Er ist der letzte
Nazi-Jäger. Efraim Zuroff spürt seit 28 Jahren
weltweit NS-Täter auf, um sie auf die Anklagebank zu
bringen. Ein Gespräch mit dem Jerusalemer Chef des Simon
Wiesenthal Center über die Schuld alter Männer,
die Verantwortung der Mitläufer und den Elan junger
deutscher Ermittler.
Herr Zuroff, Sie gelten als passionierter Nazi-Jäger.
Anders als manche Staatsanwälte, die neutrale Bezeichnungen
wie Ermittler von NS-Verbrechen vorziehen, haben Sie kein
Problem mit dem Begriff, oder?
Den Titel Nazi-Jäger haben mir die Leute verpasst,
ich habe nichts dagegen. Er erleichtert mir zu erklären,
was ich tue. Aber passender finde ich den Begriff Wahrheitsverfechter.
Was macht den Nazi-Jäger aus?
Erstmal muss man Detektiv sein, um einen NS-Verbrecher aufzuspüren
und Belastungsmaterial zu finden. Um seiner in einem bestimmten
Land habhaft zu werden, muss man dazu als Politiker und Lobbyist
agieren können. Wenige Staaten kooperieren von vorne
herein.
Als Sie 2002 die "Operation Letzte Chance" starteten,
wurde eine Belohnung für das Aufspüren von NS-Tätern
ausgesetzt. Manche haben das als Effekthascherei kritisiert,
auch in Deutschland.
Hätten wir nur eine einfache Pressekonferenz organisiert,
wäre kein Journalist gekommen. Ich halte Belohnungen
für ein bewährtes Mittel, Hinweise auf Kriminelle
zu bekommen. Mich wundert umgekehrt, dass es in Deutschland
niemals eine Art Simon Wiesenthal gab, einen, der sich der
Jagd auf Nazis ganz und gar verschrieben hat.
Es gab einige, wenngleich nicht so prominent wie Wiesenthal,
etwa der hessische Staatsanwalt Fritz Bauer.
Aber es gab niemals eine richtige Organisation, eine Nichtregierungsorganisation,
die sich zum Ziel gesetzt hat, NS-Kriegsverbrecher ihrer
gerechten Strafe zuzuführen.
Der israelische Historiker Tom Segev sagt, dass Demokratie
und Rechtsstaat wenig geeignet sind, Kriegsverbrecher zu überführen.
Wie weit haben Sie mit legalen Spielregeln zu kämpfen?
Sie sind nicht das eigentliche Problem. Der legale Rahmen
ist da. Woran es mangelt, ist der politische Wille. Jeder
Staat kann eine Farce aus der Justiz machen. Nehmen wir ein
westeuropäisches und ein osteuropäisches Land, Österreich
und Litauen. Nach 40 Jahren kommunistischer Herrschaft hat
ein Post-Sowjet-Staat sicher ein Problem, sich mit dem Holocaust
auseinanderzusetzen. Aber auch Österreich war 30 Jahre
lang nicht erfolgreich, NS-Kriegsverbrecher zur Verantwortung
zu ziehen.
Sie haben Österreich mal ein Paradies für Nazis
im Ruhestand genannt...
Ja, manchmal muss man die Dinge deutlich beim Namen nennen.
Die Medien haben damals gleich Schlagzeilen daraus gebastelt.
Das hat viel Druck gemacht, war im Kern aber wahr. Wenn ich
ein Kriegsverbrecher wäre und auf der Suche nach einem
Land, in dem die Wahrscheinlichkeit gering ist, vor Gericht
gestellt zu werden, würde ich nach Österreich gehen.
Litauen wäre eher ein Risiko?
Schauen Sie, Litauen geriet nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
unter enormen Druck, dort lebende NS-Verbrecher anzuklagen.
Es kam zu drei Prozessen, aber keiner der Angeklagten saß eine
Minute im Gefängnis, obwohl zwei verurteilt wurden.
