05 /05 /2011 tagesschau.sf.tv
Von den Opfern nicht vergessen
Von Jörg Paas, ARD Hörfunkstudio Südosteuropa

Ab heute steht Sandor Kepiro, einer der zehn meist gesuchten NS-Kriegsverbrecher, in Budapest vor Gericht. 1942 soll er 36 Menschen getötet haben. Kepiro beteuert hingegen er sei kein Kriegsverbrecher, habe nur seine Pflicht getan, nie jemanden getötet und nicht einmal sein Gewehr benutzt.

Auf der vom Simon Wiesenthal Center veröffentlichten "Liste der zehn meistgesuchten Nazi-Kriegsverbrecher" steht sein Name auf Platz eins: Sandor Kepiro, 97 Jahre alt, wird beschuldigt, im Januar 1942 an einem Massaker im serbischen Novi Sad beteiligt gewesen zu sein. Er soll die Erschießung unschuldiger Zivilisten angeordnet haben. Mehr als 1200 Menschen verloren bei der Aktion ihr Leben.

Seit 15 Jahren wohnt Sandor Kepiro unbehelligt in Budapest, in einem Haus direkt gegenüber der Synagoge. 2006 hat Efraim Zuroff, der Leiter des Wiesenthal Centers in Jerusalem, ihn dort aufgespürt. Seither treibt Zuroff immer wieder die Klage gegen den früheren ungarischen Polizeioffizier voran: "Kepiro war verantwortlich für einen großen Teil von Novi Sad. Er befahl, alle dort lebenden Serben, Juden und Roma erst zu einem Gebäude im Zentrum und danach ans Donauufer zu bringen, wo sie umgebracht wurden: Männer, Frauen und Kinder. Es gibt Zeugenaussagen, die belegen, dass er persönlich die Erschießung von 30 Menschen angeordnet und vier eigenhändig umgebracht hat."

Opfer erlitten große Qualen

Damals, im extrem kalten Winter 1942, mussten die Opfer sich bei Temperaturen um minus 25 Grad zur Hinrichtung am Ufer aufstellen. Ihre Leichen wurden in die gefrorene Donau geworfen. Knapp 70 Jahre später gibt es nur noch wenige Augenzeugen, die berichten können – so wie Edita Gavanski: "Ich lebte damals in Novi Sad. Wir hatten ein Haus in der Ungarischen Straße. Sie haben alle Bewohner der Straße mitgenommen. Nur wenige kamen zurück. Meine Familie und ich waren die einzigen, die zuhause bleiben durften."

Edita Gavanski wurde dafür wenig später nach Auschwitz deportiert. Novi Sad war während des Krieges von Ungarn als Verbündetem Hitler-Deutschlands besetzt.

Angeklagter beteuert Unschuld

Sandor Kepiro bestreitet nicht, dass er bei der blutigen Razzia mit dabei war, beteuert aber, er sei kein Kriegsverbrecher. Er habe nur seine Pflicht getan, nie jemanden getötet und nicht einmal sein Gewehr benutzt. Seine Beteiligung an dem Massaker hat ihm in den Jahren darauf bereits zwei Prozesse eingebracht. Im zweiten Verfahren 1946 wurde er in Abwesenheit zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt, entzog sich jedoch der Haft durch die Flucht nach Argentinien, das damals viele NS-Kriegsverbrecher aufnahm.

1996 packte ihn das Heimweh. Kepiro fragte nach bei den ungarischen Behörden, ob etwas gegen ihn vorliege. Man ließ ihn einreisen, obwohl Kriegsverbrechen eigentlich nicht verjähren. Vor zwei Jahren lud ihn die Staatsanwaltschaft in Budapest dann zum ersten Mal vor. Ein Haftbefehl folgte jedoch nicht. Viele Beobachter zweifelten, ob die Justiz überhaupt ein Interesse haben würde, Kepiro vor Gericht zu bringen.

Eine Justizsprecherin verweist auf die mühsamen Vorbereitungen: "Wir haben mehrere Dokumente aus Serbien bekommen. Dieses Verfahren dauert immer mehrere Monate. Und dazu muss man die Dokumente natürlich übersetzen. Das ist der eine Grund, weshalb dieses Verfahren ziemlich lange dauert."

Gedenken an die Opfer

In der Stadt Novi Sad erinnert heute ein Denkmal an das Massaker von 1942. Nazi-Jäger Efraim Zuroff, der Sandor Kepiro aufspürte, wurde zum Ehrenbürger ernannt. Die frühere Präsidentin der jüdischen Gemeinde der Stadt, Ana Frenkel, hofft, dass der 97-jährige nicht während des Verfahrens stirbt, sondern noch zu Lebzeiten verurteilt wird: "Dieses Verbrechen hat Sandor Kepiro mit seinen Freunden verübt. Einige von ihnen haben ihre verdiente Strafe bekommen. Wir wissen, was mit vielen Soldaten der ungarischen Armee geschehen ist, ebenso mit vielen Polizei-Gendarmen. Nun soll auch Sandor Kepiro Gerechtigkeit widerfahren."

Auf dem Sockel des Mahnmals in Novi Sad ist eine Inschrift angebracht. Sie lautet: Erinnerungen wiegen schwerer als Stein. Als menschliche Wesen sollten wir vergeben, aber nicht vergessen.

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