Zwei
Männer: John Demjanjuk soll Wachmann im Vernichtungslager
Sobibór gewesen sein; Erich Steidtmann war Polizeihauptmann
im Warschauer Ghetto. Zwei Leben: Demjanjuk steht unter weltweiter
Beachtung in München vor Gericht, Steidtmann lebt unbehelligt
in Hannover. Eine Geschichte: deutsche Geschichte.
Wird er reden? Wird er reden über seine Zeit als SS-Hauptsturmführer, über
die toten Juden in den Straßen Warschaus, die Deportationen
nach Treblinka und die Erschießungen von 30 500 Menschen
in Majdanek und Poniatowa? Über die »Aktion Reinhardt«,
bei der etwa zwei Millionen Juden ermordet wurden, und an
der er, der damalige Polizeihauptmann, mitgewirkt hat?
Die Straße, in der er wohnt, ist eng und sie heißt
nach einer Blume, wie die anderen Straßen hier, in
einem Vorort von Hannover. Ein Nachbar fegt die Einfahrt.
Viel Zaun, viel Hecke, das Gras kurz, die Dächer spitz.
Gefühlter deutscher Standard. Es ist März 2010.
Die Terrassentür seiner Doppelhaushälfte ist vergittert,
die beiden Fenster im Erdgeschoss auch, die Vorhänge
sind vorgezogen.
Der Mann, der hier wohnt, erwartet nicht viel Gutes von
draußen. Aber er versteckt sich auch nicht, gleich
zweimal steht sein Name da, auf Jägerzaun und Klingelschild:
Erich Steidtmann.
Seine Stimme scheppert durch die Gegensprechanlage. Das
Schloss des Gartentors surrt. Ein paar Schritte weiter steht
er in der Tür, 95 Jahre, groß, hager, fleckig,
leicht gebeugt, im Bademantel und unfrisiert, zur Mittagszeit.
Er sieht nicht gesund aus, aber auch nicht krank, nur alt,
das schon. Ein alter Mann, der von früher nichts mehr
wissen will, der sofort ungehalten wird, »davon haben
Sie doch keine Ahnung!«, wenn man ihn danach fragt,
wie es damals war.
Er wird nicht über all das reden. Warum auch? Er muss
sich nicht verteidigen. Niemand klagt ihn an. Noch nicht.
Am Ende dieser Recherche wird die Staatsanwaltschaft die
Ermittlungen wieder aufnehmen und das Simon Wiesenthal Center
wird Erich Steidtmann auf die Liste der meistgesuchten Nazi-Verbrecher
weltweit setzen, die es jedes Jahr neu herausgibt.
Ein paar Tage später in München, in der Justizvollzugsanstalt
Stadelheim: Ein anderer alter Mann schiebt seinen Gehwagen über
den Flur der Krankenstation. Sein Name fehlt in diesem Jahr
auf der Liste des Wiesenthal Centers, zum ersten Mal: John
Demjanjuk. Auch er soll an der »Aktion Reinhardt« beteiligt
gewesen sein: als Wachmann im Vernichtungslager Sobibór.
Auch er spricht nicht mit Journalisten, doch John Demjanjuk
wird angeklagt: Seit November 2009 muss er sich wegen Beihilfe
zum Mord verantworten.
Im Gerichtssaal wirkt es manchmal so, als würde er
schlafen, weil er seinen Prozess von einem Bett aus verfolgt.
John Demjanjuk ist 90 Jahre alt, die Ärzte sagen, er
habe Rücken- und Kniebeschwerden. Auf dem Flur der Justizvollzugsanstalt,
in Jogginghose und Turnschuhen, wirkt er dagegen nicht sonderlich
schwach, trotz der Gehhilfe.
Seine Zelle sieht aus wie ein Zimmer in einem ganz normalen
Krankenhaus: zwei schwere Rollbetten, zwei Schränkchen,
ein Holzkreuz an der Wand, im Regal drei eingeschweißte
Tortenböden und ein paar Dosen Mandarinen. Demjanjuk
hat es sich eingerichtet in dieser Welt, die er vielleicht
nie mehr verlassen wird, die ihn aber auch abschirmt vor
den Menschen da draußen, die in ihm einen Massenmörder
sehen, vor ihren Fragen und Vorwürfen.
Im Gefängnis werden keine Fragen gestellt. Sein Zellennachbar,
der wegen Diebstahls, Betrugs und Verbreitung von Pornografie
in Untersuchungshaft sitzt, spricht nur deutsch. Demjanjuk
spricht nur ukrainisch, russisch und englisch. Wie soll man
sich da über 27 900 Tote unterhalten?
So steht es in der Anklage: Beihilfe zum Mord in 27 900
Fällen. In einer Anklage gegen Erich Steidtmann wäre
wohl die Rede von etwa 36 500 Toten in Majdanek, Poniatowa
und Warschau. Zusammen wären das
fast so viele Menschen, wie Zuschauer ins Münchner Olympiastadion
passen.
John Demjanjuk und Erich Steidtmann: zwei der Täter,
die noch leben, deren Schuld noch nicht abgegolten ist, denen
man noch den Prozess machen kann. Solange sie noch leben.
Zwei Männer, deren Biografien aber auch zeigen, wie
unterschiedlich nach dem Krieg mit der Schuld von NS-Tätern
umgegangen wurde – und wie schwierig es ist, diese
Schuld heute noch einmal zu bewerten.