Es hieß, sie müssten aus gesundheitlichen Gründen
verschont werden. Dagegen hat man ein Spezialgesetz im Parlament
eingebracht, das erlauben sollte, Genozid-Verdächtigen
den Prozess zu machen, auch wenn sie laut ärztlichen
Attesten zu befreien seien. Statt also Gerichtsverfahren
als effektives Mittel der Erziehung zu nutzen, um der litauischen Öffentlichkeit
die Rolle von Nazi-Kollaborateuren bewusst zu machen, wurde
aus der Sache eine Groteske. Bis die Leute den Eindruck gewannen,
dass es keine litauischen NS-Kriegsverbrecher gebe, und sie
lustig weiter machen könnten.
Was ist für Sie schlimmer, dass solche Angeklagte ungeschoren
davon kommen oder dass die Wahrheit auf der Strecke bleibt?
Die Hauptsorge von Simon Wiesenthal war nie, dass der eine
oder andere Täter uns durch die Lappen ginge, sondern
dass der Holocaust vergessen würde. Keine Gefahr, die
heute besteht, aber in vielleicht hundert Jahren.
Es gibt wachsende Bereitschaft, sich mit dem Thema Holocaust
zu beschäftigen. Die entsprechenden Museen sind gut
besucht. Das Bewusstsein heute ist ausgeprägter als
vor zehn, zwanzig Jahren.
Sicher, das ist wunderbar.
Trotzdem regen sich Zweifel – auch unter jenen, die
alles andere als Holocaust-Leugner sind –, ob man greise
Nazis vor Gericht bringen soll. Es ist die unvermeidliche
Frage, die schon viele Journalisten gestellt haben: Wann
werden Sie mit dem Nazi-Jagen aufhören?
Okay. Man kann sich auf viele Art und Weisen mit dem Holocaust
auseinander setzen. Die primäre in Europa ist die Auseinandersetzung
mit der Schuld, die zweite das Gedenken an die Opfer, dann
die Geschichtsschreibung, die Erziehung, die Entschädigung
und eben die Strafverfolgung der Täter. Die beiden letzt-
genannten Arten sind schwieriger als die anderen. Aber nur
die Täterverfolgung stößt an zeitliche Grenzen.
Man kann ja nicht Nachkommen anklagen, sie haben keine NS-Verbrechen
begangen. Entschädigung ist indessen noch mit der nachfolgenden
Generation der Opfer möglich.
Was reichlich spät käme...
Besser eine späte Gerechtigkeit als gar keine. Die
Zeit, in der wir die Täter noch kriegen können,
geht hingegen dem Ende zu. Wir arbeiten gegen die Uhr. Wir
sind sozusagen in der Verlängerung, wie im Fußball,
wenn der Schiedsrichter noch fünf Minuten gibt. Jetzt
ist es fast unmöglich. Erschwerend kommt hinzu, dass
es nicht mehr um prominente Fälle wie Heinrich Himmler
und dergleichen geht, bei denen wir die Sympathie aller auf
unserer Seite hätten. Ich jage den kleinen Komplizen
hinterher. Nur, ob jemand Gangleader ist oder Mitläufer – wenn
er ein Verbrechen begangen hat, muss er dafür gerade
stehen.
Denken Sie nie ans Aufgeben?
Es macht mir eine Menge Stress, aber ich glaube, jedes Opfer
verdient, dass der Täter, der ihm ein Verbrechen angetan
hat, zur Rechenschaft gezogen wird. Auch Ivan Demjanjuk war
nur ein Wachmann, aber er war ein Komplize bei der Ermordung
von 29.000 Menschen in Sobibor.
Demjanjuk steht jetzt in München vor Gericht. Aber
im Ganzen nimmt sich die Bilanz bei der juristischen Aufarbeitung
von NS-Verbrechen sehr bescheiden aus. In Deutschland etwa
kam es bei 90.000 Anklagen gerade mal in 7000 Fällen
zur Verurteilung mit meist geringfügigen Strafen. Wie
definieren Sie Erfolg?
Ich mache ihn an sechs unterschiedlichen Ebenen fest: einen
Nazi-Kriegsverbrecher zu enttarnen, eine staatsanwaltschaftliche
Untersuchung einzuleiten, dann Anklage, Urteil und Strafe.
