May 2005
Konkret Online
  Letzte Chance
Von Kerstin Eschrich und Tjark Kunstreich
 
 

Das Simon Wiesenthal Center will die letzten NS-Täter vor Gericht bringen. Doch selbst wenn sich von denen einer mal öffentlich zu seinen Taten bekennt, bleibt das wahrscheinlich ohne Folgen

Der Auftrag lautete: 'Die sind zu erschießen.' Und das war für mich bindend." Der so spricht, hat nichts zu befürchten. Die zu Erschießenden waren ukrainische Juden, die wie alle Bewohner der Sowjetunion irgendwie minderwertig gewesen seien: "Sie waren zivilisatorisch noch nicht so weit wie der Westen. Sie müssen sich nur folgendes vor Augen führen: Frankreich, zivilisierte Nation - Wassertoilette. Rußland - überwiegend Toilette hinter dem Haus." Im übrigen sei es ja so gewesen, "daß da Zusammenhänge bestanden zwischen Juden und Bolschewisten, da gab es genügend Belege, daß da Zusammenhänge bestanden".

Aus der Sicht des Mörders ließ sich sein Auftrag leicht erfüllen: "Die waren ja dermaßen geschockt und verängstigt - mit denen konnten Sie machen, was Sie wollten." Und so lief eine Erschießung ab: "Versuchen Sie sich vorzustellen: Da ist ein Graben, da stehen Menschen an einer Seite, und dahinter stehen Soldaten - das waren wir -, und die haben geschossen. Und die getroffen wurden, die sind runtergefallen."

Was hat sich der Mörder dabei gedacht? "Nichts. Ich hab nur überlegt: Ziele vorsichtig, damit man auch richtig trifft. Das war meine Überlegung." Mitleid mit den Opfern? "Nein. Dazu ist mein Haß den Juden gegenüber zu groß. Und ich gebe zu, mein Denken ist da ungerecht, geb' ich zu. Aber, was ich von frühester Jugend an auf dem Bauernhof erlebt habe, was die Juden mit uns gemacht haben, da wird sich das nicht ändern. Davon bin ich felsenfest überzeugt." Was seine Opfer in der Ukraine denn damit zu tun hatten? "Gar nichts. Aber das waren für uns Juden!"

So sprach der heute 84jährige ehemalige SS-Unterführer Hans Friedrich Ende vergangenen Jahres, als er für eine BBC-Dokumentation über die "Endlösung" befragt wurde. Er hat offenbar aus der Geschichte gelernt - daß seine Beteiligung am Judenmord folgenlos bleibt. Warum sollte er also nicht auch gleich zugeben, daß er bis heute genauso denkt wie damals? Selbst wenn, was der Fall ist, nun gegen Friedrich ermittelt wird, dessen Bekenntnisse nach der Ausstrahlung des Films im Januar in Großbritannien für einigen Wirbel sorgten: Es wird keine Zeugen mehr geben, die Ermittlungen tragen den Charakter einer langwierigen historischen Recherche, letztlich hängt es vom Beklagten ab, ob er seine Taten gesteht.

Vor allem aber ist die Verurteilung solcher Verbrechen seit Sommer letzten Jahres vom Bundesgerichtshof (BGH) so erschwert worden, daß selbst ermittlungswillige Staatsanwälte (von denen es mittlerweile einige gibt) sich gut überlegen werden, ob sie einen solchen Fall noch einmal vor Gericht bringen. Der BGH hob damals das Urteil gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Friedrich Engel auf, der zuvor vom Hamburger Landgericht wegen der Ermordung von 59 italienischen Zivilisten zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war. Der "Todesengel von Genua" war 1944 Chef von SS und Polizei der von den Deutschen besetzten italienischen Stadt; die Geiselerschießung zur Vergeltung eines Anschlags auf ein Soldatenkino war nicht sein einziges Verbrechen, aber das einzige, das ihm nachgewiesen werden konnte.

Der BGH entschied, daß es "an den subjektiven Voraussetzungen des Merkmals der Grausamkeit gefehlt hat" und Engel deswegen nicht wegen Mordes verurteilt werden kann. In Italien war Engel schon 1999 der Prozeß gemacht worden, nicht wegen der Geiselerschießung, sondern aufgrund der besonderen Grausamkeit der Tat. Pier Paolo Rivello vom Archiv der italienischen Militärstaatsanwaltschaft faßt die Aussagen zusammen: "Die Opfer kamen in kleinen Gruppen zum Erschießungsort. Dort mußten sie auf einen Balken über einem Graben steigen, den jüdische Häftlinge ausgehoben hatten. In dem Graben sahen sie die bereits erschossenen Personen. Eine Gruppe von Offizieren aß und trank fröhlich mit Blick auf die Erschießungen."

