25.07.12 welt.de
Als die NS-Mordfabriken an ihre Grenzen stießen
Von Sven Felix Kellerhoff

Im Sommer 1942 war die Probephase abgeschlossen. Unter dem Tarnnamen "Aktion Reinhardt" begann in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka die industrielle Menschenvernichtung.

Vielleicht war der Name als "Ehrung" gedacht. Vor 70 Jahren tauchte erstmals in deutschen Akten der Begriff "Aktion Reinhardt" auf, manchmal auch "Reinhard" oder Reinhart" geschrieben. Der früheste Nachweis datiert wenige Tage nach dem Tode von Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes und zweitem Mann der SS nach Heinrich Himmler. Das Codewort stand für den geplanten Mord an den polnischen Juden, den Odilo Globocnik, der SS- und Polizeiführer des Besatzungsdistrikts Lublin, seit einigen Monaten vorbereitete.

Die Auslöschung von fast zwei Millionen Menschen galt als Voraussetzung für die "Eindeutschung" Zentral- und Ostpolens durch Ansiedlung. Das war sein vorrangiger Auftrag, der intern gelegentlich als "Programm Heinrich" bezeichnet wurde. In oberen SS-Rängen mag es konsequent erschienen sein, den bei einem Attentat tödlich verletzten Heydrich durch die Wahl seines Vornamens für die streng geheime Mordaktion zu ehren.

Möglicherweise aber hatte der Begriff auch einen ganz anderen Hintergrund. Jeder höhere SS-Führer kannte das nach Staatssekretär Fritz Reinhardt vom Reichsfinanzministerium benannte "Reinhardt-Programm". Es diente der Förderung der Wirtschaft durch staatliche Darlehen, die entweder durch Raub fremder, auch jüdischer Vermögenswerte finanziert wurde oder durch schlichte Erhöhung der Geldmenge.

Abhängigkeit vom Reichsfinanzministerium

Auch der SS-Apparat war für seine teuren Siedlungsprojekte zeitweilig auf Mittel des "Reinhardt-Programms" angewiesen. Der Massenmord an den polnischen Juden, bei dem Globocnik selbst die Ausbeutung der Opfer kontrollieren konnte, sollte diese Abhängigkeit vom Reichsfinanzministerium reduzieren. Andererseits sollten jene Wertsachen, die der österreichische SS-Offizier von dem erbeuteten jüdischen Eigentum an den NS-Staat abführte, auf einem Sonderkonto des Finanzministerium gesammelt werden – eingerichtet von Staatssekretär Fritz Reinhardt.

Ähnlich unklar wie der Ursprung des Namens dieser größten Einzelaktion des Holocaust ist der genaue Ablauf ihrer Vorgeschichte. Fest steht nur: Im Juni 1942 war die "Erprobungsphase" der beiden schon seit Mitte März und Anfang Mai betriebenen Vernichtungslager Belzec und Sobibor abgeschlossen. Die "Erkenntnisse" beim Mord an etwa 200.000 Menschen flossen ein in den Bau der dritten Anlage in Treblinka, die Mitte Juni "einsatzbereit" war und vier Wochen später ihre mörderische Funktion aufnahm.

Die Erfahrungen mit dem ersten stationären Vernichtungslager herausgestellt, der Gaswagen-Station in Kulmhof (Chelmno) hatten sich als unbefriedigend herausgestellt. Deshalb sollte ein zentraler Stab in Lublin die Aufgabe übernehmen, unter Leitung des rücksichtslosen Globocnik und mit einschlägig erfahrenem Personal.

Globocnik bat um mehr Personal

Im Herbst 1941 waren einige Spezialisten der "Aktion T4", des systematischen Mordes an deutschen Behinderten in den Gaskammern von sechs "Euthanasie-Anstalten", ins besetzte Polen abkommandiert worden. Hier begannen sie an verkehsrgünstig und dennoch abgeschiedenen Stellen drei Mordfabriken aufzubauen. Bezahlt wurden sie weiterhin von der Dienststelle "T4" der Reichskanzlei, die auch die Personalverwaltung übernahm.

Dienstverpflichtete polnische Arbeiter errichteten an den vorgesehenen Standorten der drei Mordfabriken Holzbaracken, Zäune und einige wenige gemauerte Gebäude, von denen jeweils eines durch Rohre mit einem nahegelegenen Schuppen verbunden wurde. Die Arbeitskräfte ahnten natürlich nicht, was sie da bauten – vergleichbare Anlagen hatte es nie zuvor in der Weltgeschichte gegeben.

