12. April 2010 fr-online.de
"Wir arbeiten gegen die Uhr"
Interview: Inge Günther

Er ist der letzte Nazi-Jäger. Efraim Zuroff spürt seit 28 Jahren weltweit NS-Täter auf, um sie auf die Anklagebank zu bringen. Ein Gespräch mit dem Jerusalemer Chef des Simon Wiesenthal Center über die Schuld alter Männer, die Verantwortung der Mitläufer und den Elan junger deutscher Ermittler.

Herr Zuroff, Sie gelten als passionierter Nazi-Jäger. Anders als manche Staatsanwälte, die neutrale Bezeichnungen wie Ermittler von NS-Verbrechen vorziehen, haben Sie kein Problem mit dem Begriff, oder?

Den Titel Nazi-Jäger haben mir die Leute verpasst, ich habe nichts dagegen. Er erleichtert mir zu erklären, was ich tue. Aber passender finde ich den Begriff Wahrheitsverfechter.

Was macht den Nazi-Jäger aus?

Erstmal muss man Detektiv sein, um einen NS-Verbrecher aufzuspüren und Belastungsmaterial zu finden. Um seiner in einem bestimmten Land habhaft zu werden, muss man dazu als Politiker und Lobbyist agieren können. Wenige Staaten kooperieren von vorne herein.

Als Sie 2002 die "Operation Letzte Chance" starteten, wurde eine Belohnung für das Aufspüren von NS-Tätern ausgesetzt. Manche haben das als Effekthascherei kritisiert, auch in Deutschland.

Hätten wir nur eine einfache Pressekonferenz organisiert, wäre kein Journalist gekommen. Ich halte Belohnungen für ein bewährtes Mittel, Hinweise auf Kriminelle zu bekommen. Mich wundert umgekehrt, dass es in Deutschland niemals eine Art Simon Wiesenthal gab, einen, der sich der Jagd auf Nazis ganz und gar verschrieben hat.

Es gab einige, wenngleich nicht so prominent wie Wiesenthal, etwa der hessische Staatsanwalt Fritz Bauer.

Aber es gab niemals eine richtige Organisation, eine Nichtregierungsorganisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, NS-Kriegsverbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Der israelische Historiker Tom Segev sagt, dass Demokratie und Rechtsstaat wenig geeignet sind, Kriegsverbrecher zu überführen. Wie weit haben Sie mit legalen Spielregeln zu kämpfen?

Sie sind nicht das eigentliche Problem. Der legale Rahmen ist da. Woran es mangelt, ist der politische Wille. Jeder Staat kann eine Farce aus der Justiz machen. Nehmen wir ein westeuropäisches und ein osteuropäisches Land, Österreich und Litauen. Nach 40 Jahren kommunistischer Herrschaft hat ein Post-Sowjet-Staat sicher ein Problem, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Aber auch Österreich war 30 Jahre lang nicht erfolgreich, NS-Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen.

Sie haben Österreich mal ein Paradies für Nazis im Ruhestand genannt...

Ja, manchmal muss man die Dinge deutlich beim Namen nennen. Die Medien haben damals gleich Schlagzeilen daraus gebastelt. Das hat viel Druck gemacht, war im Kern aber wahr. Wenn ich ein Kriegsverbrecher wäre und auf der Suche nach einem Land, in dem die Wahrscheinlichkeit gering ist, vor Gericht gestellt zu werden, würde ich nach Österreich gehen.

Litauen wäre eher ein Risiko?

Schauen Sie, Litauen geriet nach dem Fall des Eisernen Vorhangs unter enormen Druck, dort lebende NS-Verbrecher anzuklagen. Es kam zu drei Prozessen, aber keiner der Angeklagten saß eine Minute im Gefängnis, obwohl zwei verurteilt wurden. Es hieß, sie müssten aus gesundheitlichen Gründen verschont werden. Dagegen hat man ein Spezialgesetz im Parlament eingebracht, das erlauben sollte, Genozid-Verdächtigen den Prozess zu machen, auch wenn sie laut ärztlichen Attesten zu befreien seien. Statt also Gerichtsverfahren als effektives Mittel der Erziehung zu nutzen, um der litauischen Öffentlichkeit die Rolle von Nazi-Kollaborateuren bewusst zu machen, wurde aus der Sache eine Groteske. Bis die Leute den Eindruck gewannen, dass es keine litauischen NS-Kriegsverbrecher gebe, und sie lustig weiter machen könnten.

Was ist für Sie schlimmer, dass solche Angeklagte ungeschoren davon kommen oder dass die Wahrheit auf der Strecke bleibt?

Die Hauptsorge von Simon Wiesenthal war nie, dass der eine oder andere Täter uns durch die Lappen ginge, sondern dass der Holocaust vergessen würde. Keine Gefahr, die heute besteht, aber in vielleicht hundert Jahren.

Es gibt wachsende Bereitschaft, sich mit dem Thema Holocaust zu beschäftigen. Die entsprechenden Museen sind gut besucht. Das Bewusstsein heute ist ausgeprägter als vor zehn, zwanzig Jahren.

Sicher, das ist wunderbar.

