Der
neue Bundespräsident überhäuft die polnischen
Nachbarn mit Komplimenten. Schon 2009 hatte Joachim Gauck
angekündigt: „Wenn die nächste Diktatur (in
Deutschland) kommt, gehe ich nach Polen.“ (1) Vorläufig
kann er es bei einem Besuch belassen. Die Entscheidung, dass
Komoroeski - Gauckseine erste Auslandsreise in „das
europäische Land der Freiheit“ gehen soll, betont
er, „kam von Herzen“. Spätestens als ihm
sein Gastgeber, Präsident Komorowski, ein Wahlplakat
der Gewerkschaft Solidarnosc – sie hatte zum Ende des
real existierenden Sozialismus in Polen und in ganz Osteuropa
beigetragen – überreicht und Gauck überglücklich
reagiert, ist auch der letzte Zweifel an der Aufrichtigkeit
dieser Liebeserklärung ausgeräumt. Der Hass auf
alles, dem das Label „Kommunismus“ verpasst werden
kann, verbindet über Grenzen hinweg. Wenn es gegen die
Roten geht, dann stören auch revisionistische und geschichtsfälschende Äußerungen,
wie sie Gauck im Nachwort des Schwarzbuch des Kommunismus
verewigt hat, nicht die neue Harmonie: „Einheimischen
wie Vertriebenen galt der Verlust der Heimat als grobes Unrecht,
das die Kommunisten noch zementierten, als sie 1950 die Oder-Neiße-Grenze
als neue deutsch-polnische Staatsgrenze anerkannten",
hatte er 1998 behauptet (dass die Abtretung ehemals deutscher
Gebiete an Polen ebenso von den westlichen Alliierten forciert
wurde, ficht ihn nicht an). Gauck darf das. Er ist längst
nicht mehr nur der Präsident der deutschen, sondern
auch der „polnischen Herzen“, meint zumindest
die Mittelbayerische Zeitung.
„Messias oder einfach ,nur‘ ein Bundespräsident?“
Auch diesseits der deutschen Ostgrenze Begeisterung, wohin
man nur schaut: Die für seine Verhältnisse moderate
Antrittsrede kam gut an. Ein Kessel Buntes mit Lobpreisung
des „Demokratiewunders“, einem Bekenntnis zu
Europa, einer klaren Absage an die „paternalistische
Fürsorgepolitik“ und linken und rechten Extremismus.
Und „den Islamisten schrieb er ins Stammbuch: ,Die
Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet
ihren Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten
könnt ihr ihn nicht‘“, triumphierte Die
Welt. Er ließ freilich auch die dunkle NS-Vergangenheit
nicht aus und würdigte ihre Aufarbeitung. Vor allem
aber versuchte Gauck zu begeistern für die Aufbauleistungen
in der Adenauer-Ära und den „nächsten Erinnerungsschatz“:
die „friedliche Freiheitsrevolution“ von 1989.
Seine Schatzsuche sei „kein Paradigmenwechsel in der
Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung“,
beschwichtigte er alle, die Böses dabei denken könnten.
„Es war eine Rede, wie man sich modernen Patriotismus
vorstellt", schwärmte Baden-Württembergs grüner
Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Die Süddeutsche
Zeitung prognostiziert in ihrer Onlineausgabe: „Wenn
er so weitermacht, wird er ein großer Präsident
sein können.“ Auch die Stars sind hingerissen. „Ich
habe in ihm schon immer die richtige moralische Instanz für
dieses Land gesehen“, meint Modedesigner Wolfgang Joop.
Filmregisseur Sönke Wortmann weiß: „Joachim
Gauck wird Deutschland gut tun.“ Kein Wunder, dass
tagessschau.de die Frage in den öffentlichen Raum stellte: „Messias
oder einfach ,nur‘ ein Bundespräsident?“ Was
ist sein Erfolgsgeheimnis?
