Die
größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts liegt
nun zwar 66 Jahre zurück, doch noch immer sind einige
der Täter von damals am Leben und auf freiem Fuß.
So wie der 92-jährige Ukrainer John Demjanjuk, der zu
Beginn des Jahres 2011 für seine Rolle während
des Holocausts von einem Gericht in München zu fünf
Jahren Haft verurteilt wurde. Dass der Prozess überhaupt
noch zu Stande kam, ist der langwierigen und hartnäckigen
Arbeit der Zentralen Stelle und ihres Leiters, Oberstaatsanwalt
Kurt Schrimm zuzurechnen. Die ZS ist die Behörde in
Deutschland, die seit 54 Jahren mit der Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen betraut ist und nun dank neuer Rechtslage, die
greisen Henker, die weltweit noch am Leben sind, ihrer gerechten
Strafe zuführen will.
VICE: Was war der erste Fall, mit dem sich die Zentrale
Stelle beschäftigt hat?
Kurt Schrimm: Der erste Fall war wohl das Frankfurter Auschwitz-Verfahren
im Jahr 1963. Das war dann auch die Geburtsstunde der Zentralen
Stelle und für viele weitere Verfahren, da dort von
Dingen berichtet wurde, die vorher nicht oder so nicht bekannt
waren. Man erkannte dann eigentlich erst in aller Deutlichkeit,
dass es eine Arbeit werden sollte, die nicht in ein paar
Jahren erledigt werden konnte.
Wie wurden die Verbrechen des NS-Regimes in den Jahren zuvor
aufgearbeitet?
Es war ja erstmal so, dass die Alliierten sich vorbehalten
hatten, diese Prozesse durchzuführen. Sie hatten die
Gerichtshoheit bis zum 1. Januar 1950 für diese Materie.
Und in dieser Zeit wurden ja bereits viele Tausende sogar
Zehntausende der Täter verurteilt. Als dann die Gerichtshoheit
1950 auf die Bundesrepublik überging, tat man sich aber
aus mehreren Gründen zunächst sehr schwer.
Was für Gründe waren das damals?
Zum einen gab es keine Erfahrungen mit Prozessen dieser Art,
weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft noch die
Gerichte. Vor allem die Polizei und die Staatsanwaltschaft
waren für solche Art von Prozessen nicht geschult.
Man wusste, da war Auschwitz. Da ist nie was geschehen,
aber es waren schon 5 Jahre vergangen seit dem Krieg. Wo
waren die Zeugen, wer waren die Beschuldigten? Man tat
sich damals sehr schwer mangels Erfahrung. In den 1950er
Jahren gab es auch eine Schlussstrichmentalität. Nicht
nur in Deutschland sondern in der gesamten westlichen Hemisphäre.
Es gab keine zuständige Staatsanwaltschaft, die sich
der Sache annehmen konnte. Und es führt dann zur Gründung
der zentralen Stelle, die die Aufgabe hatte und hat, unabhängig
vom Tatort und zunächst mal unabhängig von der
Person des Täters den Sachverhalt festzustellen.
1965 waren laut damaliger Rechtsprechung die Morde, die
damals in der NS Zeit begangen wurden, nach 20 Jahren verjährt
und obwohl dies abgeschafft wurde, gab es kaum Fälle
in den 60er und 70er Jahren.
Wenige Fälle würde ich nicht sagen. Was die Verjährung
anbetrifft, hat man sich zunächst mit einem rechnerischen
Trick beholfen, man sagte 1945-1950 durfte die Bundesrepublik
nicht verfolgen, also beginnt die Verjährung erst 1950.
So hatte man Zeit bis 1970. Und dann wurde ja die Verjährungsfrist
1979 vollständig aufgehoben. Um Zahlen zu nennen, es
wurden etwa 106.000, 107.000 Verfahren eingeleitet. Verurteilungen
gab es etwa sechseinhalb tausend.
Zwischen 106.000 Anträgen auf Strafverfolgung und nur
6000 Verurteilungen liegt eine ganz schöne Diskrepanz
...
Ja, die ist zum Teil auch künstlich gemacht worden.
Man wusste, dass aus einer bestimmten Kompanie heraus Verbrechen
begangen wurden. Die Täter konnten aber noch nicht festgestellt
werden. Also hat man gegen sämtliche Angehörige
dieser Kompanie zum Tatzeitpunkt Verfahren eingeleitet, obwohl
man wusste, dass nur zwei oder drei letztendlich übrig
bleiben würden und der Rest fallen gelassen werden musste.
Ist das auch der Grund, weswegen in der Geschichte der Bundesrepublik
nur 157 Mal lebenslange Haft verhängt wurde? Es erscheint
einem nicht gerade viel ...
Das liegt überwiegend an der Rechtsprechung damals.