Der eine, 1920 in einem Dorf in der Ukraine geboren, Hunger
leidend, vier Jahre Schule, wird mit zwanzig von der Roten
Armee eingezogen, gerät zwei Jahre später in deutsche
Kriegsgefangenschaft, soll sich dann bei den Nazis als Hilfswilliger
gemeldet haben und im Vernichtungslager Sobibór eingesetzt
worden sein, als Wachmann, der niedrigste Dienstgrad.
Der andere, 1914 in Sachsen geboren, tritt am 1. Juni 1933,
noch vor dem Abitur, der SS bei, SS-Nr. 160812. Rückt
freiwillig bei der Wehrmacht ein, wird dann Polizist und
geht 1942 freiwillig an die russische Front. Eiser-
nes Kreuz Erster und Zweiter Klasse, Polizei-Hauptmann, SS-Hauptsturmführer.
In Warschau meldet er sich Anfang 1943 freiwillig für
den Kampf im Ghetto. Später wird er Kompanieführer
des Polizeibataillons 101 in Lublin. Dreimal »freiwillig« in
einem Absatz.
Nach dem einen, dem Ukrainer, wird international gefahndet,
er landet in Israel in der Todeszelle; Bücher werden über
ihn geschrieben. Neue Beweise tauchen auf, er kommt frei.
Jahre später wird wieder gegen ihn ermittelt. Der andere,
der Deutsche, lebt unbeachtet und unauffällig, bis er
vor zweieinhalb Jahren einen Prozess anstrengt und damit
selbst die Ermittler auf seine Rolle im Dritten Reich aufmerksam
macht.
Und so liegen im Winter 2007/2008 die Akten von Erich Steidtmann
und John Demjanjuk fast zeitgleich auf zwei Schreibtischen
in der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen in Ludwigsburg, im selben Stockwerk, im selben
Gang, nur ein paar Zimmer auseinander. Die Unterlagen werden
gesichtet und an die zuständigen Staatsanwaltschaften
weitergereicht. Die Staatsanwaltschaft München klagt
an, die in Hannover stellt ein. In beiden Fällen geht
es um Beihilfe zum Mord. Um Verbrechen, die beide Männer
1943 im besetzten Polen begangen haben sollen.
Warschau, Polen, 1943
Auf den Straßen des Warschauer Ghettos liegt Schnee,
und es ist kalt, minus zwanzig Grad. Dieser 18. Januar, ein
Montag, soll ein sonniger Tag werden. Gegen 6:30 Uhr machen
sich die ersten jüdischen Arbeiter auf den Weg zu ihren
Arbeitsstellen außerhalb des Ghettos, im sogenannten
arischen Teil der Stadt. Aber an diesem Morgen lassen die
deutschen Militäreinheiten und Polizisten, die vor den
Ghettomauern aufmarschieren, niemanden heraus. Schnell verbreitet
sich drinnen das Gerücht, die Deutschen wollten an diesem
Tag alle noch im Ghetto verbliebenen Juden ermorden: 60 000
von fast 500 000, die 1941 dort noch lebten. Die anderen
sind vergast, erschossen oder erschlagen, verhungert, an
Seuchen gestorben oder in Arbeitslager deportiert.
Um 7:30 Uhr gehen die deutschen Einheiten ins Ghetto. Die
jüdischen Bewohner werden panisch, sie verstecken sich,
in Kellern, Bunkern oder leer stehenden Häusern. Mütter
halten ihren schreienden Säuglingen den Mund zu, so
lange, so verkrampft, dass manche ersticken. Wer entdeckt
wird und sich weigert, den Deutschen zu folgen, wird erschossen.
Wer ihnen folgt, stirbt im Gas. Zum ersten Mal suchen die
Ghettobewohner den bewaffneten Kampf gegen die Deutschen.
Unter denen, die an diesem oder den folgenden Tagen ins
Ghetto gehen, Häuser durchsuchen, Juden abführen,
den Widerstand brechen, ist auch Erich Steidtmann. Er ist
Kompanieführer der elften Kompanie des III. Bataillons
des 22. SS-Polizeiregiments, ihm unterstehen 150 Männer.
Er wird zwanzig Jahre später, 1963, bei einer Vernehmung
als Zeuge aussagen, er habe sich »als Stoßtruppführer
zur Ausräucherung und Einzelliquidierung von Widerstandsnestern
freiwillig gemeldet«.
Ein Polizist, der an diesem Tag mit Steidtmanns Kompanie
im Ghetto war, beschreibt den Einsatz in seinem Tagebuch,
das zwanzig Jahre später im selben Verfahren zu den
Akten genommen wird: »Geschlagen, gejagt, gepeitscht.
Die einen versteckten sich, dem einen hingen die Eingeweide
heraus … die Vierzig im Kellerhaus 5 erschossen, geschlachtet
wie Schlachtschafe.«
Tatsächlich wollten die Deutschen an diesem Tag nicht
alle Ghettobewohner töten; Ziel ist es, 8000 »illegale« Ghettobewohner,
nämlich solche ohne Arbeitserlaubnis der deutschen Besatzer,
ins Vernichtungslager Treblinka zu bringen. Als die Deutschen
die Aktion nach vier Tagen wegen des unerwartet heftigen
Widerstands abbrechen, liegen auf den Straßen des Ghettos
1170 tote Juden und etwa 5000 Juden wurden nach Treblinka
deportiert.
Erich Steidtmann war beteiligt an diesem Einsatz, den Historiker
als Mord- und Vernichtungsaktion einstufen, das steht fest.
Umstritten ist nur, ob er auch zwei Monate später, während
des großen Ghettoaufstands im
April/Mai 1943, noch in Warschau war: als die Deutschen das
Ghetto niederbrennen, dabei etwa 7000 Juden an Ort und Stelle
töten sowie rund 50 000 Menschen deportieren und die
meisten von ihnen später auch ermorden. Danach gibt
es kein Ghetto mehr.
