31. März 2012 hintergrund.de
Die Geschichte neu schreiben
Warum Joachim Gauck der Präsident der deutschen Normalisierung ist -
Von SUSANN WITT-STAHL

Der neue Bundespräsident überhäuft die polnischen Nachbarn mit Komplimenten. Schon 2009 hatte Joachim Gauck angekündigt: „Wenn die nächste Diktatur (in Deutschland) kommt, gehe ich nach Polen.“ (1) Vorläufig kann er es bei einem Besuch belassen. Die Entscheidung, dass Komoroeski - Gauckseine erste Auslandsreise in „das europäische Land der Freiheit“ gehen soll, betont er, „kam von Herzen“. Spätestens als ihm sein Gastgeber, Präsident Komorowski, ein Wahlplakat der Gewerkschaft Solidarnosc – sie hatte zum Ende des real existierenden Sozialismus in Polen und in ganz Osteuropa beigetragen – überreicht und Gauck überglücklich reagiert, ist auch der letzte Zweifel an der Aufrichtigkeit dieser Liebeserklärung ausgeräumt. Der Hass auf alles, dem das Label „Kommunismus“ verpasst werden kann, verbindet über Grenzen hinweg. Wenn es gegen die Roten geht, dann stören auch revisionistische und geschichtsfälschende Äußerungen, wie sie Gauck im Nachwort des Schwarzbuch des Kommunismus verewigt hat, nicht die neue Harmonie: „Einheimischen wie Vertriebenen galt der Verlust der Heimat als grobes Unrecht, das die Kommunisten noch zementierten, als sie 1950 die Oder-Neiße-Grenze als neue deutsch-polnische Staatsgrenze anerkannten", hatte er 1998 behauptet (dass die Abtretung ehemals deutscher Gebiete an Polen ebenso von den westlichen Alliierten forciert wurde, ficht ihn nicht an). Gauck darf das. Er ist längst nicht mehr nur der Präsident der deutschen, sondern auch der „polnischen Herzen“, meint zumindest die Mittelbayerische Zeitung.

„Messias oder einfach ,nur‘ ein Bundespräsident?“

Auch diesseits der deutschen Ostgrenze Begeisterung, wohin man nur schaut: Die für seine Verhältnisse moderate Antrittsrede kam gut an. Ein Kessel Buntes mit Lobpreisung des „Demokratiewunders“, einem Bekenntnis zu Europa, einer klaren Absage an die „paternalistische Fürsorgepolitik“ und linken und rechten Extremismus. Und „den Islamisten schrieb er ins Stammbuch: ,Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet ihren Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht‘“, triumphierte Die Welt. Er ließ freilich auch die dunkle NS-Vergangenheit nicht aus und würdigte ihre Aufarbeitung. Vor allem aber versuchte Gauck zu begeistern für die Aufbauleistungen in der Adenauer-Ära und den „nächsten Erinnerungsschatz“: die „friedliche Freiheitsrevolution“ von 1989. Seine Schatzsuche sei „kein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung“, beschwichtigte er alle, die Böses dabei denken könnten.

„Es war eine Rede, wie man sich modernen Patriotismus vorstellt", schwärmte Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Die Süddeutsche Zeitung prognostiziert in ihrer Onlineausgabe: „Wenn er so weitermacht, wird er ein großer Präsident sein können.“ Auch die Stars sind hingerissen. „Ich habe in ihm schon immer die richtige moralische Instanz für dieses Land gesehen“, meint Modedesigner Wolfgang Joop. Filmregisseur Sönke Wortmann weiß: „Joachim Gauck wird Deutschland gut tun.“ Kein Wunder, dass tagessschau.de die Frage in den öffentlichen Raum stellte: „Messias oder einfach ,nur‘ ein Bundespräsident?“ Was ist sein Erfolgsgeheimnis?