„Freiheit ist das einzige, was zählt …“
Als Joachim Gauck noch ein gewöhnlicher Sterblicher
war, tingelte er viele Jahre als Handelsvertreter einer heiß begehrten
Ware durch die Lande: Freiheit. Bis heute bringt er keinen
Satz zu Ende, ohne das magische Wort mindestens einmal ausgesprochen
zu haben. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Gauck einen
vom Neoliberalismus geprägten Freiheitsbegriff verfolgt: „Wer
die Freiheit liebt, wird sich dahin bequemen müssen,
Freiheit auch in den Wirtschaftsprozessen zu wollen“,
fordert er ganz nüchtern, wenn er bei der FDP zu Gast
bei Freunden ist. (2) Aber auf der Straße sind seine
großen Freiheitsreden von demselben ,Wir sind das Volk‘-Pathos
getragen wie Marius Müller-Westernhagens Mauerfall-Hymne: „Freiheit,
Freiheit, ist das einzige, was zählt.“ In dem
Text heißt es weiter: „Alle, die von Freiheit
träumen, sollen‘s Feiern nicht versäumen,
sollen tanzen auch auf Gräbern.“
Das hat sich Joachim Gauck in keiner Phase seines Wirkens
zweimal sagen lassen. Er hält keinen seiner Vorträge über
die Freiheit, ohne ihre 1989 untergegangene, seines Erachtens
offenbar satanische Antithese noch einmal in allen ihren
Facetten zu entfalten. Der „fundamentale Antisozialist“ (Daniela
Dahn) berichtet von der „Gefangenschaft“ im „Herrschaftskommunismus“ der
DDR. „Den Begriff ,Bürger‘ lehnt Gauck für
die DDR-Bevölkerung genauso ab wie den Begriff ,Bewohner‘“,
skizziert der Autor Lothar Zieske in der Zeitschrift Ossietzky
das Ausmaß der Idiosynkrasie des ehemaligen Leiters
der Stasi-Unterlagen-Behörde gegen den real existierenden
Sozialismus. „Denn weder hätten die Menschen in
der DDR Bürgerrechte gehabt noch hätten sie ihr
Haus DDR auf- und zuschließen können. Er greift
deshalb zum Begriff ,Insassen‘ – als sei die
DDR eine geschlossene Anstalt oder ein Gefängnis gewesen.“ (3)
„Unterworfener“, „Leidender“ und
in der „Minderheit“
Nach Ansicht Gaucks war sie es. Mit gebrochener Stimme erzählt
er eine bewegende Vater-Sohn-Geschichte aus der DDR. Die
beiden stehen in Warnemünde auf einer Mole und schauen
einem großen Schiff hinterher. Da will er mitfahren,
sagt der Junge. Sein Vater muss ihm aber eine bittere Wahrheit
eröffnen: Der Dampfer fährt nach Dänemark,
klärt er den Sohn auf und zeigt nach Westen. „Da
hinten, weißt du, da ist die Freiheit …“ Gauck
redet gern über seine „Erfahrungslast“.
Immerhin sei er ein Europäer, „der 50 Jahre seines
Lebens nicht dazugehören durfte und der schließlich – seit
seinem 50. Lebensjahr – nicht nur leidend, sondern
auch gestaltend daran mitwirken durfte, dass sich das ändern
sollte“, erinnert der Pastor, der in der DDR eine Reihe
von Privilegien genossen hatte, eindringlich daran, dass
nicht zuletzt auch er ein Opfer des Kommunismus ist. (4) „Wir
waren Unterworfene“, sagt Gauck. (5) Er ist davon überzeugt,
er gehöre zu der „Minderheit“, die „den
Text des Hohelieds der Freiheit kann“. (6) „Hier
spricht ein Mensch mit einer großen Lebenserfahrung
in einem totalitären System, der das alles verarbeitet
hat“, winkte der ehemalige CDU-Ministerpräsident
Baden-Württembergs Erwin Teufel vor einigen Wochen während
einer Vorstellung des Kandidaten für das Bundespräsidentenamt
in Stuttgart allen mit dem Zaunpfahl, die immer noch nicht
verstanden haben: (7) Niemand kennt die Heimtücke der „kommunistischen
Diktatur“ besser und hat mehr Recht, sie anzuklagen,
als seine Opfer – allein deshalb gebührt Gauck
ein unantastbarer Status als Ankläger und Richter.