Steidtmann wird nach dem Krieg aussagen, er sei nicht beim
Ghettoaufstand eingesetzt, sondern im März 1943 nach
Lublin versetzt worden. Zwei Dinge sprechen gegen diese Behauptung.
Erstens: Einer der Männer seiner Kompanie sagt im Verfahren
1963 aus, beim Ghettoaufstand eingesetzt gewesen zu sein:
unter Steidtmann. Zweitens: In den Akten des Bundesarchivs
liegt ein NS-Dokument, datiert auf den 19. März 1943,
das eine Versetzung Steidtmanns anordnet. Aber nicht nach
Lublin, sondern innerhalb des 22. SS-Polizeiregiments. Demnach
wäre Steidtmann in Warschau geblieben.
Sobibór, Polen, 1943
Zweihundert Kilometer östlich von Warschau stoppt ein Zug am Bahnhof Sobibór. Es ist der 16. April, ein Freitag. Normalerweise wird in den hölzernen Waggons Vieh transportiert, heute drängen sich darin 1210 Menschen. Am Dienstag waren sie in den Niederlanden in die Wagen gesperrt worden. Zwei Stunden noch bis zu ihrem Tod.
Draußen koppeln Männer elf der Waggons ab und
fahren sie durch ein Tor im Stacheldrahtzaun an eine Rampe.
Dann gehen die Türen auf. »Los! Los!«, »Dalli,dalli!«,
schreit ein SS-Mann in grauer Uniform auf Deutsch. Um ihn
herum stehen Wachmänner mit Gewehren oder armlangen
Peitschen aus Leder, mit denen sie die Menschen schlagen.
Auch sie tragen Uniformen, schwarze oder braune, doch wenn
sie miteinander sprechen, reden sie russisch oder ukrainisch.
Es sind sogenannte Hilfswillige, Hiwis, Ukrainer zumeist,
die, in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, sich freiwillig
gemeldet hatten, Dienst für die Nazis zu tun. Wobei
freiwillig in diesem Fall nicht unbedingt freiwillig meint,
denn etwa jeder zweite sowjetische Kriegsgefangene starb
an Hunger oder Krankheit.
Unter diesen ukrainischen Hiwis soll auch einer sein, der
Iwan heißt: Iwan Demjanjuk. Zumindest legt ein Dienstausweis
das nahe, der 66 Jahre später in einem Gutachten des
Bayerischen Landeskriminalamtes für echt gehalten wird
und dessentwegen dieser Iwan Demjanjuk, der sich heute John
nennt, nun vor Gericht steht. Laut dieses Ausweises ist er
am 27. März 1943 nach Sobibór versetzt worden,
in ein Lager, in dem rund zwanzig SS-Männer und 120
Hiwis nur für ein Ziel arbeiteten: die systematische
Ermordung von Juden aus den Niederlanden, Frankreich, Deutschland
und vor allem Polen.
Ob Demjanjuk an diesem 16. April 1943 eingeteilt war, die
Menschen aus den Viehwaggons zu prügeln, lässt
sich nicht mit Sicherheit sagen. Was mit den meisten passiert
ist und welche Rolle die ukrainischen Hiwis dabei gespielt
haben, schon: Die Hiwis treiben die Gruppe eine gepflasterte
Straße entlang ins sogenannte Vorlager, das auf den
ersten Blick an ein Dorf erinnert: Links stehen ein paar
Holzhäuschen, die Rasenflächen davor leuchten grün,
die ersten Frühlingsblumen sprießen aus den Beeten.
In einer Baracke werden den Menschen ihre Koffer und Wertsachen
abgenommen, Männer und Frauen werden voneinander getrennt,
sie müssen sich ausziehen, dann drängen die Hiwis
die Nackten in den sogenannten Schlauch: ein von Stacheldraht
begrenzter Pfad, der nach etwa 150 Metern vor einem steinernen
Flachdachgebäude endet, an dem »Badehaus« steht.
Drinnen zweigen sechs Kammern, vier mal vier Meter groß,
von einem Korridor ab. Aus den Wänden ragen Duschbrausen.
Wer nicht freiwillig in die Kammern geht, wird von den Hiwis
hineingeprügelt.
Dann verschließen sie die Türen.
Ein 200-PS-starker Motor startet, dessen Abgase über
Rohre in die Kammern fließen. Nach etwa zwanzig Minuten
sind die Menschen erstickt. Hinausgetragen werden sie durch
Klapptüren an der Außenseite des Gebäudes.
Viele der Toten stehen noch, weil es in den Kammern zu eng
zum Umfallen war. Bevor sie verbrannt werden, brechen jüdische
Arbeitshäftlinge den Leichen die Goldzähne heraus
und tasten After und Vagina nach versteckten Wertsachen ab.
Das Krematorium erinnert an einen überdimensionalen
Rost: ein paar Eisenbahnschienen, kreuzweise über das
offene Feuer in einer Grube gelegt. Mit einem Teil der Asche
werden die Blumenbeete im Vorlager gedüngt.
Der Hilfswillige Demjanjuk soll hier bis September 1943 gewesen
sein, dann wird er in ein anderes Lager versetzt. Einen
Monat später, am 14. Oktober, versuchen die jüdischen
Häftlinge, die die Nazis aussortiert und zum Arbeiten
gezwungen hatten, in Sobibór einen Aufstand. Sie
töten zwölf SS-Männer, rund 300 Juden können
fliehen, die meisten werden später aufgegriffen und
erschossen. Die Nazis beschließen, das Lager abzureißen
und den Boden zu planieren.