„Freiheit ist das einzige, was zählt …“

Als Joachim Gauck noch ein gewöhnlicher Sterblicher war, tingelte er viele Jahre als Handelsvertreter einer heiß begehrten Ware durch die Lande: Freiheit. Bis heute bringt er keinen Satz zu Ende, ohne das magische Wort mindestens einmal ausgesprochen zu haben. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Gauck einen vom Neoliberalismus geprägten Freiheitsbegriff verfolgt: „Wer die Freiheit liebt, wird sich dahin bequemen müssen, Freiheit auch in den Wirtschaftsprozessen zu wollen“, fordert er ganz nüchtern, wenn er bei der FDP zu Gast bei Freunden ist. (2) Aber auf der Straße sind seine großen Freiheitsreden von demselben ,Wir sind das Volk‘-Pathos getragen wie Marius Müller-Westernhagens Mauerfall-Hymne: „Freiheit, Freiheit, ist das einzige, was zählt.“ In dem Text heißt es weiter: „Alle, die von Freiheit träumen, sollen‘s Feiern nicht versäumen, sollen tanzen auch auf Gräbern.“

Das hat sich Joachim Gauck in keiner Phase seines Wirkens zweimal sagen lassen. Er hält keinen seiner Vorträge über die Freiheit, ohne ihre 1989 untergegangene, seines Erachtens offenbar satanische Antithese noch einmal in allen ihren Facetten zu entfalten. Der „fundamentale Antisozialist“ (Daniela Dahn) berichtet von der „Gefangenschaft“ im „Herrschaftskommunismus“ der DDR. „Den Begriff ,Bürger‘ lehnt Gauck für die DDR-Bevölkerung genauso ab wie den Begriff ,Bewohner‘“, skizziert der Autor Lothar Zieske in der Zeitschrift Ossietzky das Ausmaß der Idiosynkrasie des ehemaligen Leiters der Stasi-Unterlagen-Behörde gegen den real existierenden Sozialismus. „Denn weder hätten die Menschen in der DDR Bürgerrechte gehabt noch hätten sie ihr Haus DDR auf- und zuschließen können. Er greift deshalb zum Begriff ,Insassen‘ – als sei die DDR eine geschlossene Anstalt oder ein Gefängnis gewesen.“ (3)

„Unterworfener“, „Leidender“ und in der „Minderheit“

Nach Ansicht Gaucks war sie es. Mit gebrochener Stimme erzählt er eine bewegende Vater-Sohn-Geschichte aus der DDR. Die beiden stehen in Warnemünde auf einer Mole und schauen einem großen Schiff hinterher. Da will er mitfahren, sagt der Junge. Sein Vater muss ihm aber eine bittere Wahrheit eröffnen: Der Dampfer fährt nach Dänemark, klärt er den Sohn auf und zeigt nach Westen. „Da hinten, weißt du, da ist die Freiheit …“ Gauck redet gern über seine „Erfahrungslast“. Immerhin sei er ein Europäer, „der 50 Jahre seines Lebens nicht dazugehören durfte und der schließlich – seit seinem 50. Lebensjahr – nicht nur leidend, sondern auch gestaltend daran mitwirken durfte, dass sich das ändern sollte“, erinnert der Pastor, der in der DDR eine Reihe von Privilegien genossen hatte, eindringlich daran, dass nicht zuletzt auch er ein Opfer des Kommunismus ist. (4) „Wir waren Unterworfene“, sagt Gauck. (5) Er ist davon überzeugt, er gehöre zu der „Minderheit“, die „den Text des Hohelieds der Freiheit kann“. (6) „Hier spricht ein Mensch mit einer großen Lebenserfahrung in einem totalitären System, der das alles verarbeitet hat“, winkte der ehemalige CDU-Ministerpräsident Baden-Württembergs Erwin Teufel vor einigen Wochen während einer Vorstellung des Kandidaten für das Bundespräsidentenamt in Stuttgart allen mit dem Zaunpfahl, die immer noch nicht verstanden haben: (7) Niemand kennt die Heimtücke der „kommunistischen Diktatur“ besser und hat mehr Recht, sie anzuklagen, als seine Opfer – allein deshalb gebührt Gauck ein unantastbarer Status als Ankläger und Richter.