Wenn er in seinem Festvortrag zur Erinnerung an den Widerstand
vom 20. Juli 1944 von „Märtyrern der Freiheit“ spricht,
muss das Publikum sehr bald feststellen, dass es längst
nicht nur um Goerdeler um von Witzleben geht, sondern auch
die Opposition in den „schlimmen Zeiten“ der
DDR. Und es dauert nicht lange, bis Gauck bei seinem Leib-
und Magenthema ist: Bei sich und seinen Widerstandstaten. „Für
meine Freunde und mich war das ein unglaublich starkes Erleben,
dass aus elementarer Schwäche und Ohnmacht heraus plötzlich
Mut und Vollmacht wurde“, umgibt er sich mit der Aura
eines Barrikadenkämpfers und räumt generös
ein: „Wir hatten in der Zeit günstigere Voraussetzungen
als die Naziwiderständler oder auch die 53er- und 56er-Revolutionäre
gegen das Sowjetsystem.“ Worin bestand Gaucks heroischer
Kampf eigentlich? Der Geistliche erklärt, er habe als
Jugendlicher „manchmal“ an den Massenaufmärschen
in der DDR teilgenommen. „Merkwürdig dieses Schimpfen,
bevor man sich versammelte und an der Tribüne vorbeizog.
Und dieses Witzeln und das Schelten hinterher, wenn man schnell
den Weg in die nächste Kneipe suchte“, erinnert
er sich. Welche Fanale er über das „Witzeln“, „Schimpfen“ und
die Aufenthalte in Schankwirtschaften, die in der DDR keineswegs
illegal oder gesellschaftlich geächtet waren, hinaus
gesetzt hat – das erfährt der Zuhörer nicht.
(8)
Wutbürger gegen die „antikapitalistische Welle“
Offenbar hat Gauck auch nichts vorzuweisen. Selbst das Mantra,
er sei „Bürgerrechtler“ gewesen und deshalb
als Bundespräsident besonders geeignet, das jahrelang,
in den vergangenen Wochen unter Hochdruck vom parlamentarischen
Establishment unisono verbreitet wurde, verstummt allmählich,
seit sich namenhafte Dissidenten zu Wort melden, weil sie
diese Lüge nicht mehr länger aushalten wollen.
(9) Die neue Parole lautet: Die Frage, ob Gauck Bürgerrechtler
gewesen ist, sei völlig unerheblich – entscheidend
sei sein Engagement als „Freiheitslehrer“.
Die Tatsache, dass sich die politische Klasse – je
nach machtpolitischer Wetterlage – für ihr „Geschwätz
von gestern“ meist schon kurz nachdem sie es öffentlich
zu Gehör gebracht hat, nicht mehr interessiert, ist
wahrlich nicht neu. In diesem Fall könnte die Elastizität
ihrer Argumentation allerdings ihren Grund darin haben, dass
Gaucks angebliche Zivilcourage oder querdenkerische Tugenden
von vornherein nur vorgeblich eine Rolle spielten. Alles
nur Gauckelei? „Im Zeitalter des trotz aller Verheerungen
ideologisch noch immer hegemonialen Neoliberalismus, dessen
Kern ein sozialdarwinistischer Freiheitsbegriff ist, stilisiert
sich Gauck als Mitglied einer Minderheit, die der Freiheitsfreunde“,
beschreibt Lothar Zieske eine hervorragende Qualität
des neuen Bundespräsidenten: (10) Er hat Chuzpe. Gauck
traut sich etwas, was das politische Establishment nicht
wagt – und (sich) auch nicht leisten kann: Hochgerüstet
mit der moralischen Autorität eines Opfers und Widerstandskämpfers
gegen „die roten Diktatoren“ fungiert der „parteilose
Liebhaber der Freiheit“ (Gauck über Gauck) als
ihr Rammbock, wirbelt historische Ereignisse, Verhältnisse,
Protagonisten des NS-Staates, der DDR und anderer ehemaliger
sozialistischer Länder durcheinander, verwischt fundamentale
Unterschiede zwischen Faschismus und Kommunismus, relativiert,
verformt deutsche Geschichte, bricht Tabus, wie es ihm und
seiner Klientel gefällt.