Majdanek, Polen, 1943
Die Aufstände in Sobibór und Warschau haben
drastische Folgen: Wohl als Reaktion darauf ordnet SS-Chef
Heinrich Himmler die »Aktion Erntefest« an, die
der Abschluss der »Aktion Reinhardt« sein wird,
jenes Plans, sämtliche Juden im besetzten Polen zu töten,
es »judenfrei« zu machen, wie die Nazis sagen,
jenes Plans, dem fast zwei Millionen Menschen zum Opfer fallen
werden.
Die Vorbereitungen für das »Erntefest« beginnen in den letzten Oktobertagen auf einer Wiese hinter dem Konzentrationslager Majdanek bei Lublin: Die Wachen befehlen etwa 300 jüdischen Gefangenen, zickzackförmige Gräben auszuheben, drei Meter tief und anderthalb Meter breit. Die Wachen sagen, es seien Splittergräben, zum Schutz vor Luftangriffen. Tatsächlich werden die Gräben bald Gräber sein.
Am 2. November 1943 reisen verschiedene SS- und Polizeitruppen nach Majdanek. Auch die Kompanie, die Erich Steidtmann übernommen hat: die erste Kompanie des Polizeibataillons 101.
Das »Erntefest« beginnt am frühen Morgen des 3. November. Aus zwei Lautsprecherwagen dringt unentwegt laute Musik durch das Lager, ein Strauß-Walzer, ein Tango, der Heinz-Rühmann-Schlager Wozu Ist Die Straße Da? Zum Marschieren. In den kurzen Pausen zwischen den Liedern, wenn die Platten gewechselt werden, hört man die Maschinengewehrsalven noch deutlicher. Am Abend werden etwa 16 500 Juden tot sein, es ist eines der größten Massaker des gesamten Holocausts.
Der Historiker Christopher R. Browning wird 1992 in seinem Standardwerk über das Bataillon 101 zu dem Schluss kommen, dass die Männer des Bataillons an buchstäblich jeder Phase der Aktion »Erntefest« in Majdanek teilgenommen hätten. Nur geschossen haben sie nicht, dafür waren Spezialeinheiten gekommen.
Ein Mann aus Steidtmanns Kompanie wird später aussagen: »Von meinem Standpunkt konnte ich beobachten, wie von anderen Angehörigen unseres Bataillons die Juden nackend aus den Baracken herausgetrieben wurden … Mit Sicherheit erinnere ich, dass die nackten Juden direkt auf die Gruben zugetrieben wurden und sich dann regelrecht auf die bereits erschossenen Vorgänger legen mussten. Auf diese liegenden Opfer schoss der Schütze dann jeweils eine Salve ab.«
Am nächsten Tag fahren die Angehörigen des Polizeibataillons 101 weiter in ein anderes, rund 50 Kilometer entferntes Konzentrationslager, nach Poniatowa. Dort helfen sie dabei, weitere 14 000 Menschen hinzurichten.
Keiner der Männer des Polizeibataillons 101, das der Historiker Daniel Goldhagen »Völkermordkohorte« nennt, wird später wegen dieser 30 500-fachen Beihilfe zum Mord in Majdanek und Poniatowa verurteilt oder auch nur angeklagt werden.
Auch Erich Steidtmann nicht. Befragt zur »Aktion Erntefest«, wird er aussagen, er sei zu dieser Zeit im Urlaub gewesen. Steidtmann benennt dafür vier Zeugen, von denen keiner seine Behauptung bestätigen wird: Einer ist da, 1963, bereits tot. Einer ist verschollen. Einer kann sich nicht erinnern, ob Steidtmann Urlaub hatte. Der vierte Zeuge ist Steidtmanns damalige Freundin. Sie wird nicht befragt.
Außerdem gibt es einen Brief, den Erich Steidtmann am 31. Oktober 1943 an das Rasse- und Siedlungshauptamt schreibt, also drei Tage vor der »Aktion Erntefest«. Im Anschreiben setzt er neben das Datum nicht den Ort, wie bei gewöhnlichen Briefen üblich, sondern seine Feldpostnummer, 56048B, und »O.U.«, das Kürzel für »Ortsunterkunft«. Das war Vorschrift, damit der Feind aus abgefangener Feldpost nicht erfuhr, welche Einheit wo stationiert war. In einem beigefügten Formular trägt Steidtmann aber in die Zeile »jetziger Wohnsitz« ein: »Standort Lublin«.
Das kann eigentlich nur bedeuten: Erich Steidtmann ist an jenem 31. Oktober 1943 im Krieg, und zwar im Distrikt Lublin, bei seiner Kompanie, zwei Tage bevor diese nach Majdanek fährt. Trat er seinen Urlaub also in diesen beiden Tagen an? Der Historiker Christopher R. Browning, der beste Kenner des Bataillons 101, sagt dazu auf Nachfrage des SZ-Magazins: »Es ist natürlich vollkommen unglaubhaft, dass der Führer einer Kompanie in Lublin drei Tage vor dem ›Erntefest‹ abreisen sollte, gerade als seine Kompanie sich aufmacht, an einem großen Einsatz teilzunehmen.«
Obwohl die Ortsangabe des Briefes eindeutiges Indiz dafür ist, dass Erich Steidtmann als Kompanieführer an der Ermordung von 30 500 Juden beteiligt war, spielte sie in allen bisherigen Ermittlungen im Fall Steidtmann jedoch keine Rolle. Noch nicht.