Wenn er in seinem Festvortrag zur Erinnerung an den Widerstand vom 20. Juli 1944 von „Märtyrern der Freiheit“ spricht, muss das Publikum sehr bald feststellen, dass es längst nicht nur um Goerdeler um von Witzleben geht, sondern auch die Opposition in den „schlimmen Zeiten“ der DDR. Und es dauert nicht lange, bis Gauck bei seinem Leib- und Magenthema ist: Bei sich und seinen Widerstandstaten. „Für meine Freunde und mich war das ein unglaublich starkes Erleben, dass aus elementarer Schwäche und Ohnmacht heraus plötzlich Mut und Vollmacht wurde“, umgibt er sich mit der Aura eines Barrikadenkämpfers und räumt generös ein: „Wir hatten in der Zeit günstigere Voraussetzungen als die Naziwiderständler oder auch die 53er- und 56er-Revolutionäre gegen das Sowjetsystem.“ Worin bestand Gaucks heroischer Kampf eigentlich? Der Geistliche erklärt, er habe als Jugendlicher „manchmal“ an den Massenaufmärschen in der DDR teilgenommen. „Merkwürdig dieses Schimpfen, bevor man sich versammelte und an der Tribüne vorbeizog. Und dieses Witzeln und das Schelten hinterher, wenn man schnell den Weg in die nächste Kneipe suchte“, erinnert er sich. Welche Fanale er über das „Witzeln“, „Schimpfen“ und die Aufenthalte in Schankwirtschaften, die in der DDR keineswegs illegal oder gesellschaftlich geächtet waren, hinaus gesetzt hat – das erfährt der Zuhörer nicht. (8)

Wutbürger gegen die „antikapitalistische Welle“

Offenbar hat Gauck auch nichts vorzuweisen. Selbst das Mantra, er sei „Bürgerrechtler“ gewesen und deshalb als Bundespräsident besonders geeignet, das jahrelang, in den vergangenen Wochen unter Hochdruck vom parlamentarischen Establishment unisono verbreitet wurde, verstummt allmählich, seit sich namenhafte Dissidenten zu Wort melden, weil sie diese Lüge nicht mehr länger aushalten wollen. (9) Die neue Parole lautet: Die Frage, ob Gauck Bürgerrechtler gewesen ist, sei völlig unerheblich – entscheidend sei sein Engagement als „Freiheitslehrer“.

Die Tatsache, dass sich die politische Klasse – je nach machtpolitischer Wetterlage – für ihr „Geschwätz von gestern“ meist schon kurz nachdem sie es öffentlich zu Gehör gebracht hat, nicht mehr interessiert, ist wahrlich nicht neu. In diesem Fall könnte die Elastizität ihrer Argumentation allerdings ihren Grund darin haben, dass Gaucks angebliche Zivilcourage oder querdenkerische Tugenden von vornherein nur vorgeblich eine Rolle spielten. Alles nur Gauckelei? „Im Zeitalter des trotz aller Verheerungen ideologisch noch immer hegemonialen Neoliberalismus, dessen Kern ein sozialdarwinistischer Freiheitsbegriff ist, stilisiert sich Gauck als Mitglied einer Minderheit, die der Freiheitsfreunde“, beschreibt Lothar Zieske eine hervorragende Qualität des neuen Bundespräsidenten: (10) Er hat Chuzpe. Gauck traut sich etwas, was das politische Establishment nicht wagt – und (sich) auch nicht leisten kann: Hochgerüstet mit der moralischen Autorität eines Opfers und Widerstandskämpfers gegen „die roten Diktatoren“ fungiert der „parteilose Liebhaber der Freiheit“ (Gauck über Gauck) als ihr Rammbock, wirbelt historische Ereignisse, Verhältnisse, Protagonisten des NS-Staates, der DDR und anderer ehemaliger sozialistischer Länder durcheinander, verwischt fundamentale Unterschiede zwischen Faschismus und Kommunismus, relativiert, verformt deutsche Geschichte, bricht Tabus, wie es ihm und seiner Klientel gefällt.

Seit Beginn der Finanzkrise und dem von den Verantwortlichen und Profiteuren mit Sorge beobachteten Einsetzen von Massenprotesten gegen Bankenrettungsschirme und Sozialkürzungen steht Gauck mit an der Spitze der Bewegung von neokonservativen Wutbürgern gegen die „antikapitalistische Welle“. Der Transatlantiker wettert gegen jene, die die „Systemfrage stellen, ohne je eine System-Alternative gesehen zu haben“ und bezichtigt sie, sich einer „Angststrategie“ zu bedienen. (11) Seine Forderung nach einem „antikommunistischen Diskurs“ gegen „dumpfen und unaufgeklärten Antikapitalismus“ klingt wie eine Kriegserklärung. „Es gibt keinen Grund, mit Kommunisten milde umzugehen“, meint er. (12)

Einebnung des Unterschieds zwischen Zuchthaus und Zyklon B

Einen derart aggressiven Feldzug gegen die Linke von gestern und heute und das „verführerische Angebot der kommunistischen Ideologie“ zugunsten eines totalitärer werdenden Kapitalismus zu legitimieren, bedarf es Totschlagargumente. Daran mangelt es Gauck nicht: „Soziale Fürsorge – das kann ein guter Diktator auch“, höhnt Gauck und fragt in einem Atemzug: „Wer konnte nicht alles in Hitlers Diktatur Karriere in der Armee machen?“, und „wer konnte nicht im Sozialismus aufsteigen aus Kreisen, die bildungsfern waren?“.