Seit Beginn der Finanzkrise und dem von den Verantwortlichen
und Profiteuren mit Sorge beobachteten Einsetzen von Massenprotesten
gegen Bankenrettungsschirme und Sozialkürzungen steht
Gauck mit an der Spitze der Bewegung von neokonservativen
Wutbürgern gegen die „antikapitalistische Welle“.
Der Transatlantiker wettert gegen jene, die die „Systemfrage
stellen, ohne je eine System-Alternative gesehen zu haben“ und
bezichtigt sie, sich einer „Angststrategie“ zu
bedienen. (11) Seine Forderung nach einem „antikommunistischen
Diskurs“ gegen „dumpfen und unaufgeklärten
Antikapitalismus“ klingt wie eine Kriegserklärung. „Es
gibt keinen Grund, mit Kommunisten milde umzugehen“,
meint er. (12)
Einebnung des Unterschieds zwischen Zuchthaus und Zyklon
B
Einen derart aggressiven Feldzug gegen die Linke von gestern
und heute und das „verführerische Angebot der
kommunistischen Ideologie“ zugunsten eines totalitärer
werdenden Kapitalismus zu legitimieren, bedarf es Totschlagargumente.
Daran mangelt es Gauck nicht: „Soziale Fürsorge – das
kann ein guter Diktator auch“, höhnt Gauck und
fragt in einem Atemzug: „Wer konnte nicht alles in
Hitlers Diktatur Karriere in der Armee machen?“, und „wer
konnte nicht im Sozialismus aufsteigen aus Kreisen, die bildungsfern
waren?“.
Mit der Geschicklichkeit eines Hütchenspielers redet
Gauck sein Publikum mit kruden Vergleichen, Zeitsprüngen
zwischen dem Jahr der Machtergreifung und dem des Mauerbaus
oder Ortswechseln zwischen Babi Jar und Bautzen schwindelig.
Ob Nürnberger Rassengesetze oder der Straftatbestand
des „Ungesetzlichen Grenzübertritts“ – er
sieht keine Veranlassung, einen Unterschied zu machen. Sätze
wie „Wir konnten nicht zulassen, dass die sozialistischen
Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und
Gesellschaft blieben“ gehen ihm mühelos über
die Lippen. (14) Ebenso: „Schließlich schafft
sich das System einen Geheimdienst für weniger als 17
Millionen Menschen – also (ein Land von der) Größe
Nordrhein-Westfalens – , der dreimal größer
ist als die Gestapo des Großdeutschen Reiches am Ende
desselben.“ (15) Aber er wolle Nazi-Deutschland und
die DDR keineswegs gleichsetzen, betont Gauck – und
tut es unentwegt. Besonders bemüht ist er, die Arbeiter
des real existierenden Sozialismus nahtlos in die Formationen
der Waffen-SS einzureihen: „Die Arbeiterehre der sozialistischen
Staaten des Realsozialismus war von der Variante wie ,unsere
Ehre heißt Treue‘. Je treuer und intensiver man
gehorsam war, desto mehr sollte man angeblich als Arbeiter
wert sein – was für eine Degeneration!" (16)
Joachim Gauck ist Unterzeichner der Prager Erklärung
zum Gewissen Europas und zum Kommunismus, in der verlangt
wird, den 23. August, den Tag, an dem der Hitler-Stalin Pakt
geschlossen wurde, zum „Gedenktag für die Opfer
der beiden nationalsozialistischen und kommunistischen totalitären
Regime“ zu machen und in derselben Weise der Opfer
des Kommunismus zu erinnern, wie es am 27. Januar für
die Opfer des Holocaust üblich ist. (17) Auch die Erklärung über
die Verbrechen des Kommunismus hat Gauck unterschrieben.