Zunächst hat man über Jahrzehnte die Auffassung
vertreten, dass als Täter nur Hitler, Himmler, Heidrich,
Göring und ein paar andere führende Köpfe
der damaligen Regierung zu zählen seien. Alle anderen
handelten nur auf Befehl und waren Gehilfen und sie Strafe
muss gemindert werden. Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtssprechung
zwischenzeitlich in dieser Form aufgegeben und sie im Laufe
der Zeit mit Bedauern zurückgenommen.
Sie haben sich selber auch mit den Opfern wie auch den Verbrechern
persönlich unterhalten. Wie verarbeitet man diese Belastung?
Es ist so, dass die ... ich sag erstmal von der Opferseite.
Es hat ein gewisses Umdenken bei mir stattgefunden oder ein
gewisser Lernprozess. Als ich mich das erste Mal damit befassen
musste, war das 1982 und ich habe mich damals auch selber
gefragt, macht es überhaupt Sinn, 30 Jahre nach Kriegsende
noch Strafverfolgung zu betreiben. Durch den Kontakt mit
vielen Opfern oder Überlebenden habe ich die Frage für
mich zwischenzeitlich sehr gut beantworten können. Wir
sind es den Opfern tatsächlich schuldig, dass wir uns
auch heute noch darum bemühen und nicht einfach sagen: „Deckel
drauf, das ist vorbei“. Das Opfer kann auch nicht sagen,
da sind 20 Angehörige von mir umgebracht worden und
jetzt „Deckel drauf, das ist vorbei“. Der Umgang
mit Tätern war bei mir immer sehr, muss ich sagen, unemotional.
Anders kann man diese Dinge nicht betreiben. Das sind Leute,
wo ich mich jedes Mal gefragt habe, wie unbescholtene, normale
Bürger innerhalb so kurzer Zeit dazu kommen, Massenmörder
zu werden.
Was waren Ihre Beobachtungen im Umgang mit den Tätern?
Waren es angepasste Menschen oder Psychopathen, die Lust
am Morden verspürt haben?
Es waren Menschen völlig normaler, unauffälliger
Herkunft. Sie haben sich vor dem Krieg unauffällig verhalten
und auch nach dem Krieg waren sie unauffällig. Ein Kollege
von mir, sagte einmal, dass er noch keinen einzigen Eintrag
bei seinen Beschuldigten gefunden hätte, dass sie irgendeine
strafbare Handlung nach dem Krieg begangen haben. Auffälligkeiten
wie bei Ihnen und mir, die hat jeder, aber es gibt keine
Auffälligkeiten im Sinne eines pathologischen Befundes.
Haben Sie für sich selbst eine Erklärung gefunden,
wie es dann zu diesen Gräueltaten kommen konnte?
Da könnte ich Ihnen beinahe für jede Person, die
ich angeklagt habe, eine differenzierte Erklärung liefern.
Aber wenn Sie fragen, wie es zu diesen Gräueltaten kam:
Es war eine unpassende Mischung, die sich jederzeit wiederholen
kann. Man braucht einen Unzufriedenen. Man braucht einen
Schuldigen, also den Grund für diese Unzufriedenheit.
Man braucht einen Retter und man braucht noch Helfer, denen
man sagt, sie können tun und lassen, was sie wollen,
da sie für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen
werden. Dieser Mix wird so nicht dieses Jahr, nicht nächstes
auch nicht und in zehn Jahren in der Bundesrepublik wieder
auftauchen, doch allgemein auf die Menschheit verteilt bestimmt
und dann erleben Sie so etwas wieder. Das ist das Pessimistische,
was ich in meiner Arbeit sehe ...
Was schätzen Sie, wie viele noch auf der Flucht sind,
sich versteckt haben oder in ein normales Leben geflohen
sind?
Von Helfern gibt es keinerlei genaue Zahlen, von hochrangigen
Personen werden namentlich, noch Aribert Heim und Alois Brunner
gesucht. Von beiden denke ich aber, dass sie nicht mehr am
Leben sind. Das ist auch das Problem, was wir heute haben.
Wir sind zwar sehr viel unterwegs, wir erfahren viel dabei,
doch für uns wird es immer schwieriger, das zu beweisen.
Es gibt keine Zeugen mehr, keine Überlebenden.
Kann man sagen, dass Ihrer Arbeit durch die Zeit irgendwann
zwangsläufig ein Ende gesetzt werden wird?
Ich habe schon 1990 Leute angeklagt und zahllose Presseberichte
schreiben: „Der letzte große Fall“. Das
war vor 20 Jahren. Vor zwei Jahren hätte ich auch noch
nicht an Demjanjuk gedacht. Aber natürlich, die Tendenz,
was die Verurteilung und Anklage anbetrifft, geht gegen Null.