Versteckspiel nach dem Krieg
1952 beginnt Iwan Demjanjuk sein neues Leben mit einer Lüge:
Er wandert in die USA aus und gibt auf seinen Einreiseunterlagen
an, von 1937 bis 1943 in Polen gelebt zu haben. Hätte
er Ukraine geschrieben, hätte man ihn in die Sowjetunion
abschieben können. Als Wohnort in Polen nennt er ausgerechnet
das winzige Dorf Sobibór.
Nach 1945 war Demjanjuk in verschiedenen Lagern der Alliierten
in Deutschland untergekommen, Lager für Menschen, die
sich kriegsbedingt außerhalb ihrer Heimat aufhielten.
Er hatte geheiratet und eine Tochter bekommen. In den USA
nennt er sich John, arbeitet für Ford, 1958 erhält
er die amerikanische Staatsbürgerschaft, seine Frau
bekommt noch zwei Kinder, die Familie kauft sich ein Haus
in Cleveland, Ohio, und besucht die ukrainisch-orthodoxe
Kirche.
Die Vergangenheit scheint vergessen, Mitte der Siebzigerjahre
holt sie John Demjanjuk trotzdem ein: Eine ukrainische Zeitung
in New York macht in einem Artikel auf mutmaßliche
ukrainische Nazi-Kollaborateure aufmerksam, die in den USA
leben. Sein Name steht in dem Artikel. Außerdem wird
in dem Text ein Hilfswilliger zitiert, der mit ihm in Sobibór
gedient haben will.
Plötzlich steht John Demjanjuk in der Öffentlichkeit: Über
ihn wird recherchiert, geschrieben und sein Foto gezeigt.
In Israel glauben Überlebende des Holocausts ihn darauf
zu erkennen. Allerdings sind es keine Überlebenden aus
Sobibór, sondern aus Treblinka, und Demjanjuk, sagen
sie, sei dort »Iwan der Schreckliche« gewesen,
ein Hiwi, der Juden aus Spaß die Brüste und Ohren
abgeschnitten hat.
Aus dem unauffälligen Fabrikarbeiter und Familienvater
wird ein Schlächter des Dritten Reichs. 1986 schieben
die USA Demjanjuk nach Israel ab, sein Prozess findet in
einem Kinosaal statt und läuft live im Fernsehen. 1988
verurteilt ihn das Gericht zum Tode, obwohl Indizien wie
sein Dienstausweis, auf dem als Einsatzort Sobibór
steht, dagegen sprechen. Die Richter einigen sich jedoch
darauf, dass Demjanjuk zwischen Sobibór und Treblinka
gependelt sei. 1993 wird er wieder freigelassen, weil nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion Akten aufgetaucht waren,
die beweisen, dass »Iwan der Schreckliche« ein
anderer war. Demjanjuk reist zurück in die USA. Vorerst.
Eine Frage der Ehre
Auch Erich Steidtmann baut sich nach dem Krieg eine bürgerliche Existenz auf, eine sehr deutsche Existenz: Er wird erst Polizist, dann Fahrlehrer; er tritt in die SPD ein, er zieht in einen Vorort von Hannover. Mit dem Krieg hat er schnell abgeschlossen: Aus dem Entnazifizierungsverfahren geht er 1949 als »entlastet« hervor, auch weil er – wie Demjanjuk – immer wieder lügt, wenn es um seine Rolle geht: Er sei nicht in die SS eingetreten, nicht in Lublin gewesen und Kompanieführer in Warschau nur bis 16. Januar 1943, also bereits nicht mehr zum Beginn der Morde und Deportationen am 18. Januar.
1963 wird Steidtmann zweimal von den deutschen Behörden
zu seinem Kriegseinsatz vernommen, die Ermittlungen gegen
ihn werden aber 1974 mangels Beweisen eingestellt. Nichts
Ungewöhnliches zu dieser Zeit: Die westdeutsche Justiz
ermittelte gegen mehr als 172 000 Personen wegen NS-Verbrechen.
Nicht einmal 6600 wurden rechtskräftig verurteilt, und
nur 182 davon wegen Mordes. Sechs Millionen ermordete Juden,
und nur 182 deutsche Mörder. Unter denen, die freigesprochen
wurden, sind auch fünf SS-Männer, die in Sobibór
eingesetzt waren. Vorgesetzte von Hiwis wie John Demjanjuk.
Erich Steidtmann wäre nie wieder mit seiner Vergangenheit
konfrontiert worden, hätte er nicht selbst damit angefangen:
Am 4. Januar 2007 reicht er, 92-jährig, beim Berliner
Landgericht Strafanzeige ein gegen die Autobiografie der
93-jährigen Lisl Urban, seine ehemalige Geliebte und
die Mutter seiner Tochter, »wegen Verletzung meiner
Persönlichkeitsrechte, des Verdachts der Beleidigung, übler
Nachrede u. Verleumdung durch Verbreitung in Buchform«.
Erich Steidtmann klagt gegen ein Buch, das eine Auflage
von tausend Stück hat und in dem nicht ein einziges
Mal sein Name steht: Die Autorin hat den SS-Mann in ihrem
Buch anonymisiert. Aber das spielt keine Rolle. Erich Steidtmann
geht es um seine Ehre, genauer gesagt: um seine Berufsehre
als Berufsoffizier, so steht es in seiner Klageschrift. Er
tobt sich durch die maschinengeschriebenen Bögen, eine »›angebliche
Knutscherei‹ von Parkbank zu Parkbank« in Prag,
wie von Lisl Urban im Buch erwähnt, sei »undenkbar
für einen Hauptmann in Uniform zu jener Zeit«,
er nennt die Autorin ein »Flittchen«, das nach
nur »dreistündiger Bekanntschaft« schon
mit ihm ins Bett sei, er schreibt »Männer genießen ›Flittchen‹,
heiraten sie aber nicht«, er schimpft die gemeinsame
Tochter ein »Kuckucksei«.