Der BGH stellte dagegen strafmindernd in Rechnung, daß die Tat schnell, mit geringem personellen Aufwand und im Geheimen habe organisiert werden und stattfinden müssen - so einfühlsam können deutsche Richter sein. Im Hinblick auf weitere Verfahren, wie dem gegen Friedrich, muß also die Grausamkeit gesondert nachgewiesen werden. Ob Judenhaß da noch ausreicht oder die völlige Sinnlosigkeit der Tat? Mit der "Operation Last Chance" will das Simon Wiesenthal Center nun die Probe aufs Exempel machen. Die zuvor schon in zahlreichen osteuropäischen Staaten angelaufene Kampagne verspricht 10.000 Euro für Hinweise, die zur Verurteilung von Naziverbrechern führen (www.operationlastchance. com). Als Beispiel führt das Wiesenthal Center den Fall des Dr. Aribert Heim an, der als KZ-Arzt in Mauthausen Hunderte Häftlinge zu Tode gespritzt haben soll und der seit Anfang der sechziger Jahre in der Illegalität lebt. Heim, so Efraim Zuroff, der die Kampagne koordiniert, habe noch ein großes Vermögen auf der Bank. Wäre er gestorben, hätten sich die Erben längst schon gemeldet.

Im Sommer 2002 startete die "Operation Last Chance" in den baltischen Staaten. Zum einen hatten diese Länder die höchste Opferrate während der Shoah, zahlreiche Gemeinden wurden ganz ausgelöscht und Zehntausende deportierter Juden aus den westeuropäischen Staaten hier ermordet. Zum anderen aber erhoffte man sich eine gewisse Bereitschaft zu Aussagen, weil es nach dem Krieg, als diese Staaten zur Sowjetunion gehörten, schon zahlreiche Prozesse gegen lettische, litauische, estnische und ukrainische Täter gegeben hat, die keine weitere Verfolgung zu befürchten hatten. Die Rechnung ging auf: Das Wiesenthal Center leitete 72 Namen an die Staatsanwaltschaften weiter, 18 Verfahren gegen insgesamt 40 Beschuldigte wurden eingeleitet.

Doch geht es nicht nur um die Verfolgung noch lebender Mörder, das Ziel ist, so der Historiker Stefan Klemp, der die Kampagne in Deutschland betreut, auch einzelne Verbrechen aufzuklären. In Osteuropa sind Verbrechen geschehen, die noch immer nicht bekannt seien, bestätigt auch der Leiter der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm. Im Fall von Hans Friedrich gibt es jedoch Unterlagen über die Verbrechen seiner SS-Einheit. Er wurde 1921 im rumänischen Neu Sankt Peter geboren. Seine Familie zählte zur deutschsprachigen Minderheit, er war ein sogenannter Volksdeutscher. Seit 1936 gehörte er der "Deutschen Jugend", einer nationalsozialistischen Vorfeldorganisation, an. Im Juni 1940 meldete sich Friedrich bei der ersten Werbeaktion der Waffen-SS in Rumänien freiwillig. Die Aktion war faktisch illegal, da erst im September 1940 eine mit Deutschland verbündete faschistische Regierung ernannt wurde. Die Initiatoren der Werbeaktion waren Gottlob Berger, der Chef des SS-Hauptamts, und Andreas Schmidt, der Führer der Volksdeutschen in Rumänien.

Friedrich kam im Frühjahr 1941 zur gerade neu aufgestellten 1. SS-Infanteriebrigade. Diese Einheit begann ab Ende Juli 1941 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine mit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Die SS-Brigade war zusammen mit der gleichzeitig weiter nördlich in Weißrußland eingesetzten SS-Kavallerie die erste Einheit, die mit der Ermordung von jüdischen Männern, Frauen und Kindern in der Sowjetunion begann. Beide Brigaden taten über Monate nichts anderes, als Tag für Tag in immer weitere, bereits deutsch besetzte Dörfer und Städte der Sowjetunion einzufallen und dort mit Hilfe einheimischer Antisemiten die vor Ort wohnenden Juden zusammenzutreiben. Anschließend wurden die Kinder, Frauen und Männer in vorbereiteten Gruben erschossen. In den deutschen Befehlen und Niederschriften wurden diese Mordaktionen zumeist Maßnahmen gegen "Plünderer" oder "Partisanenbekämpfung" genannt, Euphemismen, die den Umstand der in der Sowjetunion in Gang gesetzten Shoah nur oberflächlich kaschierten.

