Das Simon-Wiesenthal-Zentrum
ist mit der »Operation Last Chance« mittlerweile
weniger auf der Suche nach NS-Tätern als eher nach Gerichten,
die die Täter anklagen.
Letzte Chance!« ruft Efraim Zuroff grinsend auf Deutsch.
Der Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Israel, der
ansonsten Englisch mit breitem New Yorker Akzent spricht,
ist gerade aus Österreich zurückgekehrt, auf seinem
Schreibtisch in Jerusalem stapeln sich die Faxe. In
die Arbeit des Nazijägers ist in den vergangenen Monaten
einige Bewegung gekommen. Aber den Ausdruck »letzte
Chance« hört Zuroff derzeit vor allem im deutschsprachigen
Raum.
So fehlte, als kürzlich vor dem Münchner Landgericht
der Prozess gegen den 90jährigen Josef Scheungraber
eröffnet wurde, der beschuldigt wird, 1944 als Kompanieführer
der Wehrmacht in Italien ein Massaker an Zivilisten befohlen
zu haben, in kaum einem deutschen Zeitungsbericht die Formulierung
vom »wahrscheinlich letzten NS-Kriegsverbrecherprozess«.
Das allerdings las man auch schon über die Verfahren
gegen den ehemaligen Gestapo-Aufseher Anton Malloth in München
im Jahr 2001 oder gegen den ehemaligen SS-Sturmbannführer
Friedrich Engel in Hamburg im Jahr 2002. Dabei ist das Gerichtsverfahren
gegen Scheungraber keineswegs das letzte. Um das festzustellen,
braucht man sich lediglich die Klagen und Ermittlungen außerhalb
Deutschlands anzuschauen.
In den USA und in Italien hat es in jüngster Zeit zahlreiche
Ausweisungen von und Anklagen gegen mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher
gegeben, insgesamt 33 waren es in den vergangenen drei Jahren.
Weltweit gibt es derzeit eine deutliche Zunahme von Ermittlungsverfahren. Über
200 wurden im vergangenen Jahr eingeleitet, das sind dreimal
so viele wie im Vorjahr. Da allmählich die letzten der
noch lebenden NS-Kriegsverbrecher sterben, intensiviert auch
das Simon-Wiesenthal-Zentrum unter dem Titel »Operation
Last Chance« ein letztes Mal seine Bemühungen,
bislang unbehelligte NS-Täter vor Gericht zu bringen.
Eine unscheinbare Wohnung in der Innenstadt von Jerusalem.
An den Wänden drängen sich Aktenschränke und
eine riesige Sammlung von Büchern über die Shoah
und den Antisemitismus, dazwischen hängen leicht schief
einige Fotos von Gerichtsprozessen und Konferenzen. »Wahrscheinlich
das beste Archiv zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen weltweit«,
sagt Zuroff, während er einige Papiere zur Seite räumt.
Platz finden sie unter einem kleinen Basketballkorb, der
neben seinem Schreibtisch steht.
Bevor der Historiker zum obersten Nazijäger des Simon-Wiesenthal-Zentrums
wurde, fahndete er im Auftrag des amerikanischen Office of
Special Investigations jahrelang nach NS-Tätern, die
in den USA Unterschlupf gefunden hatten. Ob die Suche mit
den Jahren nicht schwieriger werde? »Nein, es ist überhaupt
nicht schwierig, ob Sie es glauben oder nicht. Die meisten
von ihnen verstecken sich überhaupt nicht.«
Auf der Liste der zehn meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher,
welche das Simon-Wiesenthal-Zentrum jährlich veröffentlicht,
befindet sich heute nur noch eine einzige Person, deren Aufenthaltsort
unbekannt ist: Aribert Heim, die Nummer 1. Als Arzt im Konzentrationslager
Mauthausen tötete er Hunderte von Häftlingen
durch sadistische Experimente, unter anderem indem er ihnen
Injektionen direkt ins Herz setzte. Die letzte große
Suche nach dem als »Dr. Tod« bekannten Mediziner,
der mittlerweile 94 Jahre alt sein müsste und vermutlich
in Chile lebt, wird mit gewaltigem Aufwand betrieben.
Zugleich ist dies aber für die Nazijäger zum letzten
Mal eine wirkliche Sucharbeit. Schließlich muss sich
Zuroff mittlerweile eher als Lobbyist denn als Detektiv betätigen.