Darin wird die Einrichtung eines „neuen internationalen
Gerichtshofs“ gefordert, an dem „kommunistische
Verbrechen gegen die Menschlichkeit ähnlich verurteilt
werden sollen wie die Nazi-Verbrechen durch das Nürnberger
Tribunal verurteilt und bestraft wurden“. (18)
Nicht selten münden Gaucks Anklagen in moralische Hysterie.
Er spricht von „Stasi-Gräueln“, als hätte
der Geheimdienst der DDR Massenerschießungen vorgenommen
und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.
(19) In den postkommunistischen Gesellschaften sei eine „defizitäre
Aufarbeitung der Vergangenheit zu beobachten“. Wer
sie nicht leisten möchte, wird sich der „Fundamentalkritik“ der
neuen 68er aussetzen müssen, mahnt Gauck und vereinnahmt
Alexander und Margarete Mitscherlichs Werk über Schuld
und Verdrängung der „unfassbar grauenvollen Fakten“ des „Dritten
Reiches“, mit dem die Psychoanalytiker 1967 in der
bundesdeutschen Öffentlichkeit Eruptionen ausgelöst
hatten: „Es ist so, als warteten wir auf neue Mitscherlichs,
die speziell für die Ossis ein neues Buch über
die Unfähigkeit zu trauern schreiben.“ (20) Mit
dem gleichen weltrichterlichen Rigorismus macht Gauck denen
den Prozess, die sein Heimatland vom Faschismus befreit hatten: „Wie
für uns in Deutschland der Judenmord das ,Schwarze Loch‘ der
Geschichte ist, so ist es für die Ex-Sowjetunion deren
einst real existierendes Unrechtssystem.“ (21)
Zeitweise schrumpft das faschistische System in Gaucks Geschichtsbild
zu einem Appendix des Sozialismus: „Bei uns haben die
Diktaturen vierundvierzig plus zwölf Jahre gedauert,
in denen man die Mentalität und Haltung des Untertanen
züchtete.“ (22) Was hinter dem „Plus“ steht,
fungiert in Gaucks Reden meist nur als Schreckensfetisch,
mit dem alles, was Gauck verhasst ist, gleich- oder in mehr
als fragwürdige Beziehungen gesetzt wird. Dabei verfährt
Gauck schlicht nach den elementaren Gesetzmäßigkeiten
des Warentausches: Wie Ware B dazu dient, den Wert von Ware
A auszudrücken, benutzt Gauck die NS-Diktatur als Material,
um den historischen Wert tatsächlich geschehener oder
imaginärer Verbrechen des real existierenden Sozialismus
herauszustellen. Bekanntlich reduziert der Tauschwert alle
Unterschiede aufs Quantitative. Und da in Gaucks Reden für
das Verhältnis von DDR zum „Dritten Reich“ ein
nicht verhandelbarer Kurs von 1:1 festgelegt ist, wird der
Unterschied zwischen Zuchthaus und Zyklon B mir nichts, dir
nichts eingeebnet.
Gauck beteilige sich an einer „Kampagne, die die Geschichte
des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust neu schreiben will“,
kritisiert Efraim Zuroff, Leiter des Simon Wiesenthal Centers
in Jerusalem. Er befürchtet, dass der neue Präsident „die
Bundesrepublik in eine andere Richtung führen könnte,
statt den bisher eingeschlagenen Weg fortzusetzen“.