Am Montag, den 4. August 1941 besetzte das 1. Bataillon des 10. Regiments der 1. SS-Brigade, zu dem auch Hans Friedrichs 3. Kompanie gehörte, das westlich von Schitomir gelegene Hrycow. Dort ermordeten die Deutschen laut eigenem Einsatzbericht in den nächsten Stunden 268 jüdische Männer; höchstwahrscheinlich wurden aber, wie in anderen Fällen, ebenso Frauen und Kinder getötet. Oberstaatsanwalt Schrimm erklärte Ende Januar, daß seine Behörde das Material, das ihr zu Hans Friedrich vorliege, bereits an die Staatsanwaltschaft München I weitergegeben habe. Diese ist in Deutschland speziell für Ermittlungen zu NS-Kriegsverbrechen zuständig. Dort kam man allerdings überein, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Göttingen zu übergeben, weil Friedrich dort lebt. Oberstaatsanwalt Hans-Hugo Heimgärtner von der Staatsanwaltschaft Göttingen kann bestätigen, daß seine Behörde beschäftigt ist. "Wir werten Unterlagen aus und kümmern uns um Informationen aus den Archiven. Wir müssen ja auch noch ermitteln, um was genau für eine Einheit es sich handelte, der Friedrich angehörte."

Friedrich wurde inzwischen gefragt, ob er sich zu den Vorwürfen äußern wolle. Aber leider ist der Herr noch nicht so weit. "Er will zur Zeit noch nichts sagen", erläutert Heimgärtner. Und da seine Behörde erst mal die "Grundlage schaffen muß", um ihn genauer zu befragen, wird es bei seinem Schweigen vorerst auch bleiben. Auch ein Haftgrund liege nicht vor, da Friedrich sich nicht "entziehen wolle" und dem "Ganzen mit großer Gelassenheit entgegensehe". Das ist natürlich schön für den ehemaligen SS-Mann und späteren Ingenieur, der, obwohl bereits über achtzig Jahre alt, "noch fit wie ein Turnschuh" ist, wie Heimgärtner bemerkt.

Trotz seiner Aussagen im Interview und den zahlreichen Dokumenten, die zu den Verbrechen der Einheit vorliegen, scheint es für die Staatsanwaltschaft nicht einfach zu sein, eine Klage gegen Hans Friedrich zu erheben. "Er sagt ja nicht, daß er selber geschossen hat, jedenfalls ist das nicht so aus dem vorliegenden Material zu verstehen. Der englische Text überlagert das, was er gesagt hat", lautet die verblüffende Interpretation von Heimgärtner. Daher müsse man sich erst das komplette Interview zuschicken lassen.

Bereits in den sechziger und siebziger Jahren ermittelte die Staatsanwaltschaft München I gegen Führerdienstgrade der 1. SS-Brigade wegen ihrer Beteiligung an Massenverbrechen in der Sowjetunion. Konkret ging es um jene Judenmorde, die Friedrich vor laufender Kamera beschrieben hat. Bei einem Abgleich der SS-Personallisten stießen die Ermittler damals auch auf seinen Namen. Im Verfahren wurde er dann insgesamt dreimal als Zeuge vernommen. Da Friedrich aber als SS-Unterführer nur einen niedrigen Dienstgrad innehatte, wurde gegen ihn gar nicht erst ermittelt. Er hütete sich seinerseits, bei den Vernehmungen von Sachverhalten zu sprechen, die seine früheren Vorgesetzten oder ihn selbst belastet hätten. Wie in Tausenden von ähnlich gelagerten Fällen gaben sich die Ermittler mit dieser Version der Ereignisse in der Mördertruppe zufrieden. Friedrich wurde nicht belangt. Die Ermittlungen gegen die Führerdienstgrade wurden nach teils zehnjährigen Ermittlungen trotz eindeutiger Beweislage Mitte der siebziger Jahre eingestellt.

Daß wenigstens in einigen Fällen nun ein zweites Mal von Staatsanwälten ermittelt wird, die kein eigenes Interesse mehr an der Strafvereitelung für NS-Täter haben, liegt durchaus auf der Linie des wiedergutgemachten Deutschlands. Insofern könnte auch die "Operation Last Chance" ganz im Sinne der deutschen Vergangenheitsbewältigung funktionieren, wenn denn die Berliner Republik demonstrieren wollte, daß sie sich der Vergangenheit gestellt und an ein paar alten Herren ein Exempel statuiert habe. Solange aber die wenigen noch lebenden deutschen Nazimörder durch aufsehenerregende Interviews mit ausländischen Medien auf sich aufmerksam machen müssen, um in den Genuß eines Ermittlungsverfahrens zu kommen, ist diese Gefahr denkbar gering. Hans Friedrich hat allen Grund, der Zukunft gelassen entgegenzusehen.

Konkret Online, May 2005