An Informationen über den Verbleib mutmaßlicher
NS-Verbrecher mangelt es 63 Jahre nach Kriegsende nämlich
nicht mehr. Seit das Simon-Wiesenthal-Zentrum vor sechs Jahren
erstmals mit der »Operation Last Chance« an die Öffentlichkeit
ging, sind im Jerusalemer Büro Hinweise zu über
500 mutmaßlichen NS-Verbrechern eingegangen, darunter
Befehlshaber der SS, KZ-Aufseher und Organisatoren der Massendeportationen.
In 99 Fällen befand das Zentrum, dass die Informationen
ausreichend stichhaltig seien, um die Verdächtigen anzuklagen.
In allen 99 Fällen wurden die Hinweise an die zuständigen
Behörden weitergeleitet. Verurteilt wurde bislang kein
Einziger.
Die Gründe dafür sind oft das hohe Alter der Beschuldigten
oder juristische Fragen der Verjährung. Gesucht werden
bei der »Operation Last Chance« daher eigentlich
weniger die Täter als ihre Ankläger. Und das
mehr als je zuvor.
In Österreich wurde seit über 30 Jahren kein NS-Verbrecher
verurteilt. »Allerdings nicht aus Mangel an Verdächtigen«,
stellt Zuroff fest. Zuletzt wurde dort die Akte von Erna
Wallisch geschlossen, ohne dass die Österreicherin verurteilt
worden wäre. Wallisch war Aufseherin in den Konzentrationslagern
Ravensbrück und Majdanek und hatte Häftlinge selektiert,
die getötet werden sollten. Ihre Verbrechen wurden in Österreich
bereits in den siebziger Jahren als verjährt angesehen
und eine Auslieferung an Polen wurde verweigert. Erst im
Januar sah es für kurze Zeit so aus, als ob das Verfahren
nach Jahrzehnten erneut aufgerollt werden würde. Zuroff
machte in Polen fünf Zeugen ausfindig, die bereit waren, über
Wallischs Rolle in Majdanek auszusagen. Doch am 16.?Februar
starb Wallisch im Alter von 86 Jahren in Wien. Zum Zeitpunkt
ihres Todes war sie die Nummer 7 auf der Liste der »Meistgesuchten«.
Im Juni entdeckte ein Reporter der britischen Sun die derzeitige
Nummer 4 auf der Liste, den heute 95jährigen Milivoj
Ašner, beim Flanieren am Rande der Fußball-Europameisterschaft
in Klagenfurt (Jungle World 26/08). In Kroatien wird ihm
vorgeworfen, während des Zweiten Weltkriegs als Chef
der Ustaša-Polizei in der Stadt Pozega an der Deportation
Hunderter Juden, Serben und Roma beteiligt gewesen zu sein.
Die österreichischen Behörden weigern sich bislang,
ihn auszuliefern.
Zweifel an der Ašner bescheinigten Verhandlungsunfähigkeit
bestehen jedoch nicht erst, seitdem er dem Reporter der Sun
in Klagenfurt ein Interview gab und freimütig erklärte,
seine Verfolger seien »Hohlköpfe« und er
könne »vor jedem Gericht erscheinen«. Der
erste österreichische Gutachter Ašners, Reinhard
Haller, dürfte einigen noch in Erinnerung sein. Er stellte
im Jahr 2000 dem Euthanasie-Arzt Heinrich Gross dieselbe
Diagnose aus.
Die österreichische Justizministerin Maria Berger (SPÖ),
mit der sich Zuroff in Wien traf, sei zwar freundlich gewesen,
freundlicher jedenfalls als ihre Vorgänger von der FPÖ,
erzählt Zuroff. »Aber das Gespräch war nicht
weniger frustrierend.« Nach Protesten in österreichischen
Medien lässt die Klagenfurter Justiz Ašners Gesundheitszustand
derzeit erneut überprüfen. Ein Gutachter aus der
Schweiz ist bestellt worden, über den ein leicht gereizter
Gerichtssprecher der Jungle World sagt, er finde »auch
beim World Jewish Congress und den Herrschaften Zuroff Gefallen«.
Während noch ungewiss ist, wann die Ergebnisse seiner
Untersuchung vorliegen werden, setzt sich die Kärntner
Landesregierung bereits offen dafür ein, dass Ašner
weiter in Klagenfurt bleiben darf. »Österreich
ist ein Paradies für Kriegsverbrecher«, sagt Zuroff
achselzuckend.
