Ludwigsburg - "Die
Aufarbeitung der NS-Verbrechen wird immer nur ein Versuch
bleiben", stellte Bundespräsident Horst Köhler
gestern zum 50. Jahrestag der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen
zur Aufklärung von NS-Verbrechen fest. Er griff damit
eine Formulierung des langjährigen Leiters dieser Einrichtung,
Adalbert Rückerl, auf. Zugleich betonte Köhler
jedoch: "Dass unser Land heute wieder ein geachtetes
Mitglied der Völkerfamilie ist und dass aus einstigen
Kriegsgegnern Freunde geworden sind - das haben wir auch
dem Bemühen um Aufklärung der NS-Verbrechen und
somit auch der Arbeit dieses Hauses zu verdanken. Wir alle
sollten dankbar dafür sein." Die Zentrale Stelle
habe zudem "einen unverzichtbaren Beitrag" zu Aufarbeitung
und Aufklärung geleistet.
Die Zentrale Stelle nahm am 1. Dezember 1958 ihre Arbeit
auf. Zuvor war in einem NS-Prozess in Ulm deutlich geworden,
dass noch unzählige Täter in der Bundesrepublik
auf freiem Fuß waren. Doch die Zahl der neu eingeleiteten
Verfahren wegen Tötungen war in den Fünfzigerjahren
rückläufig - auch eine Folge des Wunsches, einen "Schlussstrich" unter
die Vergangenheit zu ziehen. Gegen diese Tendenz wehrten
sich vor allem jüngere Staatsanwälte und arbeiteten
in der größten je in einem Rechtsstaat eingerichteten
juristischen Aufarbeitungsinstitution mit.
Die Folge war schon 1959 ein Anstieg bei den Strafverfahren
von 488 im Jahr 1958 auf dann 1075. Insgesamt hat in den
vergangenen fünf Jahrzehnten die Behörde - die
Ende der Sechzigerjahre 124 Planstellen hatte, davon fast
die Hälfte hoch qualifizierte Juristen - 7617 Vorermittlungsverfahren
gegen über 100 000 Beschuldigte geführt.
Ursprünglich hätte die Arbeit der Zentralen Stelle
bis zum 8. Mai 1965 abgeschlossen sein sollen. Nach damals
gültigem Recht nämlich wären an diesem Tag
selbst alle Mord verjährt. Doch nicht zuletzt dank der
Initiativen aus Ludwigsburg kam eine breite Debatte in Deutschland
in Gang, in deren Verlauf die Verjährung zunächst
verschoben und schließlich aufgehoben wurde.
Zurzeit sind in Ludwigsburg noch 24 Vorermittlungsverfahren
anhängig; zuletzt abgeschlossen wurde der Fall des ukrainischen
KZ-Wärters Iwan Demjanjuk. Ob der heute 88 Jahre alte
Mann noch bestraft werden kann, ist offen - die Staatsanwaltschaft
München hat sich vergangene Woche aus sehr fragwürdigen
formalen Gründen für unzuständig erklärt.
Demjanjuk war nach Überzeugung der Ludwigsburger Strafverfolgung
an der Ermordung von mindestens 29 000 Juden im deutschen
Vernichtungslager Sobibor im Südosten des besetzten
Polens beteiligt.
Da absehbar ist, dass bald auch die letzten potenziellen
Beschuldigten sterben werden, wird die Zentrale Stelle schon
seit Längerem von der aktiven Strafverfolgungs- zur
Forschungsstelle umgestaltet. Das Bundesarchiv übernimmt
sukzessive ihre Akten; Köhler lobte dieses Engagement
ausdrücklich: "Dass sich das Bundesarchiv in Ludwigsburg
als ,historischer Lernort' versteht und seine Tore für
Schülerinnen und Schüler öffnet, finde ich
besonders gut. Hier wird an konkreten Einzelfällen deutlich,
was man aus Geschichtsbüchern zwar lernen, aber nicht
begreifen kann - das von Deutschen begangene Menschheitsverbrechen
Holocaust." Für die Auswertung der in 50 Jahren
gesammelten Materialien, darunter eine Kartei mit 1,7 Millionen
Einträgen und eine halbe Million Blatt Dokumentenkopien
aus allen möglichen Archiven in Europa, ist zudem eine
eigene Forschungsstelle der Universität Stuttgart zuständig,
die seit einigen Jahren besteht und bereits zahlreiche Ergebnisse
veröffentlicht hat.
Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland,
Charlotte Knobloch, stellte in ihrer Rede klar, dass trotz
aller Verdienste der Zentralen Stelle mit Blick "auf
die gerechte Verurteilung der Täter der Wettlauf gegen
die Zeit verloren ist". Niemals jedoch dürfe der "Wettlauf
gegen das Vergessen verloren gegeben werden".
welt.de
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