Trotzdem regen sich Zweifel – auch unter jenen, die alles andere als Holocaust-Leugner sind –, ob man greise Nazis vor Gericht bringen soll. Es ist die unvermeidliche Frage, die schon viele Journalisten gestellt haben: Wann werden Sie mit dem Nazi-Jagen aufhören?

Okay. Man kann sich auf viele Art und Weisen mit dem Holocaust auseinander setzen. Die primäre in Europa ist die Auseinandersetzung mit der Schuld, die zweite das Gedenken an die Opfer, dann die Geschichtsschreibung, die Erziehung, die Entschädigung und eben die Strafverfolgung der Täter. Die beiden letzt- genannten Arten sind schwieriger als die anderen. Aber nur die Täterverfolgung stößt an zeitliche Grenzen. Man kann ja nicht Nachkommen anklagen, sie haben keine NS-Verbrechen begangen. Entschädigung ist indessen noch mit der nachfolgenden Generation der Opfer möglich.

Was reichlich spät käme...

Besser eine späte Gerechtigkeit als gar keine. Die Zeit, in der wir die Täter noch kriegen können, geht hingegen dem Ende zu. Wir arbeiten gegen die Uhr. Wir sind sozusagen in der Verlängerung, wie im Fußball, wenn der Schiedsrichter noch fünf Minuten gibt. Jetzt ist es fast unmöglich. Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht mehr um prominente Fälle wie Heinrich Himmler und dergleichen geht, bei denen wir die Sympathie aller auf unserer Seite hätten. Ich jage den kleinen Komplizen hinterher. Nur, ob jemand Gangleader ist oder Mitläufer – wenn er ein Verbrechen begangen hat, muss er dafür gerade stehen.

Denken Sie nie ans Aufgeben?

Es macht mir eine Menge Stress, aber ich glaube, jedes Opfer verdient, dass der Täter, der ihm ein Verbrechen angetan hat, zur Rechenschaft gezogen wird. Auch Ivan Demjanjuk war nur ein Wachmann, aber er war ein Komplize bei der Ermordung von 29.000 Menschen in Sobibor.

Demjanjuk steht jetzt in München vor Gericht. Aber im Ganzen nimmt sich die Bilanz bei der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen sehr bescheiden aus. In Deutschland etwa kam es bei 90.000 Anklagen gerade mal in 7000 Fällen zur Verurteilung mit meist geringfügigen Strafen. Wie definieren Sie Erfolg?

Ich mache ihn an sechs unterschiedlichen Ebenen fest: einen Nazi-Kriegsverbrecher zu enttarnen, eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung einzuleiten, dann Anklage, Urteil und Strafe. Mein Ziel ist, das alles zu erreichen, aber manchmal muss man sich mit zwei, drei Ebenen zufrieden geben. Zugegeben, ich habe einen ziemlich frustrierenden Job, aber man soll nicht vergessen: Von Beginn an bestand niemals eine realistische Hoffnung, aller habhaft zu werden, die für die Shoa verantwortlich sind. Deshalb zählt für mich jedes Mal, wenn wir einen Täter kriegen, als Erfolg.

Noch mal zum Fall Demjanjuk. Viele Menschen sind froh, ihn vor Gericht zu sehen, so gebrechlich er sich auch gibt. Trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl, wenn ausgerechnet deutsche Richter über einen Nicht-Deutschen zu urteilen haben, der sich mehr oder weniger genötigt sah, für die SS zu arbeiten.

Einspruch! Demjanjuk wurde nicht gezwungen, er hat sich freiwillig gemeldet. Er hat das unter schwierigen Umständen getan, aber er hat sich dazu entschieden.

Die moralische Grundlage in Deutschland wirkt dennoch schwach. Demjanjuk soll büßen, aber gegen die eigentlichen Befehlshaber ist man nicht konsequent vorgegangen.

Das stimmt alles. Aber man korrigiert einen Fehler nicht, indem man einen anderen begeht. Demjanjuk hat getan, was er getan hat.

Eine Verurteilung Demjanjuks könnte als Präzedenzfall dienen, um eine Prozesslawine in Gang zu setzen.

So viele Fälle gibt es auch in Deutschland nicht mehr von NS-Kriegsverbrechern, die noch am Leben sind. In den Vernichtungslagern taten in der Regel 25 Deutsche und 120 Einheimische Dienst, so war es in Sobibor und Treblinka. Die meisten waren Ende zwanzig, manche bereits vierzig Jahre alt. Nicht alle erreichten ein hohes Alter. Die Präzedenzwirkung würde sich auf den Täterkreis in Vernichtungslagern beschränken. Da sind wenige übrig geblieben.

Wie bewerten Sie die Rolle der deutschen Justiz bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen? Sind die jüngeren Staatsanwälte von heute motivierter als die früheren, die der NS-Zeit näher standen?