Beispielsweise impliziere die von Gauck unterstützte
Forderung, den Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes
zum Gedenktag zu erheben, „dass die Sowjetunion und
Nazideutschland gleichermaßen für die Verbrechen
des Zweiten Weltkriegs verantwortlich wären – als
wären jene Länder, deren Soldaten den industriellen
Massenmord beendeten, genauso schuldig wie das Regime, das
das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ersonnen, gebaut
und betrieben hat“. Zuroff vermutet, dass Glauck „jene
Tendenzen stärken wird, die sich der Verantwortung entziehen
wollen und sich in ihrer Opferrolle suhlen“. (23)
Eine neue Epoche
Weder kann Gauck ein gewisses Talent in beiden Disziplinen
abgesprochen noch kann unterstellt werden, sein Vorstoß fände
keine breite Mehrheit. Seine unzähligen Relativierungen
der deutschen Geschichte werden von allen im Bundestag vertretenen
Parteien (mit einer Ausnahme) seit Jahren schweigend goutiert,
in nicht wenigen Fällen sogar offensiv unterstützt.
Mit ihrem Segen – und wider ihr besseres Wissen – ist
es Gauck mühelos gelungen, sich als ein der Ohnmacht
und drohender Gefahr trotzender Freiheitskämpfer zu
inszenieren und sich eine Opferrolle anzueignen, ohne dafür
je den Preis einer existentiellen Leiderfahrung gezahlt zu
haben. Er predigt unbehelligt das Wasser der Entbehrung,
die widerständige Unterdrückte zu erdulden haben,
und trinkt heimlich den Wein der Günstlinge der oberen
Zehntausend. Er dichtet nicht nur deren Partikularinteressen
in Allgemeininteressen der Bevölkerung um, ergeht sich
in Hasstiraden gegen die antikapitalistische Linke und komponiert
Oden für alles, was den Happy Few und dem politischen
Establishment lieb und teuer ist (den von ihm als „Freiheit“ verbrämten
Marktradikalismus, die Agenda 2010 etc.). Joachim Gauck schafft
alle Voraussetzungen und liefert sogar schon erste glänzende
Resultate des Aufbruchs der Nation in eine Erlösung
verheißende und politisch-ökomischen Erfolg versprechende
neue Epoche der deutschen Normalität.
Gauck vertritt die Auffassung, aus der „jahrzehntelangen
Anpassung“ sei in der DDR eine „neue Normalität
entstanden“ – „das Unnormale ist durch
seine Dauer zur Normalität“ geworden. In seiner
Vorstellungswelt stellt offenbar die „Freiheit der
westlichen Welt“, also die kapitalistische Gesellschaftsordnung,
die Koordinaten für die Definition von Normalität,
die er in seiner Zeit als einer der geschäftigsten Vortragsreisenden
der Republik in seinen vergangenheitspolitischen Exkursen
objektiv propagiert hat.
Was Gauck geflissentlich ignoriert: Nicht nur, aber insbesondere
vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Deutschland die politische
Last eines im Zentrum der historischen Aufklärung generalstabsmäßig
geplanten und industriell durchgeführten Völkermords
auf dem Buckel hat, ist die Frage, ob die Normalisierung
der Nation oder der bereits erreichte Zustand der Normalität überhaupt
welthistorisch legitim ist, noch längst nicht geklärt.
Denn der Begriff „Normalität“ bezeichnet
außerhalb der Alltagssprache weit mehr als die Aussage,
dass ein Gegenstand oder ein Prozess mit dem „gesunden
Menschenverstand“ korrespondiert, wie der Politikwissenschaftler
Marcus Hawel konstatiert. „,Normalität‘ in
dem Sinne, wie es allgemein gebraucht wird, ist ein schillerndes
Wort – ein Nicht-Begriff, der davon lebt, dass er eine
geringe Substanz hat“, schreibt Hawel in seiner Studie
Die normalisierte Nation. „Geraten aber Nicht-Begriffe
in das Spannungsfeld von Politik, werden sie zu ideologischen
Instrumenten. Dabei sind sie nur Phrasen, hinter denen ein
taktisches Geschäft abgewickelt wird, das camoufliert,
aber gezielt ein System bereitet und Wirklichkeit verändert.“ (24)
Der Ruf nach „Normalität“ in Deutschland
ist bisher immer mit dem nach Gründung der Berliner
Republik wieder lauter artikulierten Wunsch verbunden, die „Dauerpräsentation
der Schande“ (Martin Walser) möge aufhören
und der „Schlussstrich“ endlich gezogen werden.