Mit der Geschicklichkeit eines Hütchenspielers redet Gauck sein Publikum mit kruden Vergleichen, Zeitsprüngen zwischen dem Jahr der Machtergreifung und dem des Mauerbaus oder Ortswechseln zwischen Babi Jar und Bautzen schwindelig. Ob Nürnberger Rassengesetze oder der Straftatbestand des „Ungesetzlichen Grenzübertritts“ – er sieht keine Veranlassung, einen Unterschied zu machen. Sätze wie „Wir konnten nicht zulassen, dass die sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft blieben“ gehen ihm mühelos über die Lippen. (14) Ebenso: „Schließlich schafft sich das System einen Geheimdienst für weniger als 17 Millionen Menschen – also (ein Land von der) Größe Nordrhein-Westfalens – , der dreimal größer ist als die Gestapo des Großdeutschen Reiches am Ende desselben.“ (15) Aber er wolle Nazi-Deutschland und die DDR keineswegs gleichsetzen, betont Gauck – und tut es unentwegt. Besonders bemüht ist er, die Arbeiter des real existierenden Sozialismus nahtlos in die Formationen der Waffen-SS einzureihen: „Die Arbeiterehre der sozialistischen Staaten des Realsozialismus war von der Variante wie ,unsere Ehre heißt Treue‘. Je treuer und intensiver man gehorsam war, desto mehr sollte man angeblich als Arbeiter wert sein – was für eine Degeneration!" (16)

Joachim Gauck ist Unterzeichner der Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus, in der verlangt wird, den 23. August, den Tag, an dem der Hitler-Stalin Pakt geschlossen wurde, zum „Gedenktag für die Opfer der beiden nationalsozialistischen und kommunistischen totalitären Regime“ zu machen und in derselben Weise der Opfer des Kommunismus zu erinnern, wie es am 27. Januar für die Opfer des Holocaust üblich ist. (17) Auch die Erklärung über die Verbrechen des Kommunismus hat Gauck unterschrieben. Darin wird die Einrichtung eines „neuen internationalen Gerichtshofs“ gefordert, an dem „kommunistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit ähnlich verurteilt werden sollen wie die Nazi-Verbrechen durch das Nürnberger Tribunal verurteilt und bestraft wurden“. (18)

Nicht selten münden Gaucks Anklagen in moralische Hysterie. Er spricht von „Stasi-Gräueln“, als hätte der Geheimdienst der DDR Massenerschießungen vorgenommen und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. (19) In den postkommunistischen Gesellschaften sei eine „defizitäre Aufarbeitung der Vergangenheit zu beobachten“. Wer sie nicht leisten möchte, wird sich der „Fundamentalkritik“ der neuen 68er aussetzen müssen, mahnt Gauck und vereinnahmt Alexander und Margarete Mitscherlichs Werk über Schuld und Verdrängung der „unfassbar grauenvollen Fakten“ des „Dritten Reiches“, mit dem die Psychoanalytiker 1967 in der bundesdeutschen Öffentlichkeit Eruptionen ausgelöst hatten: „Es ist so, als warteten wir auf neue Mitscherlichs, die speziell für die Ossis ein neues Buch über die Unfähigkeit zu trauern schreiben.“ (20) Mit dem gleichen weltrichterlichen Rigorismus macht Gauck denen den Prozess, die sein Heimatland vom Faschismus befreit hatten: „Wie für uns in Deutschland der Judenmord das ,Schwarze Loch‘ der Geschichte ist, so ist es für die Ex-Sowjetunion deren einst real existierendes Unrechtssystem.“ (21)