Auch in Deutschland hängt die Frage, ob es mit der
Strafverfolgung von NS-Verbrechen nach dem Prozess gegen
Josef Scheungraber schon endgültig sein Bewenden
haben wird, nicht allein von der Biologie, sondern auch vom
Willen der Justiz ab. Bei den Ermittlungen gegen Aribert
Heim ist allein das Landgericht in Baden-Baden, der Stadt,
wo Heim bis 1962 als Gynäkologe praktizieren konnte,
zuständig. Zuroff reiste zwar im Juli nach Chile, um
die dortigen Behörden von der Bedeutung der Suche
nach »Dr. Tod« zu überzeugen und öffentlich
eine Belohnung von 315?000 Euro auszuloben, die er zuvor
bei privaten Spendern und den Regierungen Österreichs
und Deutschlands gesammelt hatte. Aber nur das Gericht in
Baden-Baden kann anordnen, dass mögliche Verbindungsleute
Heims in Deutschland überwacht werden.
»Es ist bemerkenswert, dass Ermittlungsmaßnahmen
wiederholt abgelehnt wurden, die bei kleinen Straftaten wie
Drogendelikten routinemäßig abgenickt werden«,
sagt Stefan Klemp, der die Arbeit des Simon-Wiesenthal-Zentrums
in Deutschland koordiniert, der Jungle World. Beim Landgericht
Baden-Baden lässt man diese Vorwürfe nicht gelten. »Der
Aufwand, den wir betreiben, ist gewaltig«, erwidert
ein Gerichtssprecher auf Nachfrage. Klemp verweist dagegen
auf eine interne Akte der österreichischen Kriminalpolizei,
die dem Simon-Wiesenthal-Zentrum zugespielt wurde. Diese
zeige, wie der zuständige deutsche Richter unter anderem
Rechtshilfeersuchen an die österreichischen Behörden
verzögert habe.
Wegen dieses Verhaltens schwinden die Hoffnungen der Nazijäger,
Heim noch vor seinem Tod zu finden. Vergleichsweise optimistisch
blickt Zuroff hingegen auf ein anderes deutsches Ermittlungsverfahren.
Der ehemalige KZ-Aufseher Iwan Demjanjuk, die Nummer 2 auf
der Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums, könnte demnächst
aus den USA an die Bundesrepublik ausgeliefert werden, vorausgesetzt,
die deutsche Justiz entschiede sich dazu, ihn hierzulande
anzuklagen (Jungle World 27/08). Demjanjuk, ein gebürtiger
Ukrainer, der mittlerweile 88 Jahre alt ist und in Ohio lebt,
kann vor amerikanischen Gerichten nicht angeklagt werden,
da seine Taten außerhalb der USA begangen wurden und
weil unter seinen Opfern keine amerikanischen Staatsbürger
waren. Daher bemüht sich die US-Justiz, seitdem neue
Beweise gegen Demjanjuk aufgetaucht sind, den 88jährigen
an ein Land zu überstellen, das ihm den Prozess macht.
In einer ähnlichen Situation war die USA in den vergangenen
Jahren schon mehrmals. Mutmaßliche NS-Verbrecher, die
ihre Taten im deutschen Auftrag begingen, konnten jahrelang
nicht ausgewiesen werden, weil weder die Bundesrepublik noch
ein anderer Staat sie aufnehmen wollte. Dass die deutschen
Behörden im Fall von Iwan Demjanjuk eine entsprechende
Bereitschaft zeigten, ist für Zuroff deshalb verblüffend.
Vielleicht sei diese »Geste« eine Vorleistung
der Deutschen dafür, anschließend endgültig
in Ruhe gelassen zu werden, vermutet er.
Eventuell hat die deutsche Justiz in diesem Fall aber auch
einen besonderen diplomatischen Wert entdeckt. Demjanjuk
wurde schon einmal aus den USA ausgewiesen, im Jahr 1977 – damals
nach Israel. Das israelische Oberste Gericht sprach Demjanjuk
allerdings im Jahr 1993 aufgrund von »Restzweifeln« an
seiner Identität frei. »Wir haben damals dafür
gekämpft, dass Demjanjuk einen zweiten Prozess bekommt«,
erinnert sich Zuroff. Sollte nun, 15 Jahre später, ein
deutsches Gericht den israelischen »Job vollenden«,
wie Zuroff es ausdrückt, würde dies in Israel
zumindest mit Interesse verfolgt werden.
