25. Dezember 2015, 19:30 Uhr sueddeutsche.de
So verfolgt Ludwigsburg noch lebende SS-Veteranen
Von Martin Anetzberger und Oliver Das Gupta

Der 12. Mai 2011 markierte eine bemerkenswerte Wende in der deutschen Rechtsprechung. Zum ersten Mal wurde ein mutmaßlicher NS-Verbrecher ohne konkreten Tatnachweis verurteilt - schuldig der Beihilfe zum Mord in 28 060 Fällen. Der Angeklagte hieß John Demjanjuk, das Strafmaß, dass das Landgericht München verhängte, lautete: fünf Jahre Haft.

Für die Angehörigen der Opfer und KZ-Überlebende war es ein guter Tag. Vor allem aber auch für eine Behörde mit dem etwas sperrigen Namen "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg. Diese hatte unter ihrem langjährigen Leiter Kurt Schrimm die Rechtsauffassung entwickelt, wonach es für eine Verurteilung ausreicht, dass ein angeklagtes SS-Mitglied oder ein SS-Helfer zum Tatzeitpunkt in einem Vernichtungslager anwesend war und um das Geschehen wusste. Schrimm umschrieb das als "Beitrag zum Funktionieren der Tötungsmaschinerie".

Diesen hatte nach Überzeugung des Münchner Gerichts auch Demjanjuk geleistet, als er von Ende März bis Mitte September 1943 als ukrainischer "Hilfswilliger" der SS im Vernichtungslager Sobibor diente. In diesem Zeitraum ermordeten die Nazis dort Deportationslisten zufolge mehr als 28 000Menschen. Rechtskräftig wurde das Urteil jedoch nicht. Denn Demjanjuk starb, ehe der Bundesgerichtshof über die von Verteidigung und Anklage beantragte Revision entscheiden konnte.

Seither hofft man in Ludwigsburg auf eine höchstrichterliche Bestätigung aus Karlsruhe. Schrimm ist mittlerweile nicht mehr Behördenleiter, in diesem Jahr folgte ihm Jens Rommel nach, doch das Ziel bleibt das gleiche: ein rechtskräftiges Urteil gegen einen SS-Wachmann auf Grundlage eben jener Ludwigsburger Rechtsauffassung.

Grund zu neuem Optimismus gibt es seit 15. Juli 2015. An diesem Tag befand das Landgericht Lüneburg den heute 94-jährigen ehemaligen Auschwitz-Wachmann Oskar Gröning schuldig der Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen und verhängte eine vierjährige Freiheitsstrafe. Zur Begründung hieß es, Gröning habe sich aus freiem Willen für die SS entschieden. Alle in Auschwitzhätten gewusst: "Dies war etwas Verbotenes, Unmenschliches, beinahe Unerträgliches", sagte der Vorsitzende Richter Franz Kompisch.

Gröning wurde unter der Bezeichnung "Buchhalter von Auschwitz" bekannt. Zwischen September 1942 und Oktober 1944 war der Waffen-SS-Mann in Auschwitz eingesetzt. Er war für die Verwaltung des Geldes der Häftlinge verantwortlich und führte dieses in gewissen Abständen nach Berlin ab. Außerdem leistete er Dienst an der Rampe, wo die deportierten Menschen ankamen, und passte auf ihr Gepäck auf.

Im Vergleich zu den meisten NS-Tätern sagte Gröning im Prozess umfassend aus, nannte sich selbst nur ein "Rad im Getriebe", räumte aber auch eine "moralische Mitschuld" ein. Ober der gesundheitlich schwer angeschlagene Mann in Haft muss, entscheidet die Staatsanwaltschaft, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Auch in diesem Fall steht eine Revisionsentscheidung des BGH bisher allerdings aus, könnte aber im neuen Jahr fallen.

Oberstaatsanwalt Rommel hofft, dass die Revision verworfen und das Urteil damit rechtskräftig wird. "Wir würden uns gerne an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs orientieren", sagt er zur SZ. Dazu müsse der BGH sich allerdings erst "zu den Voraussetzungen äußern, wann sich jemand, der lediglich in einem KZ tätig war, wegen Beihilfe zum Mord schuldig gemacht hat", so Rommel. Karlsruhe könne den Strafverfolgungsbehörden "Richtlinien an die Hand geben". Anhand dieser wäre es dann möglich, sagt Rommel, darüber zu entscheiden, in welchen anderen Fällen eine Anklageerhebung noch erfolgversprechend sei. Was aber, falls der BGH die Ludwigsburger Rechtsauffassung verwirft und wie bisher auf dem Nachweis einer konkreten Beteiligung an den Morden beharrt?

sueddeutsche.de