Im
Sommer 1942 war die Probephase abgeschlossen. Unter dem Tarnnamen "Aktion
Reinhardt" begann in den Vernichtungslagern Belzec,
Sobibor und Treblinka die industrielle Menschenvernichtung.
Vielleicht war der Name als "Ehrung" gedacht.
Vor 70 Jahren tauchte erstmals in deutschen Akten der Begriff "Aktion
Reinhardt" auf, manchmal auch "Reinhard" oder
Reinhart" geschrieben. Der früheste Nachweis datiert
wenige Tage nach dem Tode von Reinhard Heydrich, dem Chef
des Reichssicherheitshauptamtes und zweitem Mann der SS nach
Heinrich Himmler. Das Codewort stand für den geplanten
Mord an den polnischen Juden, den Odilo Globocnik, der SS-
und Polizeiführer des Besatzungsdistrikts Lublin, seit
einigen Monaten vorbereitete.
Die Auslöschung von fast zwei Millionen Menschen galt
als Voraussetzung für die "Eindeutschung" Zentral-
und Ostpolens durch Ansiedlung. Das war sein vorrangiger
Auftrag, der intern gelegentlich als "Programm Heinrich" bezeichnet
wurde. In oberen SS-Rängen mag es konsequent erschienen
sein, den bei einem Attentat tödlich verletzten Heydrich
durch die Wahl seines Vornamens für die streng geheime
Mordaktion zu ehren.
Möglicherweise aber hatte der Begriff auch einen ganz
anderen Hintergrund. Jeder höhere SS-Führer kannte
das nach Staatssekretär Fritz Reinhardt vom Reichsfinanzministerium
benannte "Reinhardt-Programm". Es diente der Förderung
der Wirtschaft durch staatliche Darlehen, die entweder durch
Raub fremder, auch jüdischer Vermögenswerte finanziert
wurde oder durch schlichte Erhöhung der Geldmenge.
Abhängigkeit vom Reichsfinanzministerium
Auch der SS-Apparat war für seine teuren Siedlungsprojekte
zeitweilig auf Mittel des "Reinhardt-Programms" angewiesen.
Der Massenmord an den polnischen Juden, bei dem Globocnik
selbst die Ausbeutung der Opfer kontrollieren konnte, sollte
diese Abhängigkeit vom Reichsfinanzministerium reduzieren.
Andererseits sollten jene Wertsachen, die der österreichische
SS-Offizier von dem erbeuteten jüdischen Eigentum an
den NS-Staat abführte, auf einem Sonderkonto des Finanzministerium
gesammelt werden – eingerichtet von Staatssekretär
Fritz Reinhardt.
Ähnlich unklar wie der Ursprung des Namens dieser größten
Einzelaktion des Holocaust ist der genaue Ablauf ihrer Vorgeschichte.
Fest steht nur: Im Juni 1942 war die "Erprobungsphase" der
beiden schon seit Mitte März und Anfang Mai betriebenen
Vernichtungslager Belzec und Sobibor abgeschlossen. Die "Erkenntnisse" beim
Mord an etwa 200.000 Menschen flossen ein in den Bau der
dritten Anlage in Treblinka, die Mitte Juni "einsatzbereit" war
und vier Wochen später ihre mörderische Funktion
aufnahm.
Die Erfahrungen mit dem ersten stationären Vernichtungslager
herausgestellt, der Gaswagen-Station in Kulmhof (Chelmno)
hatten sich als unbefriedigend herausgestellt. Deshalb sollte
ein zentraler Stab in Lublin die Aufgabe übernehmen,
unter Leitung des rücksichtslosen Globocnik und mit
einschlägig erfahrenem Personal.
Globocnik bat um mehr Personal
Im Herbst 1941 waren einige Spezialisten der "Aktion
T4", des systematischen Mordes an deutschen Behinderten
in den Gaskammern von sechs "Euthanasie-Anstalten",
ins besetzte Polen abkommandiert worden. Hier begannen sie
an verkehsrgünstig und dennoch abgeschiedenen Stellen
drei Mordfabriken aufzubauen. Bezahlt wurden sie weiterhin
von der Dienststelle "T4" der Reichskanzlei, die
auch die Personalverwaltung übernahm.
Dienstverpflichtete polnische Arbeiter errichteten an den
vorgesehenen Standorten der drei Mordfabriken Holzbaracken,
Zäune und einige wenige gemauerte Gebäude, von
denen jeweils eines durch Rohre mit einem nahegelegenen Schuppen
verbunden wurde. Die Arbeitskräfte ahnten natürlich
nicht, was sie da bauten – vergleichbare Anlagen hatte
es nie zuvor in der Weltgeschichte gegeben.
