08.05.2020 13:36 Uhr tagesschau.de
Die Sekretärin des KZ-Kommandanten
Von Julian Feldmann

Vor 75 Jahren wurde das KZ Stutthof befreit. Die meisten Täter von damals sind inzwischen verstorben, nicht jedoch die persönliche Sekretärin des KZ-Kommandanten. Gegen sie wird nach NDR-Recherchen ermittelt.

Irmgard F. ist 94 Jahre alt und wohnt seit sechs Jahren in einem Altenheim in Pinneberg, nördlich von Hamburg. In dem Heim ist sie eine der fittesten Bewohnerinnen. Viele ihrer Altersgenossen dort leiden an Demenz, sie nicht. Geistig wirkt sie auf der Höhe der Zeit. Selbstverständlich könnte man mit ihr über die Zeit bis 1945 sprechen, sagt die Seniorin, als ein Reporter des NDR sie Ende vergangenen Jahres besuchte. Nur direkt zitiert werden möchte sie lieber nicht. Dass sie im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig als Sekretärin gearbeitet hat und dass gegen sie ermittelt wird, bestätigt die Rentnerin. Der Vorwurf lautet: Beihilfe zum Mord.

In ihrem kleinen Zimmer im Heim hatte sie bereits Besuch von Ermittlern. Polizei und Staatsanwalt waren vor einigen Jahren gekommen, haben sie befragt und nach Unterlagen gesucht. Eine Polizistin habe einmal in den Schrank geschaut, erzählt Irmgard F. - aber was sollte sie auch finden? Seit 2016 ermittelt die Staatsanwaltschaft Itzehoe gegen die Frau. Die zuständige Staatsanwältin flog bereits nach Israel, um mit Überlebenden des KZ Stutthof zu sprechen. Auch in die USA hat die Staatsanwaltschaft ein Rechtshilfeersuchen geschickt, um Holocaust-Überlebende zu befragen.

Juristisch schwieriger Fall

Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, sagt eine Sprecherin der Strafverfolgungsbehörde. Es ist juristisch unklar, ob eine Sekretärin wie ein Wachmann mit der Waffe in der Hand zur Mordmaschinerie eines Konzentrationslagers zählt. Bei der Schreibkraft muss die Staatsanwaltschaft genauer nachweisen, was sie wusste und inwiefern sie das Morden im KZ unterstützte. Jüngere Urteile gegen KZ-Sekretärinnen gibt es nicht.

Derzeit muss sich vor dem Landgericht Hamburg der 93-jährige Bruno D. verantworten. Der SS-Wachmann im KZ Stutthof soll Beihilfe zum Mord von mindestens 5230 Menschen geleistet haben. Und in eben diesem KZ, unweit der Ostsee, war auch Irmgard F. tätig. Als Ermittler D. vor zwei Jahren Fotos von F. vorlegten und fragten, ob er sich an die damals junge Frau erinnern könne, verneint der ehemalige Wachmann. Trotz der Corona-Krise läuft der Prozess in Hamburg weiter.

Noch immer mehrere Prozesse anhängig

Gegen Wachleute von Konzentrationslagern, in denen systematisch Menschen ermordet wurden, wird seit 2011 ermittelt. Nach dem Urteil gegen John Demjanjuk, den das Landgericht München II wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Menschen verurteilte, fingen die deutschen Strafverfolger an, Wachpersonal von anderen KZs zu überprüfen. Das Urteil gegen den einstigen Aufseher im Vernichtungslager Sobibor sorgte für eine Änderung der Rechtspraxis. Seitdem wurden einige Greise vor Gericht gestellt, denen Staatsanwälte nachweisen konnten, dass sie in KZs ihren Dienst getan haben, in denen systematisch gemordet wurde.

Bereits mehrfach als Zeugin befragt

Auch die 94-jährige Irmgard F. hatte bereits mit der Justiz zu tun. Sie ist schon öfter zu ihrer Zeit im KZ Stutthof befragt worden - als Zeugin. Dem NDR liegen mehrere alte Vernehmungsprotokolle von ihr vor. Von Juni 1943 bis zum April 1945 sei sie als "Zivilangestellte" und Sekretärin und Stenotypistin des KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe in Stutthof gewesen.

Ihren Chef, den Kommandanten des KZ, in dem 65.000 Menschen ermordet wurden, beschrieb sie als "pflichtbewussten" Vorgesetzten, der seinen Dienst sehr ernstgenommen habe. F. sagte 1954 aus, dass der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt über ihren Schreibtisch gelaufen sei. Kommandant Hoppe habe ihr täglich Schreiben diktiert und Funksprüche verfügt.

F. will von Vergasungen nichts gewusst haben

Über die Vergasung von Menschen sei ihr jedoch kein Schreiben bekannt gewesen, sagte Irmgard F. - davon habe sie auch nichts gewusst. Mehr als 1000 Menschen wurden in Stutthof mit dem Giftgas Zyklon B ermordet. Damals konnte sich F. aber noch daran erinnern, dass der Lagerkommandant Hoppe einige Exekutionen beantragt hatte. Über die damaligen Opfer sagte F. neun Jahre nach der Befreiung des KZ, dass sie immer geglaubt hätte, dass die Exekutierten den Tod verdient hätten - wohl, weil sie im Lager jemanden angegriffen hätten oder ähnliches.

Als ein NDR-Reporter Irmgard F. Ende 2019 besuchte, erzählt die Rentnerin, sie habe von Mordtaten im KZ erst nach dem Krieg erfahren. Das Lager selbst will sie damals nie betreten haben. Und ihr Bürofenster, erklärte F. gegenüber dem NDR, habe in die vom Lager abgewandte Richtung gezeigt. Von der Tötungsmaschinerie, der während ihrer Dienstzeit nur wenige Meter von ihr Zehntausende Menschen zum Opfer fielen, habe sie nichts gewusst.

F. glaubt nicht an Prozess gegen sie

F.s Vorgesetzter, der Lagerkommandant Paul Werner Hoppe, wurde 1957 in Bochum zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt wegen Beihilfe zum Mord an einigen Hundert Gefangenen. Daran, dass auch sie sich heute noch für ihre Tätigkeit als Sekretärin vor Gericht verantworten müsse, glaubt Irmgard F. nicht.

Für viele Überlebende des Holocaust ist es wichtig, dass die Mordtaten der Nationalsozialisten auch juristisch aufgearbeitet werden. Der Rechtsanwalt Onur Özata vertritt im Hamburger Stutthof-Prozess mehrere Überlebende und verlangt, dass auch der Fall Irmgard F. aufgeklärt werden müsse. "Die Sekretärin stand sicher auf unterster Hierarchieebene", sagt Özata dem NDR. "Dennoch war auch sie Teil des Apparats, der Tausende Menschen ermordete". Wie stark ihr Tatbeitrag war, müsse ein deutsches Gericht klären. Ob es zu einem Prozess gegen F. kommt, ist unklar.

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