Mitte Juni 1942 war Odilo Globocnik mit dem technischen Stand der drei Mordfabriken zufrieden und meldete sich bei Viktor Brack in der "Kanzlei des Führers", um mehr Personal anzufordern. Brack schrieb daraufhin an Heinrich Himmler, er habe nun weitere Männer für die "Sonderaufgabe" bereitgestellt und fuhr fort: "Bei dieser Gelegenheit vertrat Brigadeführer Globocnik die Auffassung, die ganze Judenaktion so schnell wie nur irgend möglich durchzuführen, damit man nicht eines Tages mitten drin stecken bliebe, wenn irgendwelche Schwierigkeiten ein Abstoppen der Aktion notwendig machen."

Das Problem der Ghettoräumungen

Für diese "Sorge" hatte Brack viel Verständnis, denn die "Euthanasie" war Ende August 1941 nach dem öffentlichen Protest des Münsteraner Bischofs August Graf von Galen "abgestoppt" worden – jedenfalls in der bisherigen Form. So etwas sollte nicht wieder vorkommen. Deshalb begann die Massenvernichtung der polnischen Juden jetzt so rasch wie möglich. Doch zuerst mussten die Ghettoräumungen organisiert und Transportkapazitäten bereitgestellt werden. Das war schwieriger als die eigentlichen Morde.

In den Vernichtungslagern selbst nämlich waren insgesamt nur knapp hundert SS-Leute beschäftigt, zum größten Teil mit "Euthanasie"-Erfahrungen. So war derselbe Maurermeister, der 1940 Gaskammern in verschiedenen Heilanstalten eingebaut hatte, für die Konstruktion der Tötungsräume in Sobibor und Treblinka zuständig.

Auch die übrige deutsche Besatzung bestand vorwiegend aus "T4"-Personal, darunter besonders vielen Polizisten, aber auch einigen Ärzten und Pflegern sowie anderen berufen. Berüchtigt war der gelernte Straßenbahnfahrer Erich Bauer, der in Sobibor den Motor aus einem Beutepanzer bediente, dessen Abgase in die Todeskammern geleitet wurden.

Am 19. Juli 1942 – die "Aktion Reinhardt" hatte sich gerade eingespielt und die ersten Deportationen ins dritte Vernichtungslager Treblinka standen unmittelbar bevor – besuchte Heinrich Himmler Lublin. Dabei ordnete der Reichsführer SS ein noch höheres Tempo für die Mordaktionen an: "Mit dem 31. Dezember 1942 dürfen sich keinerlei Personen jüdischer Herkunft mehr im Generalgouvernement aufhalten."

"Im Sinne der Neuordnung Europas"

Obwohl der nach Hitler mächtigste Mann des Dritten Reiches selbst für so einen Befehl keine Begründung hätte angeben müssen, heißt es in seiner schriftlichen Weisung weiter: "Diese Maßnahmen sind zu der im Sinne der Neuordnung Europas notwendigen Scheidung von Rassen und Völkern, sowie im Interesse der Sicherheit und Sauberkeit des deutschen Reiches und seiner Interessengebiete erforderlich."

Obwohl die Gaskammer in allen drei Mordfabriken angesichts dieses Befehls schnell an "Kapazitätsgrenzen" stießen und ausgebaut werden mussten, ging die "Aktion Reinhardt" fast ungebremst weiter. Bis zum 31. Dezember wurden in den drei Vernichtungslagern und dem KZ Lublin-Majdanek insgesamt 1,274 Millionen Menschen ermordet, wie ein erst im Jahr 2000 entdeckter Funkspruch von Globocniks Untergebenem Hermann Höfle belegt.

Einige Monate ging das Morden noch weiter, dann wurden die Vernichtungslager aufgelöst und eingeebnet, die bis dahin nur provisorisch verscharrten Leichen auf riesigen Scheiterhaufen eingeäschert. Zur Tarnung wurden auf allen drei Arealen ehemalige Wachleute als Bauern angesiedelt und Bäume gepflanzt. Schließlich meldete Odilo Globocnik dem "Reichsführer SS" Vollzug: "Ich habe mit 19. Oktober 1943 die Aktion Reinhard, die ich im Generalgouvernement geführt habe, abgeschlossen."

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