Mein Ziel ist, das alles zu erreichen, aber manchmal muss
man sich mit zwei, drei Ebenen zufrieden geben. Zugegeben,
ich habe einen ziemlich frustrierenden Job, aber man soll
nicht vergessen: Von Beginn an bestand niemals eine realistische
Hoffnung, aller habhaft zu werden, die für die Shoa
verantwortlich sind. Deshalb zählt für mich jedes
Mal, wenn wir einen Täter kriegen, als Erfolg.
Noch mal zum Fall Demjanjuk. Viele Menschen sind froh, ihn
vor Gericht zu sehen, so gebrechlich er sich auch gibt. Trotzdem
bleibt ein ungutes Gefühl, wenn ausgerechnet deutsche
Richter über einen Nicht-Deutschen zu urteilen haben,
der sich mehr oder weniger genötigt sah, für die
SS zu arbeiten.
Einspruch! Demjanjuk wurde nicht gezwungen, er hat sich
freiwillig gemeldet. Er hat das unter schwierigen Umständen
getan, aber er hat sich dazu entschieden.
Die moralische Grundlage in Deutschland wirkt dennoch schwach.
Demjanjuk soll büßen, aber gegen die eigentlichen
Befehlshaber ist man nicht konsequent vorgegangen.
Das stimmt alles. Aber man korrigiert einen Fehler nicht,
indem man einen anderen begeht. Demjanjuk hat getan, was
er getan hat.
Eine Verurteilung Demjanjuks könnte als Präzedenzfall
dienen, um eine Prozesslawine in Gang zu setzen.
So viele Fälle gibt es auch in Deutschland nicht mehr
von NS-Kriegsverbrechern, die noch am Leben sind. In den
Vernichtungslagern taten in der Regel 25 Deutsche und 120
Einheimische Dienst, so war es in Sobibor und Treblinka.
Die meisten waren Ende zwanzig, manche bereits vierzig Jahre
alt. Nicht alle erreichten ein hohes Alter. Die Präzedenzwirkung
würde sich auf den Täterkreis in Vernichtungslagern
beschränken. Da sind wenige übrig geblieben.
Wie bewerten Sie die Rolle der deutschen Justiz bei der
Aufarbeitung von NS-Verbrechen? Sind die jüngeren Staatsanwälte
von heute motivierter als die früheren, die der NS-Zeit
näher standen?
Bis vor zwei Jahren litten die deutschen Strafverfolgungsbehörden
an einem deutlichen Mangel an Enthusiasmus. Seitdem sehen
wir eine gewisse Veränderung, selbst die Initiative
gegen NS-Kriegsverbrecher zu ergreifen. Ich habe dafür
zwei mögliche Gründe. Man hat erkannt, dass das
Ende naht und man in fünf Jahren nichts mehr tun kann.
Die andere Erklärung: Im Jahresreport des Wiesenthal
Center vergeben wir Noten. Vor drei Jahren bekam Deutschland
ein F, ein Mangelhaft, weil es damals weder Anklagen noch
Verfahren gab. Wenn mich nicht alles täuscht, waren
die Leute in Ludwigsburg bei der Zentralstelle für die
Verfolgung von NS-Verbrechen höchst verstört. Vielleicht
hat das F ja einen Lerneffekt gehabt.
Aribert Heim, der berüchtigte Todesdoktor im KZ Mauthausen,
ist noch immer die Nummer eins auf Ihrer Fahndungsliste.
Recherchen zufolge, an denen ZDF und New York Times beteiligt
waren, starb Heim 1992 in Kairo. Sie sind davon nicht überzeugt,
warum?
Ich kann nicht beweisen, dass er noch lebt. Aber ich kann
die Akte nicht schließen, solange ich keinen forensischen
Beweis habe, dass Aribert Heim am 10. August 1992 in Kairo
starb.
Sie gehen nach wie vor davon aus, dass er irgendwo in Südamerika
sitzt?