Aber eine anfängliche Neigung zum vorsätzlichen
Vergessen, Beschweigen und Verdrängen ist in den vergangenen
Jahren einem Schuldeingeständnis und dem Bekenntnis
zur deutschen Verantwortung gewichen: Marcus Hawel macht
darauf aufmerksam, dass sich sukzessive ein neuer Konsens
durchgesetzt habe, den der damalige Bundespräsident
Richard von Weizäcker 1985 vorskizziert hatte: Auschwitz
war ein singuläres Menschheitsverbrechen, für das
Deutschland die Verantwortung trägt. Der 8. Mai 1945
war ein Tag der Befreiung. Deutsche Schuld darf nicht verdrängt
werden; der einzig angemessene Umgang ist Erinnerung. Das „heißt,
eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es
zu einem Teil des eigenen Innern wird“. Die Jungen
dürfen nicht zur Rechenschaft gezogen werden für
das, was damals geschah. „Aber sie sind verantwortlich
für das, was in der Geschichte daraus wird.“ (25)
Diese explizit gegen Schuldabwehr und Revanchismus gerichtete
Haltung enthält Potentiale für eine wahrhaftige
Bewältigung der Vergangenheit, die, wird sie konsequent
zu Ende gedacht, unweigerlich die Abschaffung des Kapitalismus
(als fortbestehende Bedingung der Möglichkeit der Wiederholung
von Auschwitz) und damit verbunden langfristig die Auflösung
aller Nationalstaaten bedeuten muss. Diesen Weg beschreiten
zu wollen, sind Deutschlands politische Klasse und ökonomische
Eliten aus auf der Hand liegenden Gründen unendlich
weit entfernt.
Umso intensiver werfen sie die anderen, regressiven Potentiale
in die Waagschale, die das offenherzige Bekenntnis zur deutschen
Vergangenheit auch hervorbringt: Seine Instrumentalisierung
für die ideologische Rechtfertigung der militärischen
Durchsetzung (imperialer) Machtinteressen. Einen eindringlichen
Beleg für dieses Vorgehen lieferte das mittlerweile
berühmte Diktum von Joseph Fischer, „Ich habe
nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt:
Nie wieder Auschwitz", mit dem der Außenminister
1999 die deutsche Beteiligung an dem Angriffskrieg auf Jugoslawien
zu legitimieren versuchte.
Vorläufige Endstation der vergangenheitspolitischen
Odyssee
„Zwischen Vergangenheitspolitik und Außenpolitik
besteht ein kausaler Zusammenhang“, lautet Hawels zunächst
lapidar klingende Feststellung. Sie verweist aber auf eine
komplexe Wechselwirkung zwischen deutscher Normalität
und deutschen Interessenlagen, die er eingehend erörtert: „,Normalität‘ fungiert
als ein Nationalismus verschleierndes Vehikel.“ (26)
In „der deutschen Außenpolitik ist nach 1989/90
im Kontext der sich entwickelnden neuen Weltordnung die Tendenz
zu beobachten, den fremden Ausnahmezustand (ökonomische
Krise, Bürgerkrieg, Krieg) zum Zwecke der eigenen Normalisierung
zu instrumentalisieren. In Deutschland galt, dass der Ausnahmezustand
außerhalb des eigenen Territoriums und out of area
außenpolitische Souveränität, konkret: das
(allgemein durchs Völkerrecht eingeschränkte) ius
ad bellum herstellt.“ (27) In diesem Kontext ist die
Emphase deutscher Regierungen für den „War on
Terror“ zu sehen, der auch als „Katalysator der
Normalisierung“ diene, meint Hawel und verweist auf
eine bemerkenswerte Aussage des Soziologen Karl Otto Hondrich
zur Bedeutung von 9/11 für die deutsche Vergangenheitsbewältigung: „In
Deutschland entweicht, angesichts der neuen Bedrohung, aus
alten Konflikten hörbar die Luft. Damit nicht genug,
schlägt das Großverbrechen von New York in das
Unterholz kollektiver Gefühle wie ein Befreiungsschlag
ein: entlastend vom umstrittenen, lähmend-verdrängten,
regelmäßig angemahnten, grollend beklagten Bewusstsein
eigener deutscher Schuld.“ (28)
Nicht zuletzt als begeisterter Befürworter der deutschen
Intervention in Afghanistan gehört Joachim Gauck zur
Avantgarde dieses neuen Kurses. Er redet dem darin enthaltenen
ethischen Imperialismus („Unsere Soldaten bekämpfen
dort im Auftrag der Vereinten Nationen Terrorismus und tun
daneben noch eine Menge Gutes für die Menschen in Afghanistan“ (29))
das Wort und engagiert sich leidenschaftlich für die
endgültige Liquidierung des welthistorischen Erzkonkurrenten
der kapitalistischen Produktionsweise.