Zeitweise schrumpft das faschistische System in Gaucks Geschichtsbild zu einem Appendix des Sozialismus: „Bei uns haben die Diktaturen vierundvierzig plus zwölf Jahre gedauert, in denen man die Mentalität und Haltung des Untertanen züchtete.“ (22) Was hinter dem „Plus“ steht, fungiert in Gaucks Reden meist nur als Schreckensfetisch, mit dem alles, was Gauck verhasst ist, gleich- oder in mehr als fragwürdige Beziehungen gesetzt wird. Dabei verfährt Gauck schlicht nach den elementaren Gesetzmäßigkeiten des Warentausches: Wie Ware B dazu dient, den Wert von Ware A auszudrücken, benutzt Gauck die NS-Diktatur als Material, um den historischen Wert tatsächlich geschehener oder imaginärer Verbrechen des real existierenden Sozialismus herauszustellen. Bekanntlich reduziert der Tauschwert alle Unterschiede aufs Quantitative. Und da in Gaucks Reden für das Verhältnis von DDR zum „Dritten Reich“ ein nicht verhandelbarer Kurs von 1:1 festgelegt ist, wird der Unterschied zwischen Zuchthaus und Zyklon B mir nichts, dir nichts eingeebnet.

Gauck beteilige sich an einer „Kampagne, die die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust neu schreiben will“, kritisiert Efraim Zuroff, Leiter des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem. Er befürchtet, dass der neue Präsident „die Bundesrepublik in eine andere Richtung führen könnte, statt den bisher eingeschlagenen Weg fortzusetzen“. Beispielsweise impliziere die von Gauck unterstützte Forderung, den Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes zum Gedenktag zu erheben, „dass die Sowjetunion und Nazideutschland gleichermaßen für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verantwortlich wären – als wären jene Länder, deren Soldaten den industriellen Massenmord beendeten, genauso schuldig wie das Regime, das das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ersonnen, gebaut und betrieben hat“. Zuroff vermutet, dass Glauck „jene Tendenzen stärken wird, die sich der Verantwortung entziehen wollen und sich in ihrer Opferrolle suhlen“. (23)

Eine neue Epoche

Weder kann Gauck ein gewisses Talent in beiden Disziplinen abgesprochen noch kann unterstellt werden, sein Vorstoß fände keine breite Mehrheit. Seine unzähligen Relativierungen der deutschen Geschichte werden von allen im Bundestag vertretenen Parteien (mit einer Ausnahme) seit Jahren schweigend goutiert, in nicht wenigen Fällen sogar offensiv unterstützt. Mit ihrem Segen – und wider ihr besseres Wissen – ist es Gauck mühelos gelungen, sich als ein der Ohnmacht und drohender Gefahr trotzender Freiheitskämpfer zu inszenieren und sich eine Opferrolle anzueignen, ohne dafür je den Preis einer existentiellen Leiderfahrung gezahlt zu haben. Er predigt unbehelligt das Wasser der Entbehrung, die widerständige Unterdrückte zu erdulden haben, und trinkt heimlich den Wein der Günstlinge der oberen Zehntausend. Er dichtet nicht nur deren Partikularinteressen in Allgemeininteressen der Bevölkerung um, ergeht sich in Hasstiraden gegen die antikapitalistische Linke und komponiert Oden für alles, was den Happy Few und dem politischen Establishment lieb und teuer ist (den von ihm als „Freiheit“ verbrämten Marktradikalismus, die Agenda 2010 etc.). Joachim Gauck schafft alle Voraussetzungen und liefert sogar schon erste glänzende Resultate des Aufbruchs der Nation in eine Erlösung verheißende und politisch-ökomischen Erfolg versprechende neue Epoche der deutschen Normalität.

Gauck vertritt die Auffassung, aus der „jahrzehntelangen Anpassung“ sei in der DDR eine „neue Normalität entstanden“ – „das Unnormale ist durch seine Dauer zur Normalität“ geworden. In seiner Vorstellungswelt stellt offenbar die „Freiheit der westlichen Welt“, also die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die Koordinaten für die Definition von Normalität, die er in seiner Zeit als einer der geschäftigsten Vortragsreisenden der Republik in seinen vergangenheitspolitischen Exkursen objektiv propagiert hat.

