29.11.18 11:00 Uhr daserste.ndr.de
Interview mit NS-Verbrecher: "Ich bereue nichts!"
von Robert Bongen, Julian Feldmann, Fabienne Hurst, Andrej Reisin

Die Nacht vom ersten auf den 2. April 1944 ver?nderte das kleine nordfranz?sische Dorf Ascq (bei Lille) f?r immer. Die franz?sische R?sistance ver?bte damals einen Anschlag auf einen deutschen Armeezug. Doch dieser war kein Versorgungszug, sondern voll mit 400 M?nnern der Waffen-SS, die von Belgien in die Normandie verlegt werden sollten. Bei dem Attentat waren lediglich ein paar G?terwaggons entgleist, verletzt wurde jedoch niemand, laut Bericht waren lediglich Materialsch?den zu beklagen.

Doch die SS-M?nner der 12. SS-Panzerdivision "Hitlerjugend" ?bten trotzdem blutige "Vergeltung". Die jungen Soldaten der Einheit wurden aus der HJ rekrutiert und verliehen ihr daher auch ihren Namen. Die Offiziere kamen dagegen aus der Elitetruppe der 1. SS-Panzer-Division "Leibstandarte SS Adolf Hitler". Zu ihnen geh?rte Unterscharf?hrer Karl M., der mit seinen damals 21 Jahren und seiner Ostfronterfahrung schon als alter Hase unter den M?nnern galt, von denen die allermeisten 19 und j?nger waren. Ihr Durchschnittsalter hinderte die Truppe allerdings nicht daran, in dem kleinen Ort zu w?ten.

Der Vater kam nie mehr wieder

Rolande Bonte (geb. Couque) war damals zehn Jahre alt, heute ist sie 85. "Ich schlief bereits in unserem Kinderzimmer, da h?rte ich pl?tzlich L?rm von der Treppe her", erz?hlt sie und zeigt mit der Hand zum Treppenhaus. Sie wohnt noch immer im Haus ihrer Eltern, das in der Stra?e am Bahnhof steht, direkt gegen?ber den Gleisen. Die Deutschen nehmen ihren Vater mit, den damals 31-j?hrigen Eisenbahner Clovis Couque. Sie hat ihn nie wiedergesehen. Die SS-M?nner trieben ihn und Dutzende andere Dorfbewohner zum Bahnhof - allesamt unbewaffnete Zivilisten, zwischen 15 und 75 Jahre alt. Am Ende wurden 86 Menschen ermordet, unter ihnen der Vater von Rolande Bonte.

Sogar die Wehrmacht war entsetzt

Laut dem Historiker Jens Westermeier, der das Massaker untersucht hat, wurden die Aufgegriffenen an den Gleisen mit Taschenlampen angestrahlt und erschossen, wer sich noch regte, erhielt aus kurzer Distanz einen Kopfschuss. Insgesamt zogen die SS-M?rder mindestens vier Mal durch die Ortschaft - und erschossen auch auf der Stra?e wahllos M?nner. Eine Streife der deutschen Feldgendarmerie beendete schlie?lich das Treiben, das selbst der Wehrmacht zu bestialisch erschien.

L?gen und Legenden

Im Interview mit Panorama behauptet Karl M., dass er selbst niemanden erschossen habe, sondern nur f?r die Festnahme der Franzosen zust?ndig gewesen w?re. Die Erschie?ungen betrachtet er allerdings als rechtens und begr?ndet dies mit einem angeblichen Fluchtversuch: "Wenn ich die M?nner arrestiere, dann habe ich die Verantwortung f?r sie. Und wenn sie weglaufen, habe ich das Recht auf sie zu schie?en."

Um diese Ausrede war die SS schon unmittelbar nach dem Massaker nicht verlegen. Sie gleicht bis in den Wortlaut der Legende, die ein Kommandant von M.'s Truppe, der SS-Obersturmbannf?hrer und Generalstabsoffizier Hubert Meyer, schon in seinen Memoiren zum besten gab: "Bei dieser Suchaktion wurde niemand verletzt oder get?tet. Als einige der Festgenommenen zu fliehen versuchten, wurde von der Wache das Feuer er?ffnet."

Historiker, franz?sische Zeitzeugen und die Justiz sind dagegen sicher: Es handelte sich um eine der verbrecherischen Vergeltungsaktionen, f?r die diese Einheit der Waffen-SS ber?chtigt war. Bis Kriegsende ver?bte sie in Nordfrankreich zahlreiche weitere Gr?ueltaten.

Keine Strafverfolgung mehr m?glich

Die deutschen Beh?rden hatten erst 2015 angefangen, gegen Karl M. zu ermitteln, wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle stellte das Verfahren im M?rz 2018 jedoch ein. Laut der Staatsanwaltschaft d?rfe "niemand wegen derselben Tat zweimal bestraft werden". Dieser Grundsatz gelte im Schengen-Raum der EU auch dann, "wenn ein Beschuldigter in Frankreich verurteilt worden ist und dieses Urteil nach dem Recht des Urteilsstaates, also dem franz?sischen Recht nicht mehr vollstreckt werden kann".

Karl M. war 1949 wegen seiner Beteiligung am Massaker von Ascq in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Die Strafe wurde jedoch nie vollstreckt - und ist in Frankreich mittlerweile verj?hrt. Damit kann M. laut der Beh?rde auch in Deutschland nicht erneut angeklagt werden. Karl M. sa? wegen des Massakers also bis heute keinen Tag im Gef?ngnis.

Held in Neonazi-Kreisen

Sein Weltbild von damals scheint sich M., der freiwillig zur Waffen-SS gegangen war, bewahrt zu haben: Bis heute glaubt er nicht daran, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hat und leugnet NS-Verbrechen. Den Holocaust hat es aus seiner Sicht so nicht gegeben. Auf die Millionen ermordeter Juden angesprochen, sagt M.: "So viele Juden hat's damals gar nicht gegeben bei uns. Das hat man jetzt schon widerlegt. Ich habe letztens irgendwo gelesen, dass diese Zahl gar nicht stimmt, die da rausgegeben wird. Ich glaub' das alles nicht mehr."

Der heute 96-J?hrige trat k?rzlich vor Neonazi-Publikum als "Zeitzeuge" auf und wird dort als Vorbild verehrt. Nach Panorama-Recherchen trat Karl M. Anfang November bei NPD-Bundesvize Thorsten Heise im th?ringischen Freterrode auf, bei einem "Zeitzeugenvortrag". Vor rund 100 Rechtsextremisten sprach M. ?ber seine Erlebnisse bei der Waffen-SS. Dutzende Fotos von sich habe er dort f?r die Zuh?rer signieren m?ssen, erz?hlt der 96-J?hrige im Panorama-Interview. F?r die rechte Szene ist M. ein Held. Nahezu t?glich bekomme er nun Post mit Autogrammw?nschen.

Die Angeh?rigen der Mordopfer von Ascq sind dar?ber schockiert, dass Karl M. in Deutschland frei heruml?uft, nicht mehr belangt werden kann - und sogar von Rechtsextremisten verehrt wird. Rolande Bonte sagt im Gespr?ch mit Panorama: "Ich verstehe nicht, dass man solche Leute gut finden oder verteidigen kann. Der SS-Mann wird sich nicht mehr ?ndern. Aber man muss daf?r sorgen, dass er keine anderen mit seinen Ideen ansteckt. Damit sich so etwas nie mehr wiederholt."

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