17.06.2016 spiegel.de
Urteil im Auschwitz-Prozess: "Sie haben zugesehen, wie Menschen in Gaskammern ermordet wurden"
Von Benjamin Schulz

Ein Leben lang versuchte Reinhold Hanning, seine Zeit in Auschwitz hinter sich zu lassen. Nun hat das Landgericht Detmold den früheren SS-Wachmann zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist ein Signal.

Kann die Justiz ein Verbrechen nach mehr als 70 Jahren noch sühnen? Kann ein Gericht jemanden angemessen bestrafen für die Beteiligung am Holocaust? Kann Opfern des NS-Regimes Gerechtigkeit widerfahren?

Wer nach dem Urteil des Landgerichts Detmold gegen Reinhold Hanning in die Gesichter der Auschwitz-Überlebenden Erna de Vries, Leon Schwarzbaum, Hedy Bohm und William Glied blickt, weiß die Antwort: Ja, es ist möglich.

Hanning aus Lage in Nordrhein-Westfalen erhielt eine Haftstrafe von fünf Jahren wegen seiner Zeit als SS-Wachmann in Auschwitz, wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen. "Eine unvorstellbare Zahl", sagte Anke Grudda, Vorsitzende der Schwurgerichtskammer. So viele Menschen wurden in Auschwitz umgebracht, während der heute 94-jährige Hanning von Januar 1943 bis Juni 1944 dort Dienst tat.

Oberstaatsanwalt Andreas Brendel hatte sechs Jahre Haft für den früheren SS-Wachmann gefordert, Verteidiger Johannes Salmen einen Freispruch. Der Anwalt will das Urteil anfechten. Ob der gebrechliche Hanning jemals ins Gefängnis muss, ist unklar. Dazu müsste er haftfähig sein.

"Meilenstein in der Aufarbeitung des NS-Unrechts in Deutschland"

Die Bedeutung der Entscheidung liegt ohnehin nicht im Strafmaß oder einer Inhaftierung Hannings, sondern in der Urteilsbegründung. Eine Stunde lang sprach Grudda. Ihre Worte markieren "einen Meilenstein in der Aufarbeitung des NS-Unrechts in Deutschland", wie Staatsanwalt Brendel sagte. Nebenklageanwalt Cornelius Nestler sagte, es sei zum ersten Mal von einem deutschen Gericht gesagt worden, dass man als SS-Mann für alle Morde in Auschwitz mitverantwortlich sei. Nestlers Kollege Thomas Walther meinte gar, erst mit diesem Urteil gehe "derZweite Weltkrieg zu Ende".

Tatsächlich sendet der Schuldspruch eine Botschaft: Als SS-Angehöriger in Auschwitz konnte man nicht unschuldig sein, wie die Verteidigung argumentiert hatte. "Das gesamte Lager glich einer Fabrik, ausgerichtet darauf, Menschen zu töten", sagte Richterin Grudda. "In Auschwitz durfte man nicht mitmachen."

Hanning habe einen Beitrag zum "reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung" geleistet, das Morden billigend in Kauf genommen. Da spielt es demnach eine untergeordnete Rolle, wie groß dieser Beitrag war. Es gab ihn. Und dadurch machte Hanning sich schuldig.

Grudda wandte sich direkt an den 94-Jährigen, der im Rollstuhl sitzend ihre Worte äußerlich weitgehend regungslos aufnahm. "Sie haben zweieinhalb Jahre zugesehen, wie Menschen in Gaskammern ermordet wurden. Sie haben zweieinhalb Jahre zugesehen, wie Menschen erschossen wurden. Sie haben zweieinhalb Jahre zugesehen, wie Menschen verhungerten."

Berichte über die "Hölle auf Erden"

Hanning habe sich mit seiner Tätigkeit arrangiert, sei in Auschwitz zweimal befördert worden und habe sich nicht an die Front versetzen lassen. Dass er keinen Dienst an der Rampe verrichtet haben will, wo Menschen für den Arbeitseinsatz aussortiert und der Rest direkt in die Gaskammer geschickt wurde, sei eine Schutzbehauptung. "Dass Sie, Herr Hanning, nie an der Rampe gestanden haben, halten wir für völlig abwegig." Genauso sei "ausgeschlossen, dass Sie nicht ein einziges Mal erlebt haben, wie Menschen in die Gaskammern gingen".