Und er erwähnt nebenbei, aber doch stolz, dass er Bataillonskommandant
in Warschau gewesen sei. Und dass sein Bataillon »die äußere
Absperrung des Ghettos zu gewährleisten« hatte.
Das bedeutet: Steidtmann bewachte das Ghetto.
Auf dieses Bekenntnis stößt der Historiker Stefan
Klemp im November 2007 bei der täglichen Internetrecherche,
einige Zeitungen berichten über den skurrilen »braunen
Rosenkrieg«. Die Polizei im Dritten Reich, das
ist Klemps Spezialgebiet, sein Buch Nicht ermittelt über
Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz wird von anderen
Historikern »der Klemp« genannt, es ist ein Standardwerk.
Seit einigen Jahren ist Klemp in Diensten des Simon Wiesenthal
Centers; andere nennen ihn Nazi-Jäger, aber das hört
er nicht gern, er findet, das klinge mehr nach schießen
als nach recherchieren. Klemp findet Steidtmann schnell in
den Datenbanken, als Hauptmann der Polizei, als SS-Hauptsturmführer,
als Kompaniechef in Warschau. Er ruft den Verleger des Buches
von Lisl Urban an, der mailt ihm Teile der Klageschrift.
Er bittet das Bundesarchiv, in dem die meisten NS-Akten lagern,
um Akteneinsicht, ebenso wie die Stasi-Unterlagenbehörde,
in der all das liegt, was zuvor die Stasi an Nazi-Dokumenten
gesammelt hatte. Er wird jetzt nicht mehr lockerlassen.
Er liest in Steidtmanns Vernehmungsschrift von 1963, dass
dieser zugab, im Januar 1943 an einem Kampfeinsatz beteiligt
gewesen zu sein, ein Einsatz, von dem Klemp weiß, dass
er im Zuge der Judenvernichtung im Warschauer Ghetto stattfand.
Außerdem findet Klemp jene Aussage eines Polizisten,
wonach Steidtmann auch bei der Zerstörung des Ghettos
im April/Mai 1943 dabei war. Das reicht ihm, der Anfangsverdacht
sollte damit mehr als gegeben sein, denkt er.
Am 11. Dezember 2007 schreibt Klemp eine Mail an die Zentrale
Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg,
an deren stellvertretenden Leiter, Staatsanwalt Joachim Riedel,
und regt offiziell an, im Fall Steidtmann noch einmal zu
ermitteln. Klemp und Riedel kennen sich schon länger,
der Kreis derer, die heute noch Nazi-Verbrechern nachspüren,
ist ziemlich überschaubar geworden.
Am nächsten Tag holt sich Joachim Riedel die Akten
des Falles Steidtmann in sein Eckzimmer, Raumnummer 129,
im ersten Stock des ehemaligen Frauengefängnisses, in
dem die Zentrale Stelle für NS-Verbrechen seit 1966
untergebracht ist. Er kennt den Fall Steidtmann, er hat ja
Zeitung gelesen in den vergangenen Wochen: ein klagender
Altnazi und eine Menge Medienrummel. Keine besonders verlockende
Vorstellung für Riedel, der kurz vor der Pensionierung
steht. Außerdem weiß er, dass die bisherigen
Verfahren gegen Steidtmanns Einheiten
in Hamburg liefen, dass es also eine zuständige Staatsanwaltschaft
gibt.
Natürlich könnte er jetzt umfassende Vorermittlungen
anstellen. Er kann es aber auch lassen. Ob letztlich angeklagt
wird, entscheidet sowieso nicht er, sondern die Hamburger
Staatsanwaltschaft.
Joachim Riedel beschließt, die Akte Steidtmann nach
Hamburg weiterzuleiten, »Durchläufer« nennt
man solche Fälle. Er verfasst ein Abgabeschreiben und
schickt es am 14. Dezember 2007 ab, nur drei Tage, nachdem
ihn Stefan Klemp auf Steidtmann aufmerksam gemacht hatte.
Etwa acht Wochen später, Mitte Februar 2008, arbeitet
Thomas Walther dreißig Meter den Flur entlang in Raum
109 am Schlusspunkt und Ausrufezeichen seiner Karriere. Auch
Walther steht als Jurist und Ermittler für die Zentrale
Stelle für NS-Verbrechen kurz vor der Pensionierung.
Vor ein paar Tagen ist er bei Recherchen im Internet zufällig
auf den Namen John Demjanjuk gestoßen, den Mann, der
seit seinem Prozess in Israel weltberühmt ist und auf
der Liste der meistgesuchten Nazi-Verbrecher des Simon Wiesenthal
Centers auf Platz zwei steht. Die Amerikaner wollen ihn abermals
abschieben und suchen ein Land, das ihn wegen seiner mutmaßlichen
Taten in Sobibór vor Gericht stellt. Und Thomas Walther
sucht nun einen Weg, der es möglich macht, dass dieses
Land Deutschland ist.
Er fliegt nach Jerusalem und Washington, vergleicht die Transportlisten
der Züge, die aus dem niederländischen Westerbork
Juden nach Sobibór brachten, mit den Opferlisten
der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Er kann insgesamt
nachweisen, dass zwischen April und Juli 1943, einer Zeit,
in der Demjanjuk in Sobibór gewesen sein soll, etwa
29 500 Menschen in das Vernichtungslager deportiert worden
sind.