Bis vor zwei Jahren litten die deutschen Strafverfolgungsbehörden an einem deutlichen Mangel an Enthusiasmus. Seitdem sehen wir eine gewisse Veränderung, selbst die Initiative gegen NS-Kriegsverbrecher zu ergreifen. Ich habe dafür zwei mögliche Gründe. Man hat erkannt, dass das Ende naht und man in fünf Jahren nichts mehr tun kann. Die andere Erklärung: Im Jahresreport des Wiesenthal Center vergeben wir Noten. Vor drei Jahren bekam Deutschland ein F, ein Mangelhaft, weil es damals weder Anklagen noch Verfahren gab. Wenn mich nicht alles täuscht, waren die Leute in Ludwigsburg bei der Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen höchst verstört. Vielleicht hat das F ja einen Lerneffekt gehabt.

Aribert Heim, der berüchtigte Todesdoktor im KZ Mauthausen, ist noch immer die Nummer eins auf Ihrer Fahndungsliste. Recherchen zufolge, an denen ZDF und New York Times beteiligt waren, starb Heim 1992 in Kairo. Sie sind davon nicht überzeugt, warum?

Ich kann nicht beweisen, dass er noch lebt. Aber ich kann die Akte nicht schließen, solange ich keinen forensischen Beweis habe, dass Aribert Heim am 10. August 1992 in Kairo starb.

Sie gehen nach wie vor davon aus, dass er irgendwo in Südamerika sitzt?

Ja, es gab Hinweise darauf. Warum etwa wurde ein Bankkonto auf seinen Namen mit zwei Millionen Euro in Berlin bis heute nicht angerührt? Seine Kinder könnten sich das Geld holen, wenn sie den Beweis beibrächten, dass er tot ist. Noch ein Indiz: Sein Anwalt hat 2001 eine Steuerermäßigung für eine Eigentumswohnung von Heim in Berlin beantragt. Entweder hat der Anwalt gelogen und betrogen. Oder aber Heim hat 2001 noch gelebt. Dann kann er nicht 1992 in Kairo gestorben sein.

In Ihrem Buch beschreiben Sie eine seltsame Begegnung mit Heims unehelicher Tochter Waltraud, die in Chile lebt und ihren Vater nie kennen gelernt haben will. Haben Sie jemals von Angehörigen Fahndungshinweise bekommen?

Nur von Deutschen, niemals von Osteuropäern, was ich sehr interessant finde. Zum Beispiel hat uns mal eine junge Deutsche von ihrem Großvater berichtet, der hoher SS-Offizier während der Besatzung in Frankreich war. Als sie uns kontaktierte, lebte er noch. Aber er starb während der Ermittlungen. Es war nicht der einzige Fall. Deutschland hat eine ernsthafte Anstrengung unternommen, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das hat eine Atmosphäre geschaffen, die eigene Verantwortung nicht abzuschütteln.

Wie weit sind NS-Prozesse heute wichtig bei der Aufklärung über die Shoa? Haben sie überhaupt noch eine gesellschaftliche Dimension? Die Nürnberger Prozesse oder das Eichmann-Verfahren in Jerusalem waren ja regelrechte Katalysatoren. Damit ist es vorbei, oder?

Kommt darauf an, wo der Prozess geführt wird. Dinko Sakic war einer von fünf Kommandanten der kroatischen Ustascha in Jasenovac, einem der schlimmsten Konzentrationslager auf dem Balkan. Argentinien, wo Sakic bis 1995 untergetaucht war, hätte ihn nach Belgrad ausliefern können – die Serben wollten ihn. Aber dann hätten die Leute in Kroatien die Sache als Propaganda abgetan. Deshalb war es entscheidend, dass Sakic der Prozess vor einem kroatischen Richter, in kroatischer Sprache gemacht wurde. Dadurch entwickelte der Fall eine enorme Wirkung auf Kroaten, sich mit der Ustascha-Vergangenheit zu konfrontieren. Ein Redakteur des Magazins Globus nannte den Prozess das wichtigste Ereignis in der kroatischen Demokratie. Kroatien habe seine wirkliche Unabhängigkeit erlangt, als es Dinko Sakic vor Gericht stellte.

Sie haben Ihr Leben der Aufgabe gewidmet, NS-Kriegsverbrecher zu überführen. In absehbarer Zeit, sagen Sie selbst, wird das nicht mehr möglich sein. Denken Sie manchmal an Ihr Leben danach?

Aus der Jagd nach Nazis erwächst der Kampf um historische Wahrheit. Und der muss in jedem Fall weiter gehen. Nehmen wir nur die Prager Deklaration vom 3. Juni 2008, die eine falsche Gleichsetzung von Nazismus und Kommunismus unternimmt und für eine gemeinsame Erinnerung aller Totalitarismus-Opfer wirbt. Ich halte das für furchtbar problematisch. Was in kommunistischen Regimen geschah, war schrecklich, aber kein Genozid. Die Gleichsetzung ist ein Versuch, Schuld abzuwälzen. Wenn alle schuldig sind, ist niemand schuldig. Ich sage: nur über meine Leiche. Wir setzen auf Deutschlands Unterstützung, eine solche Resolution abzuwehren.

Sie bleiben eine Kämpfernatur.

Ganz klar, wer für Gerechtigkeit kämpft, gibt seinem Leben Bedeutung. Ich danke jeden Morgen dem Herrgott dafür, dass er mich tun lässt, was ich tue.

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