Ja, es gab Hinweise darauf. Warum etwa wurde ein Bankkonto
auf seinen Namen mit zwei Millionen Euro in Berlin bis heute
nicht angerührt? Seine Kinder könnten sich das
Geld holen, wenn sie den Beweis beibrächten, dass er
tot ist. Noch ein Indiz: Sein Anwalt hat 2001 eine Steuerermäßigung
für eine Eigentumswohnung von Heim in Berlin beantragt.
Entweder hat der Anwalt gelogen und betrogen. Oder aber Heim
hat 2001 noch gelebt. Dann kann er nicht 1992 in Kairo gestorben
sein.
In Ihrem Buch beschreiben Sie eine seltsame Begegnung mit
Heims unehelicher Tochter Waltraud, die in Chile lebt und
ihren Vater nie kennen gelernt haben will. Haben Sie jemals
von Angehörigen Fahndungshinweise bekommen?
Nur von Deutschen, niemals von Osteuropäern, was ich
sehr interessant finde. Zum Beispiel hat uns mal eine junge
Deutsche von ihrem Großvater berichtet, der hoher SS-Offizier
während der Besatzung in Frankreich war. Als sie uns
kontaktierte, lebte er noch. Aber er starb während der
Ermittlungen. Es war nicht der einzige Fall. Deutschland
hat eine ernsthafte Anstrengung unternommen, sich mit seiner
Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das hat eine Atmosphäre
geschaffen, die eigene Verantwortung nicht abzuschütteln.
Wie weit sind NS-Prozesse heute wichtig bei der Aufklärung über
die Shoa? Haben sie überhaupt noch eine gesellschaftliche
Dimension? Die Nürnberger Prozesse oder das Eichmann-Verfahren
in Jerusalem waren ja regelrechte Katalysatoren. Damit ist
es vorbei, oder?
Kommt darauf an, wo der Prozess geführt wird. Dinko
Sakic war einer von fünf Kommandanten der kroatischen
Ustascha in Jasenovac, einem der schlimmsten Konzentrationslager
auf dem Balkan. Argentinien, wo Sakic bis 1995 untergetaucht
war, hätte ihn nach Belgrad ausliefern können – die
Serben wollten ihn. Aber dann hätten die Leute in Kroatien
die Sache als Propaganda abgetan. Deshalb war es entscheidend,
dass Sakic der Prozess vor einem kroatischen Richter, in
kroatischer Sprache gemacht wurde. Dadurch entwickelte der
Fall eine enorme Wirkung auf Kroaten, sich mit der Ustascha-Vergangenheit
zu konfrontieren. Ein Redakteur des Magazins Globus nannte
den Prozess das wichtigste Ereignis in der kroatischen Demokratie.
Kroatien habe seine wirkliche Unabhängigkeit erlangt,
als es Dinko Sakic vor Gericht stellte.
Sie haben Ihr Leben der Aufgabe gewidmet, NS-Kriegsverbrecher
zu überführen. In absehbarer Zeit, sagen Sie selbst,
wird das nicht mehr möglich sein. Denken Sie manchmal
an Ihr Leben danach?
Aus der Jagd nach Nazis erwächst der Kampf um historische
Wahrheit. Und der muss in jedem Fall weiter gehen. Nehmen
wir nur die Prager Deklaration vom 3. Juni 2008, die eine
falsche Gleichsetzung von Nazismus und Kommunismus unternimmt
und für eine gemeinsame Erinnerung aller Totalitarismus-Opfer
wirbt. Ich halte das für furchtbar problematisch. Was
in kommunistischen Regimen geschah, war schrecklich, aber
kein Genozid. Die Gleichsetzung ist ein Versuch, Schuld abzuwälzen.
Wenn alle schuldig sind, ist niemand schuldig. Ich sage:
nur über meine Leiche. Wir setzen auf Deutschlands Unterstützung,
eine solche Resolution abzuwehren.
Sie bleiben eine Kämpfernatur.
Ganz klar, wer für Gerechtigkeit kämpft, gibt
seinem Leben Bedeutung. Ich danke jeden Morgen dem Herrgott
dafür, dass er mich tun lässt, was ich tue. fr-online.de
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