Mindestens 27 900 davon wurden getötet, so steht es
später in der Anklageschrift, und rund 1990 Opfer sind
deutsche Juden gewesen. Weil der Hilfswillige Demjanjuk darüber
hinaus deutscher Amtsträger war, ist klar, dass ein
deutsches Gericht zuständig sein kann für einen
Mann, der niemals Deutscher war.
Dann entwickelt Walther eine Theorie, die es juristisch
möglich machen soll, einen Mann zu verurteilen, dem
man keine Einzeltat nachweisen kann – ein juristisches
Novum in Deutschland. NS-Tätern musste bisher ein konkreter
Mord oder die Beihilfe dazu bewiesen werden, dafür gibt
es bei Demjanjuk aber weder Zeugen noch Beweise. Doch Walther
argumentiert, dass im Vernichtungslager Sobibór das
Verhältnis von Tätern zu Opfern dermaßen
gegensätzlich gewesen sei – etwa 140 zu 27 900 –,
dass jeder, auch jeder ukrainische Hilfswillige, in den Tötungsablauf
von der Rampe bis zur Gaskammer eingebunden war.
Im November 2008, passend zum 50-jährigen Bestehen
der Zentralen Stelle für NS-Verbrechen, präsentiert
Thomas Walther die Ergebnisse seiner Recherche, mit dem Hinweis,
dass man Demjanjuk nun endlich
den Prozess machen kann. Die Ermittlungsakten werden an die
Staatsanwaltschaft München weitergereicht, weil Demjanjuks
letzter Wohnort in Deutschland Anfang der Fünfzigerjahre
im Münchner Gerichtsbezirk lag.
Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz übernimmt den Fall.
Auch Lutz fliegt noch einmal nach Israel und lässt sich
in Polen von einem der Sobibór-Überlebenden den
Ort zeigen, wo damals das Lager stand. Er sorgt dafür,
dass vor Gericht Zeugen vernommen werden, ein 93-jähriger
einstiger ukrainischer Hilfswilliger zum Beispiel, der mit
Demjanjuk zusammen im KZ Dienst gehabt haben will. Allerdings
nicht in Sobibór, sondern erst nach Demjanjuks Versetzung
im Herbst 1943 in Flossenbürg. Zumindest widerlegt diese
Aussage Demjanjuks eigene Angaben, zwischen 1942 und 1944
in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen zu sein. Das hatte
er in den Achtzigerjahren während seines Prozesses in
Israel ausgesagt.
Eines der wichtigsten Argumente der Staatsanwaltschaft für
Demjanjuks Schuld ist aber nach wie vor sein Dienstausweis,
Nummer 1393: Ein Indiz, kein unmittelbarer Beweis, das ist
das Problem, Staatsanwalt Lutz weiß das. Er kennt sich
aus mit den Verbrechen im Dritten Reich, in den vergangenen
drei Jahren hat er mehr als fünfzig Verfahren gegen
NS-Täter geführt. Er ist in München Sonderermittler
für nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Nur noch
drei Staatsanwaltschaften in Deutschland haben eine solche
Stelle. Nach sechs Monaten, im Juli 2009, schließt
Lutz die Klageschrift gegen John Demjanjuk ab.
Das Problem: Keine konkrete Tat
Die Hannoveraner Oberstaatsanwältin Angelika Gresel
ist weder Sonderermittlerin noch Spezialistin für NS-Verfahren,
sie ist Leiterin der Abteilung 11 und damit verantwortlich
für Pressesachen, Verfahren gegen Beamte und ausländerfeindliche
Straftaten. Darunter fallen auch NS-Verbrechen, es sind aber
nicht besonders viele Fälle gewesen, seit sie 2006 in
diese Behörde kam. Nämlich einer. Steidtmann ist
der zweite. Seine Akte landet im September 2008 in ihrem
Büro im sechsten Stock des Hannoveraner Justizgebäudes – nach
einem Umweg über die Staatsanwaltschaft Hamburg, die
acht Monate braucht, um festzustellen, dass sie nicht zuständig
ist.
Nur: Eine bibeldicke Akte wie im Fall von Erich Steidtmann,
mit Dutzenden Zeugenaussagen, Einschätzungen von Staatsanwälten
und Originaldokumenten, liest man nicht mal eben zwischendurch. Über
Angelika Gresels Schreibtisch gehen aber Monat für Monat
150 bis 200 Verfahren. Nicht jedes muss sie eigenhändig
bearbeiten, dafür hat sie ihre Dezernenten, aber sie
muss auf alle einen Blick behalten.
Mit Steidtmann beschäftigt sie sich an den Abenden
und am Wochenende.
Nachdem sie die Akte gelesen hat, ist sie skeptisch. Ihr
fehlt eine konkrete Tat. Ein Mord oder eine Beihilfe zum
Mord. Beides findet sie nicht in den Akten. Außerdem
sind wohl kaum mehr Zeugen am Leben, die Beweislage dürfte
nicht besser geworden sein seit den ersten Ermittlungen,
und Angelika Gresel scheint vieles zu schwammig, zu zweifelhaft
und nicht wirklich zu belegen. Und über Steidtmanns
Behauptung, er sei zur Zeit der »Aktion Erntefest« auf
Heimaturlaub
gewesen, urteilten 1974 die Ermittler: »Die Einlassung
des Beschuldigten ist nicht zu widerlegen.«
Dem schließt sich Angelika Gresel an und stellt Ende
Januar 2009 das Verfahren gegen Erich Steidtmann ein. Sie
entwickelt keine Theorie, sie fliegt nicht durch die Welt,
sie vernimmt keine Zeugen und sie verzichtet auch darauf,
Erich Steidtmann zu vernehmen – »in Anbetracht
seines hohen Alters«, wie sie der Zentralen Stelle
für NS-Verbrechen schreibt. Obwohl Steidtmann kurz zuvor
bewiesen hat, dass er sich für verhandlungsfähig
hält: Er war ja selbst vor Gericht gegangen, gegen Lisl
Urban.