Was Gauck geflissentlich ignoriert: Nicht nur, aber insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Deutschland die politische Last eines im Zentrum der historischen Aufklärung generalstabsmäßig geplanten und industriell durchgeführten Völkermords auf dem Buckel hat, ist die Frage, ob die Normalisierung der Nation oder der bereits erreichte Zustand der Normalität überhaupt welthistorisch legitim ist, noch längst nicht geklärt. Denn der Begriff „Normalität“ bezeichnet außerhalb der Alltagssprache weit mehr als die Aussage, dass ein Gegenstand oder ein Prozess mit dem „gesunden Menschenverstand“ korrespondiert, wie der Politikwissenschaftler Marcus Hawel konstatiert. „,Normalität‘ in dem Sinne, wie es allgemein gebraucht wird, ist ein schillerndes Wort – ein Nicht-Begriff, der davon lebt, dass er eine geringe Substanz hat“, schreibt Hawel in seiner Studie Die normalisierte Nation. „Geraten aber Nicht-Begriffe in das Spannungsfeld von Politik, werden sie zu ideologischen Instrumenten. Dabei sind sie nur Phrasen, hinter denen ein taktisches Geschäft abgewickelt wird, das camoufliert, aber gezielt ein System bereitet und Wirklichkeit verändert.“ (24)

Der Ruf nach „Normalität“ in Deutschland ist bisher immer mit dem nach Gründung der Berliner Republik wieder lauter artikulierten Wunsch verbunden, die „Dauerpräsentation der Schande“ (Martin Walser) möge aufhören und der „Schlussstrich“ endlich gezogen werden. Aber eine anfängliche Neigung zum vorsätzlichen Vergessen, Beschweigen und Verdrängen ist in den vergangenen Jahren einem Schuldeingeständnis und dem Bekenntnis zur deutschen Verantwortung gewichen: Marcus Hawel macht darauf aufmerksam, dass sich sukzessive ein neuer Konsens durchgesetzt habe, den der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker 1985 vorskizziert hatte: Auschwitz war ein singuläres Menschheitsverbrechen, für das Deutschland die Verantwortung trägt. Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Deutsche Schuld darf nicht verdrängt werden; der einzig angemessene Umgang ist Erinnerung. Das „heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird“. Die Jungen dürfen nicht zur Rechenschaft gezogen werden für das, was damals geschah. „Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“ (25)

Diese explizit gegen Schuldabwehr und Revanchismus gerichtete Haltung enthält Potentiale für eine wahrhaftige Bewältigung der Vergangenheit, die, wird sie konsequent zu Ende gedacht, unweigerlich die Abschaffung des Kapitalismus (als fortbestehende Bedingung der Möglichkeit der Wiederholung von Auschwitz) und damit verbunden langfristig die Auflösung aller Nationalstaaten bedeuten muss. Diesen Weg beschreiten zu wollen, sind Deutschlands politische Klasse und ökonomische Eliten aus auf der Hand liegenden Gründen unendlich weit entfernt.
Umso intensiver werfen sie die anderen, regressiven Potentiale in die Waagschale, die das offenherzige Bekenntnis zur deutschen Vergangenheit auch hervorbringt: Seine Instrumentalisierung für die ideologische Rechtfertigung der militärischen Durchsetzung (imperialer) Machtinteressen. Einen eindringlichen Beleg für dieses Vorgehen lieferte das mittlerweile berühmte Diktum von Joseph Fischer, „Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz", mit dem der Außenminister 1999 die deutsche Beteiligung an dem Angriffskrieg auf Jugoslawien zu legitimieren versuchte.

Vorläufige Endstation der vergangenheitspolitischen Odyssee

„Zwischen Vergangenheitspolitik und Außenpolitik besteht ein kausaler Zusammenhang“, lautet Hawels zunächst lapidar klingende Feststellung. Sie verweist aber auf eine komplexe Wechselwirkung zwischen deutscher Normalität und deutschen Interessenlagen, die er eingehend erörtert: „,Normalität‘ fungiert als ein Nationalismus verschleierndes Vehikel.“ (26) In „der deutschen Außenpolitik ist nach 1989/90 im Kontext der sich entwickelnden neuen Weltordnung die Tendenz zu beobachten, den fremden Ausnahmezustand (ökonomische Krise, Bürgerkrieg, Krieg) zum Zwecke der eigenen Normalisierung zu instrumentalisieren. In Deutschland galt, dass der Ausnahmezustand außerhalb des eigenen Territoriums und out of area außenpolitische Souveränität, konkret: das (allgemein durchs Völkerrecht eingeschränkte) ius ad bellum herstellt.“ (27) In diesem Kontext ist die Emphase deutscher Regierungen für den „War on Terror“ zu sehen, der auch als „Katalysator der Normalisierung“ diene, meint Hawel und verweist auf eine bemerkenswerte Aussage des Soziologen Karl Otto Hondrich zur Bedeutung von 9/11 für die deutsche Vergangenheitsbewältigung: „In Deutschland entweicht, angesichts der neuen Bedrohung, aus alten Konflikten hörbar die Luft. Damit nicht genug, schlägt das Großverbrechen von New York in das Unterholz kollektiver Gefühle wie ein Befreiungsschlag ein: entlastend vom umstrittenen, lähmend-verdrängten, regelmäßig angemahnten, grollend beklagten Bewusstsein eigener deutscher Schuld.“ (28)