Mitte Juni 1942 war Odilo Globocnik mit dem technischen
Stand der drei Mordfabriken zufrieden und meldete sich bei
Viktor Brack in der "Kanzlei des Führers",
um mehr Personal anzufordern. Brack schrieb daraufhin an
Heinrich Himmler, er habe nun weitere Männer für
die "Sonderaufgabe" bereitgestellt und fuhr fort: "Bei
dieser Gelegenheit vertrat Brigadeführer Globocnik die
Auffassung, die ganze Judenaktion so schnell wie nur irgend
möglich durchzuführen, damit man nicht eines Tages
mitten drin stecken bliebe, wenn irgendwelche Schwierigkeiten
ein Abstoppen der Aktion notwendig machen."
Das Problem der Ghettoräumungen
Für diese "Sorge" hatte Brack viel Verständnis,
denn die "Euthanasie" war Ende August 1941 nach
dem öffentlichen Protest des Münsteraner Bischofs
August Graf von Galen "abgestoppt" worden – jedenfalls
in der bisherigen Form. So etwas sollte nicht wieder vorkommen.
Deshalb begann die Massenvernichtung der polnischen Juden
jetzt so rasch wie möglich. Doch zuerst mussten die
Ghettoräumungen organisiert und Transportkapazitäten
bereitgestellt werden. Das war schwieriger als die eigentlichen
Morde.
In den Vernichtungslagern selbst nämlich waren insgesamt
nur knapp hundert SS-Leute beschäftigt, zum größten
Teil mit "Euthanasie"-Erfahrungen. So war derselbe
Maurermeister, der 1940 Gaskammern in verschiedenen Heilanstalten
eingebaut hatte, für die Konstruktion der Tötungsräume
in Sobibor und Treblinka zuständig.
Auch die übrige deutsche Besatzung bestand vorwiegend
aus "T4"-Personal, darunter besonders vielen Polizisten,
aber auch einigen Ärzten und Pflegern sowie anderen
berufen. Berüchtigt war der gelernte Straßenbahnfahrer
Erich Bauer, der in Sobibor den Motor aus einem Beutepanzer
bediente, dessen Abgase in die Todeskammern geleitet wurden.
Am 19. Juli 1942 – die "Aktion Reinhardt" hatte
sich gerade eingespielt und die ersten Deportationen ins
dritte Vernichtungslager Treblinka standen unmittelbar bevor – besuchte
Heinrich Himmler Lublin. Dabei ordnete der Reichsführer
SS ein noch höheres Tempo für die Mordaktionen
an: "Mit dem 31. Dezember 1942 dürfen sich keinerlei
Personen jüdischer Herkunft mehr im Generalgouvernement
aufhalten."
"Im Sinne der Neuordnung Europas"
Obwohl der nach Hitler mächtigste Mann des Dritten
Reiches selbst für so einen Befehl keine Begründung
hätte angeben müssen, heißt es in seiner
schriftlichen Weisung weiter: "Diese Maßnahmen
sind zu der im Sinne der Neuordnung Europas notwendigen Scheidung
von Rassen und Völkern, sowie im Interesse der Sicherheit
und Sauberkeit des deutschen Reiches und seiner Interessengebiete
erforderlich."
Obwohl die Gaskammer in allen drei Mordfabriken angesichts
dieses Befehls schnell an "Kapazitätsgrenzen" stießen
und ausgebaut werden mussten, ging die "Aktion Reinhardt" fast
ungebremst weiter. Bis zum 31. Dezember wurden in den drei
Vernichtungslagern und dem KZ Lublin-Majdanek insgesamt 1,274
Millionen Menschen ermordet, wie ein erst im Jahr 2000 entdeckter
Funkspruch von Globocniks Untergebenem Hermann Höfle
belegt.
Einige Monate ging das Morden noch weiter, dann wurden die
Vernichtungslager aufgelöst und eingeebnet, die bis
dahin nur provisorisch verscharrten Leichen auf riesigen
Scheiterhaufen eingeäschert. Zur Tarnung wurden auf
allen drei Arealen ehemalige Wachleute als Bauern angesiedelt
und Bäume gepflanzt. Schließlich meldete Odilo
Globocnik dem "Reichsführer SS" Vollzug: "Ich
habe mit 19. Oktober 1943 die Aktion Reinhard, die ich im
Generalgouvernement geführt habe, abgeschlossen." welt.de
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