München, 2009/2010
John Demjanjuk hält sich nicht für verhandlungsfähig,
aber die Ärzte sagen, dass er es ist. Am 30. November
beginnt sein Verfahren am Münchner Landgericht, und
die halbe Welt ist angereist, dabei zuzusehen: Angehörige
von Sobibór-Opfern und Holocaust-Überlebende,
Journalisten aus den USA, Israel, den Niederlanden und Deutschland,
die in den vergangenen Tagen unermüdlich vom »letzten
großen NS-Prozess« geschrieben haben, stehen
an diesem Morgen stundenlang vor dem Gerichtsgebäude
Schlange: Der Saal A 101 ist mit seinen 136 Plätzen
viel zu klein für diesen Andrang.
Während der ersten Prozesstage werden die Nebenkläger
gehört: traurige, alte Menschen, aber mit entschlossenen
Mienen, die ihre Familien in Sobibór verloren haben
oder zu den wenigen gehören, die das
Lager überlebten. Fragt man sie in den Prozesspausen,
warum sie die weite Reise nach München auf sich genommen
haben, sagen sie, dass es ihnen wichtig gewesen sei, ihre
Geschichte zu erzählen. Solange sie noch leben.
Und fragt man in den gleichen Pausen Schüler, die mit
ihrer Klasse den Prozess besuchen, ob sie es richtig fänden,
einen 90-jährigen Mann wie Demjanjuk vor Gericht zu
stellen, sagen sie, dass es wichtig sei, die Täter zu
bestrafen. Solange sie noch leben.
John Demjanjuk sagt vor Gericht nichts. Am Ende jedes Prozesstages
wird er zurück nach Stadelheim gefahren, in seine Zelle
mit dem Holzkreuz, zu seinem Zellennachbarn, der nur deutsch
spricht, in seine Welt, in der niemand nach der Vergangenheit
fragt. Eigentlich sollte über ihn im Mai geurteilt werden,
doch nun sind schon Termine für September angesetzt.
Wenn der Richter Demjanjuk schuldig spricht, wird es wohl
kaum der »letzte große NS-Prozess« gewesen
sein. Es werden bereits neue Verfahren geprüft, auch
gegen Zeugen aus dem Demjanjuk-Prozess, die wie der Angeklagte
Hilfswillige waren.
Und auch Erich Steidtmann wird sich wohl doch noch einmal
mit all dem beschäftigen müssen, was damals war,
im Warschauer Ghetto und auf der Wiese hinter dem KZ Majdanek:
Aufgrund der Recherche des SZ-Magazins, die nahelegt, dass
Steidtmann als Kompanieführer am »Erntefest«-Massaker
beteiligt war, entscheidet Oberstaatsanwältin Angelika
Gresel am 13. April 2010, die Ermittlungen wieder aufzunehmen.
Das Ortskürzel »O.U.« wird nun doch eine
Rolle spielen. ---
Als die beiden Redakteure des SZ-Magazins Christoph Cadenbach,
30, und Bastian Obermayer, 32, für diese Geschichte
Dutzende Dokumente aus den Archiven der Nachkriegsjustiz
lasen, waren sie immer wieder erstaunt, wie dreist die Täter
damals logen und wie gern die Ermittler bereit waren, selbst
den krudesten Erklärungen zu folgen. In einem Fall behaupteten
13 Männer derselben Kompanie, sie seien nur als Köche
dabei gewesen. Die Kompanie hatte drei Köche. Außerdem
erfuhren Cadenbach und Obermayer, dass die alten Kameradschaften
noch immer bestehen: Ein Ermittler erzählte ihnen, dass
sich greise Mitglieder derselben Einheit immer noch telefonisch
absprechen, wenn sie vor Gericht aussagen sollen. Der Ermittler
hatte die Telefone der alten Männer überwacht.
Wer sich in das Innenleben solcher Prozesse vertiefen will,
dem sei Stefan Klemps Buch Nicht ermittelt empfohlen sowie
Christopher R. Brownings Ganz normale Männer, das zeigt,
wie aus gewöhnlichen Menschen Massenmörder wurden.
Wer sich noch weiter für das Warschauer Ghetto interessiert,
sollte Der Ghetto-Aufstand von Wolfgang Scheffler und Helge
Grabitz lesen, die eindrucksvolle Augenzeugenberichte und
Zeugenaussagen von Opfern und Tätern zusammengetragen
haben.
Sehr lesenswert sind auch die beiden Bücher Vernichtungslager
Sobibór von Jules Schelvis und Nur die Schatten bleiben
von Thomas Blatt, die beide Sobibór überlebten
und im Demjanjuk-Prozess als Nebenkläger auftreten.
Jeder, der sich für dieses Thema interressiert, sollte
aber auf jeden Fall den Demjanjuk-Prozess in München
besuchen, der noch bis mindestens September 2010 läuft. "Besser
als jedes Geschichtsseminar", sagt Cadenbach, der den
Prozess in den letzten Wochen verfolgte.
sz-magazin.sueddeutsche.de
|