Nicht zuletzt als begeisterter Befürworter der deutschen Intervention in Afghanistan gehört Joachim Gauck zur Avantgarde dieses neuen Kurses. Er redet dem darin enthaltenen ethischen Imperialismus („Unsere Soldaten bekämpfen dort im Auftrag der Vereinten Nationen Terrorismus und tun daneben noch eine Menge Gutes für die Menschen in Afghanistan“ (29)) das Wort und engagiert sich leidenschaftlich für die endgültige Liquidierung des welthistorischen Erzkonkurrenten der kapitalistischen Produktionsweise.

Davon zeugt die vom ihm praktizierte Gleichsetzung von Stalinismus mit Kommunismus. Seine Bemühungen, so Hawel, die Verbrechen des ersteren pauschal letzterem anzulasten, „entsprechen einem Versuch, die gesamte christliche Theologie für die Verbrechen, die im Namen des Christentums geschahen, in Haftung zu nehmen“. Sie sind ebenso Demagogie wie Gaucks Bestrebungen, Stasi und Hohenschönhausen in die Nähe von Gestapo und Majdanek zu rücken. Zumindest qualifizierten sie, wie Hawel meint, „Joachim Gauck als den passenden Bundespräsidenten für den abgeschlossenen Normalisierungsprozess“.

Die von Gauck repräsentierte und zur Ideologie erhobene deutsche Normalität indiziert eine Radikalisierung der Normalisierungsbestrebungen. Sein extremer Antikommunismus und sein Geschichtsrelativismus drohen, warnt Hawel, ein wichtiges mit Weizäckers Rede manifest gewordenes Eingeständnis, Deutschland sei am 8. Mai 1945 befreit worden (dass der UdSSR dabei das wesentliche Verdienst zukommt und sie dafür ungeheure Opfer bringen musste, kann auch Gauck nicht leugnen), objektiv zurückzunehmen. Denn die Sowjetunion gleichzeitig mit dem NS-Staat auf eine Stufe zu stellen und sie als Befreier vom NS-Regime anzuerkennen – das ist ein politischer Spagat, der nicht lange auszuhalten sein dürfte.

Noch pessimistischer zu deuten ist Gaucks Berufung in das höchste deutsche Staatsamt – ganz zu schweigen von seiner Huldigung als Präsident der blutenden deutschen Herzen – vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der eigentliche Zweck der Normalisierung weit über die (nunmehr fast 70 Jahre immer noch nicht gestillte) Sehnsucht nach Katharsis hinausragt: Das „kollektive Gedächtnis für den postmodernen Zeitgeist des alltagspolitischen Pragmatismus neoliberalen Einschlags geschmeidig zu machen. Ziel der Neoliberalen und Neorealisten, deren Einfluss auf die deutsche Außenpolitik nach 1945 seit 1989/90 nie hätte größer sein können, ist es, die Interessen des deutschen Staates nüchtern zu maximieren und ihnen damit größeren Einfluss zu verschaffen“, nennt Hawel die anvisierte (vorläufige) Endstation der vergangenheitspolitischen Odyssee. (30)

Wer könnte als Lotse geeigneter sein als ein Bundespräsident, der einen Freiheitsbegriff heilig spricht, der keineswegs „abstrakt“ ist, wie vielfach behauptet, sondern ganz konkret Freiheit im Wesentlichen als Freihandel definiert, und die konkrete Utopie einer freien Gesellschaft ohne Ausbeutung als abstrakte Spinnerei und „üblen Aberglauben“ diskreditiert.

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