jahr 2006,
mit dem die Richter ein jahrelanges Strafverfahren gegen
den ehemaligen SS-Sturmbannführer Friedrich Engel unter
Verweis auf dessen fortgeschrittenes Alter einstellten, sah
die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Deutschland
tatsächlich bereits wie beendet aus. Die italienische
Justiz eröffnete im Jahr 2007 noch über 200 Ermittlungsverfahren
gegen mutmaßliche deutsche NS-Täter. Aber wo in
München, Stuttgart und in Nordrhein-Westfalen noch vereinzelt
Kriegsverbrecher-Akten bearbeitet worden waren, kam nun scheinbar
nichts voran.
Als die Ludwigsburger Zentrale Stelle für die Aufklärung
von NS-Verbrechen im Jahr 2008 ihr 50jähriges Bestehen
feierte, klang in mancher Festrede bereits eine leise Schlussbilanz
an. Der Leiter der Zentralen Stelle, Kurt Schrimm, bemühte
sich damals im Spiegel, Sachzwänge zu verdeutlichen
und Erwartungen zu dämpfen: »Wir können noch
aufklären. Aber rechtskräftige Verurteilungen sind
kaum mehr zu erwarten.«
Und heute? Nicht nur Boere und Demjanjuk stehen derzeit
in Deutschland vor Gericht. Zwischenzeitlich ist in einem
weiteren, neuen NS-Prozess in München ein Schuldspruch
gegen einen 91jährigen gefallen. Aus Ludwigsburg kam
zudem erst kürzlich ein 80seitiger Ermittlungsbericht über
einen weiteren mutmaßlichen KZ-Aufseher. Im Januar
durchsuchten Ermittler die Wohnung des 88jährigen in
Dortmund. Der Fall wird vielleicht demnächst dort aufgerollt
werden.
Bis es endgültig zu spät sei, um weltweit Strafverfahren
gegen noch lebende Täter zu initiieren, bleibe vielleicht
noch ein Jahr, sagt Efraim Zuroff, der diese Frage lieber
vermieden hätte. Die deutschen Ermittler sprechen unterdessen
von rund dreißig Ermittlungsverfahren, die man derzeit
wieder führe. Vermutlich werden nur die wenigsten davon
jemals das Stadium eines Gerichtsverfahrens erreichen – dennoch
lässt sich kaum abstreiten, dass sich die Situation
damit in kürzester Zeit noch einmal deutlich verändert
hat.
Noch vor zwei Jahren erhielt die deutsche Justiz im Jahresbericht
des Simon-Wiesenthal-Zentrums die Note Sechs für
mangelnden politischen Willen, was die Gemeinten als Anmaßung
zurückwiesen. Heute bezeichnet Zuroff die »erneuerten
Anstrengungen« der Bundesrepublik als eine der »erfreulichsten
Entwicklungen des vergangenen Jahres«.
Was hat sich geändert? Dass Archivfunde aus Osteuropa
und Italien Prozesse ermöglichen, wo es jahrzehntelang
an Beweisdokumenten fehlte, ist nicht neu. Die entsprechenden
Archive stehen bereits seit den neunziger Jahren offen. Neu
ist, dass die Ermittler der Ludwigsburger Zentralen Stelle
nicht mehr nur abwarten, bis ihnen Beweise für konkrete
NS-Verbrechen zugetragen werden, sondern auf eigene Initiative
die Archive aufsuchen. Diese »proaktive« Methode
wende man allerdings bereits seit mindestens fünf Jahren
an, schränkt Kurt Schrimm von der Zentralen Stelle im
Gespräch ein. Wenn sich nach Jahren der Stille nun überraschend
die Erfolge häuften, dann sei dies eben Zufall – und
nicht etwa Ausdruck eines späten Sinneswandels.
Dass ein gewisser »Zeitgeist« eine Rolle spiele,
räumt der nordrhein-westfälische Oberstaatsanwalt
Ulrich Maaß, der den Boere-Prozess verantwortet, durchaus
ein. Vieles im Strafrecht könne man schließlich
so oder so auslegen. Einer der beiden aktuellen NS-Kriegsverbrecherprozesse
in Deutschland – gegen Heinrich Boere – bildet
dafür vielleicht das beste Beispiel. Deutsche Strafverfolger
hätten hier bereits seit Jahrzehnten zugreifen können,
sahen davon jedoch ab, unter anderem mit rechtlichen Begründungen.