Bisher allerdings ist trotz aller Bekundungen der deutschen
Justiz wenig geschehen. Demjanjuk lebt weiterhin in Ohio,
ein Auslieferungsgesuch ist in den USA noch nicht eingetroffen.
Im Juni erklärte der Leiter der Ludwigsburger Zentralen
Stelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen, Kurt
Schrimm, das Verfahren werde spätestens im August in
die Wege geleitet. Im August erklärte er, anvisiert
sei nun Oktober, noch warte man auf wichtige Unterlagen aus
dem Ausland. Inzwischen ist es bereits November.
»Auf irgendetwas wartet Schrimm immer«, sagt
Zuroff. Natürlich, es könne sein, dass es da tatsächlich
ein Problem gebe. Aber eine sonderbare Situation sei das
in Deutschland schon. Zwar gebe es keine offene Opposition
gegen die Bestrafung von NS-Verbrechen mehr, zumindest keine
politisch relevante. Beobachte man die öffentliche Debatte
in Deutschland, dann sei es inzwischen sogar Konsens, dass
diese Verfahren dem Ansehen der Bundesrepublik nützen
würden, meint Zuroff. Aber auf vollmundige Beteuerungen
würde in aller Regelmäßigkeit nichts folgen. »Es
herrscht ein Zustand der Trägheit.«
Ein weiteres Strafverfahren, das die deutsche Justiz derzeit
gegen einen der zehn »Meistgesuchten« führt,
lässt erahnen, was Demjanjuk nach einer Auslieferung
an die Bundesrepublik erwarten würde. Gegen Heinrich
Boere, der als Angehöriger eines SS-Sonderkommandos
in den Niederlanden Mordaufträge ausführte und
als Nummer 6 der »Meistgesuchten« geführt
wird, wurde erst im April Anklage vor dem Landgericht Aachen
erhoben. Ein niederländisches Gericht hatte ihn zwar
bereits 1949 wegen Mordes verurteilt. Boere konnte damals
aber in die Bundesrepublik fliehen, die sich bis zuletzt
weigerte, ihn auszuliefern oder anzuklagen.
Seitdem die Anklage bekannt gegeben wurde, woraufhin die
Welt wiederum voreilig den »mutmaßlich letzten
Prozess gegen einen NS-Verbrecher« beginnen sah, ist
kaum etwas geschehen. Ein Gutachter hat den Auftrag bekommen, über
Boeres Verhandlungsfähigkeit zu befinden, Ergebnisse
sind jedoch nicht in Sicht. Einen Prozess plant die zuständige
Staatsanwaltschaft, sieben Monate nach Erhebung der Anklage,
noch immer nicht. Ob in diesem Jahr überhaupt noch etwas
stattfinden werde, wisse er nicht, sagt ihr Sprecher der
Jungle World. Und im kommenden Jahr wird Boere 87.
Letzte Chancen zur Verurteilung noch lebender NS-Verbrecher
sieht hingegen in der deutschen Justiz kaum noch jemand.
Kurt Schrimm von der Ludwigsburger Zentralen Stelle betrachtet
die Arbeit seiner Ermittler als aussichtslos und erklärte
kürzlich im Spiegel: »Wir können noch aufklären.
Aber rechtskräftige Verurteilungen sind kaum mehr zu
erwarten.« Diese Diagnose schließt offenbar auch
seine Ermittlungen gegen Iwan Demjanjuk ein.
Wie viel Zeit nach all den verpassten Chancen noch bleibe,
bis auch die »Operation Last Chance« ihre Bemühungen,
Strafverfolgungsbehörden in Deutschland und Österreich
unter Handlungsdruck zu setzen, einstellen müsse? »Zwei,
vielleicht drei Jahre noch«, schätzt Zuroff, bevor
zum vierten Mal sein Telefon klingelt und er diesmal
auf Hebräisch mit amerikanischem Akzent spricht. Ob
bis dahin das Verfahren gegen Josef Scheungraber tatsächlich
schon als »letzter NS-Kriegsverbrecherprozess« in
Deutschland feststehen wird, wie hierzulande bereits erwartungsfroh
geraunt wird, werden wohl die nächsten Monate zeigen.
jungle-world.com
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