Aber die Ermittlungsmöglichkeiten bestehen noch und
so lange machen wir auch weiter. Unabhängig vom Alter,
vom mutmaßlichen Alter des Täters und auch vom
Gesundheitszustand.
Im kürzlich erfolgten Urteil im Fall Demjanuk gibt
es zwei wegweisende Entscheidungen. Zum einen stand ein nicht-deutscher
Befehlsempfänger vor Gericht, der ohne konkreten Nachweis
einer Tat verurteilt wurde. Das hat ja für Ihre Stelle
neue Möglichkeiten der Verfolgung eröffnet.
Wir werden versuchen, Verfahren wieder aufzugreifen, in denen
gleichgelagerte Umstände vorhanden waren, und versuchen,
die Vernichtungslager nochmals durchzusehen. Diese Lager
hatten ausschließlich das Ziel, jeden Menschen, der
dort hinkommt, umzubringen. Nach unseren neuen Erkenntnissen
war jeder, der in Sobibor dabei war, Teil dieser Vernichtungsmaschine
und wusste, was dort geschah und kann sich nicht darauf berufen „mir
ist das entgangen“.
Auch in dem Demjanjuk-Prozess gab es das moralische Dilemma.
Er war Kriegsgefangener und die Nazis haben ihn zum Dienst
in Sobibor gezwungen.
Dieses moralische Dilemma existiert bei sämtlichen Verurteilungen
in der damaligen Zeit, doch es gibt keinen einzigen, wirklich
keinen einzigen nachgewiesenen Fall, dass, wenn sich jemand
weigerte, jemand anderen zu erschießen, er dadurch
selbst ums Leben kam. Trotzdem ist das ein Fall von Putativnotwehr
und der ist in der Tat sehr, sehr schwer zu lösen.
Erfahren Sie eine gewisse Art von Genugtuung, wenn ein Urteil
gesprochen wird?
Im Falle Demjanjuk muss ich sagen: Ja. Keine persönliche
Genugtuung, ich kenne den Mann ja nicht, habe ihn nie gesehen
bis zur Anklage im Gericht. Und ich stehe dem neutral gegenüber.
Aber was unsere Arbeit anbetrifft, natürlich. Das waren
zwei Kollegen, die acht Monate nur mit diesem Fall beschäftigt,
das ist ein ungeheurer Arbeitsaufwand und wenn der dann zum
Erfolg führt ...
Wie läuft die Arbeit der Zentralen Stelle nun nach
dem Demjanjuk-Urteil weiter?
Alle sieben Ermittler meiner Stelle sind damit befasst, alte
Fälle nach Demjanjuk nochmal auszusuchen und zu analysieren.
Wir gehen nächste oder übernächste Woche nach
Brasilien, da wir dort seit geraumer Zeit nach bestimmten
Akten suchen.
Das sind Berichte an die brasilianische Regierung, in denen
drin steht: „Herr Müller aus Hamburg möchte
nach Brasilien einreisen und brasilianischer Staatsbürger
werden. Wir empfehlen der brasilianischen Regierung diese
Person nicht aufzunehmen, da sie in folgende Verbrechen verwickelt
war.“ Wenn wir diese Akten finden würden, das
wäre natürlich für uns, um es mal etwas flappsig
auszudrücken, wie Weihnachten und Ostern an einem Tag.
Einen Namen und das dazugehörige Verbrechen.
Sind aktuell noch Verfahren am Laufen?
Es sind zwei Verfahren, die wir nach München abgegeben
haben und die einen gewissen Erfolg bringen könnten.
Darüber darf und kann ich jedoch zu diesem Zeitpunkt
nichts sagen, da nun die Staatsanwaltschaft dort zuständig
ist und erst noch Anklage erheben muss. Im Moment arbeiten
wir zudem aber noch an 20 bis 30 weiteren Anträgen auf
Verfahren, die wir stellen wollen. Das ist aber eine Zahl,
die sich sehr schnell nach oben hin ändern kann.
Wie stellen Sie sich das Ende ihrer Arbeit vor? Erst wenn
der letzte Täter verurteilt wurde?
Es gibt für uns zwei Möglichkeiten aufzuhören.
Wir arbeiten daran, dass wir alle Quellen, die es noch gibt,
ausschöpfen und wir nichts mehr zu tun haben, weil wir
einfach nicht wissen, was. Wir haben so einige Länder,
wo wir sagen können, es gibt für uns hier nichts
mehr, wie zum Beispiel Argentinien, das ist ausgeschöpft.
Vielleicht können wir in drei, vier Jahren sagen, wir
haben nichts mehr zu tun, wir wissen alles. Die andere Sache
wäre, indem wir sagen, es gibt keinen freilaufenden
Naziverbrecher mehr. Das ist aber sehr schwierig, die Leute
können 100 werden oder älter und die können
da drüben wohnen, auf der anderen Straßenseite.
vice.com
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