Von »Zeitgeist« möchte der Oberstaatsanwalt
Maaß in dieser Hinsicht ebenso wenig sprechen wie der
Ludwigsburger Chefermittler Schrimm – und doch gibt
es zumindest ein Ereignis, das in der Zwischenzeit einen
beachtlichen neuen Diskurs in Gang gebracht hat. Der Beginn
des Demjanjuk-Prozesses in München löste in internationalen
Medien ein überaus positives Echo aus. Zum Prozess-Auftakt
kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Jeder
dieser Prozesse ist ein Signal an Deutschland und die Welt:
Das Land nimmt – wie wohl kein anderes – seine
historische Verantwortung ernst.« Der Historiker Zuroff
reagiert darauf, indem er sein Gesicht verzieht. Aber er,
der sich in den vergangenen Jahren als Polit-Lobbyist um
die Einleitung von Ermittlungsverfahren bemüht hat,
findet höfliche Worte. Dass die Geschichte der strafrechtlichen
Ahndung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik jahrzehntelang
vor allem eine Geschichte teils irrwitziger Freisprüche
war, ist oft beschrieben worden, Zuroff erinnert daran in
wenigen Worten. Doch in den Vordergrund tritt nun etwas anderes.
Am ersten Tag des Prozesses gegen den aus den USA nach Deutschland
ausgelieferten gebürtigen Ukrainer Demjanjuk – der
einst in Israel vor Gericht stand – versank das Münchner
Gericht im Chaos. Hunderte Journalisten waren angereist,
auch Zuroff befand sich, etwas verloren, in der Menge. Über
den polemisch auftretenden Verteidiger Demjanjuks waren die
meisten Kommentatoren entsetzt. Aber die deutschen Staatsanwälte
sind jetzt international gefragte Leute. »Man kann
damit Punkte machen« – diese Erkenntnis greife
seither vielleicht auch in anderen deutschen Amtsstuben um
sich, mutmaßt Zuroff. Man könnte an Heinrich Boere
denken.
Auf der anderen Seite, so Zuroffs These weiter, sei der
praktische Aufwand für die deutschen Ermittler zuletzt
auf eine überschaubare Größe geschrumpft. »30
Prozent der eigenen Bevölkerung strafrechtlich zu verurteilen,
wie es manche nach dem Krieg forderten, wäre unmöglich
gewesen. Heute gibt es dieses Größenproblem nicht
mehr.« Das unterstellte Kalkül weisen Strafverfolger
in Deutschland zwar weit von sich. Dabei ist es lediglich
der implizite Vorwurf früherer Versäumnisse, der
Zuroffs Lob einen Stachel verleiht.
Allerdings passt nicht jedes Verfahren in gleicher Weise
zu Zuroffs Analyse. Eines der 30 NS-Ermittlungsverfahren,
auf welche deutsche Ermittler in diesen Tagen gern verweisen,
spielt sich in Stuttgart ab: Mittlerweile im achten Jahr
führt die dortige Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren
gegen eine große Gruppe ehemaliger SS-Männer,
die am 12.?August 1944 im toskanischen Bergdorf Sant’Anna
di Stazzema etwa 560 Menschen ermordeten. Eine Anklage wegen
Mordes haben die hochbetagten Beschuldigten kaum mehr
zu befürchten. Denn die Staatsanwaltschaft beharrt darauf,
dass sie bei dem Massaker, bei dem Kinder an Häuserwänden
erschlagen wurden, keinen hinreichenden Verdacht auf »Grausamkeit« oder »niedrige
Beweggründe« erkennen könne. Damit wären
die Taten verjährt. Die Beschuldigten sind zwar in der
Zwischenzeit, im Jahr 2005, von einem italienischen Gericht
in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die
Bundesrepublik liefert sie aber nicht aus.
Von den anfänglich 17 Ermittlungsakten sind heute noch
zehn übrig, wie es aus Stuttgart heißt. Die übrigen
sind inzwischen wegen Ablebens geschlossen worden.
jungle-world.com
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