Davon zeugt die vom ihm praktizierte Gleichsetzung von Stalinismus
mit Kommunismus. Seine Bemühungen, so Hawel, die Verbrechen
des ersteren pauschal letzterem anzulasten, „entsprechen
einem Versuch, die gesamte christliche Theologie für
die Verbrechen, die im Namen des Christentums geschahen,
in Haftung zu nehmen“. Sie sind ebenso Demagogie wie
Gaucks Bestrebungen, Stasi und Hohenschönhausen in die
Nähe von Gestapo und Majdanek zu rücken. Zumindest
qualifizierten sie, wie Hawel meint, „Joachim Gauck
als den passenden Bundespräsidenten für den abgeschlossenen
Normalisierungsprozess“.
Die von Gauck repräsentierte und zur Ideologie erhobene
deutsche Normalität indiziert eine Radikalisierung der
Normalisierungsbestrebungen. Sein extremer Antikommunismus
und sein Geschichtsrelativismus drohen, warnt Hawel, ein
wichtiges mit Weizäckers Rede manifest gewordenes Eingeständnis,
Deutschland sei am 8. Mai 1945 befreit worden (dass der UdSSR
dabei das wesentliche Verdienst zukommt und sie dafür
ungeheure Opfer bringen musste, kann auch Gauck nicht leugnen),
objektiv zurückzunehmen. Denn die Sowjetunion gleichzeitig
mit dem NS-Staat auf eine Stufe zu stellen und sie als Befreier
vom NS-Regime anzuerkennen – das ist ein politischer
Spagat, der nicht lange auszuhalten sein dürfte.
Noch pessimistischer zu deuten ist Gaucks Berufung in das
höchste deutsche Staatsamt – ganz zu schweigen
von seiner Huldigung als Präsident der blutenden deutschen
Herzen – vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der
eigentliche Zweck der Normalisierung weit über die (nunmehr
fast 70 Jahre immer noch nicht gestillte) Sehnsucht nach
Katharsis hinausragt: Das „kollektive Gedächtnis
für den postmodernen Zeitgeist des alltagspolitischen
Pragmatismus neoliberalen Einschlags geschmeidig zu machen.
Ziel der Neoliberalen und Neorealisten, deren Einfluss auf
die deutsche Außenpolitik nach 1945 seit 1989/90 nie
hätte größer sein können, ist es, die
Interessen des deutschen Staates nüchtern zu maximieren
und ihnen damit größeren Einfluss zu verschaffen“,
nennt Hawel die anvisierte (vorläufige) Endstation der
vergangenheitspolitischen Odyssee. (30)
Wer könnte als Lotse geeigneter sein als ein Bundespräsident,
der einen Freiheitsbegriff heilig spricht, der keineswegs „abstrakt“ ist,
wie vielfach behauptet, sondern ganz konkret Freiheit im
Wesentlichen als Freihandel definiert, und die konkrete Utopie
einer freien Gesellschaft ohne Ausbeutung als abstrakte Spinnerei
und „üblen Aberglauben“ diskreditiert. hintergrund.de
|