Schwarzbaum, de Vries, Bohm und Glied haben in Auschwitz viele Angehörige verloren. Im Verfahren berichteten sie vom unvorstellbaren Grauen, vom Leben in der "Hölle auf Erden", wie Schwarzbaum sagte. "Wir können nur hoffen, Herr Hanning, dass die Berichte der Nebenkläger Sie nicht unberührt gelassen haben", sagte Richterin Grudda. Diese hätten den Opfern "eine Stimme und ein Gesicht gegeben". Während die meisten Täter wie Hanning nach dem Krieg in ihr normales Leben zurückgekehrt seien, habe die Hölle von Auschwitz für die Überlebenden lebenslang bestanden.

Es ist das Verdienst des Gerichts, dass es auch auf eine Frage einging, die über dem gesamten Verfahren schwebte. "Warum hat es mehr als 70 Jahre gedauert, bis dem Angeklagten der Prozess gemacht wird?", fragte Grudda und formulierte damit die Bedenken vieler. Die Antwort sei "so einfach wie erschreckend": Nach dem Krieg wollte niemand von den Verbrechen wissen, geschweige denn mitgemacht haben. "Dieses Verfahren ist das Mindeste, was eine Gesellschaft tun kann, um den Überlebenden des Holocaust ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen."

"Es gibt kein Verzeihen, die Toten vergeben nicht"

Hanning hatte in einer Erklärung Reue über seine SS-Mitgliedschaft bekundet. "Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen lassen und dem nichts entgegengesetzt habe." Er wünsche, nie in dem KZ gewesen zu sein.

Man kann ihm abnehmen, dass er das aufrichtig meinte. Aber das Gericht hatte Zweifel. Man habe "keine Möglichkeit gehabt, den echten Menschen Reinhold Hanning kennenzulernen", sagte Grudda. Die Nebenkläger waren erst recht nicht überzeugt.

Bei einer Pressekonferenz nach dem Urteil verlas Schwarzbaum einen Brief, den er Hannings Anwalt übergeben hatte. "Ihre Erklärung ist für mich nicht glaubwürdig", heißt es darin. "Sie versteckten sich hinter Ausreden, Schweigen und Paragrafen." Für das Morden in Auschwitz verfluche er die SS, der Hanning angehört habe. "Es gibt kein Verzeihen, die Toten vergeben nicht. Es lag an Ihnen, die historische Wahrheit zu sagen. Das haben sie nicht getan."

Die Holocaust-Überlebende Bohm sagte unter Tränen, Hanning habe damals nicht das Richtige getan und wisse es heute immer noch nicht. Sie habe nie gewagt zu träumen, dass es jemals Gerechtigkeit für ihre ermordeten Angehörigen geben würde. Nun sei der Traum wahr geworden. "Meine ermordete Mutter und mein ermordeter Vater können nun endlich in Frieden ruhen."

So bleibt das Strafverfahren gegen Reinhold Hanning vor allem ein Symbol. Es erinnert daran, dass eine Beteiligung am größten Menschheitsverbrechen der Geschichte nicht ungesühnt bleiben darf, selbst wenn dies erst nach vielen Jahrzehnten geschieht. Das ist die eine Seite.

Die andere: Hanning wurde nun verurteilt, mit 94 Jahren. Aber in derNachkriegszeit, als die Nazi-Täter noch keine Greise waren, gab es bei der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen flächendeckendes Versagen, das nun nicht mehr korrigiert werden kann. Ähnliche Verfahren wird es kaum noch geben. Der Fall sei eine Warnung an die heutige Generation vor den Versäumnissen der Justiz, sagte Richterin Grudda.

Auch das macht Reinhold Hanning zur Symbolfigur: Der Schuldspruch gegen ihn erinnert daran, dass Zigtausende Mörder und Fanatiker davonkamen.

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