Der Oberstaatsanwalt
Kurt Schrimm ist ein gelassener Mann. Gefühlsausbrüche
kann er sich auch gar nicht leisten. Das Grauen, mit dem
er sich täglich befasst, erfordert jemanden, der Herr
seiner Emotionen ist. Schrimm leitet die Zentralstelle für
die Verfolgung von NS-Verbrechern in Ludwigsburg nahe Stuttgart;
von seinem Büro aus, gut geschützt hinter den Mauern
eines früheren Frauengefängnisses, koordiniert
er die Fahndung nach Nazi- und Kriegsverbrechern.
Jetzt aber ist Schrimm erbost, sehr sogar. Objekt seines
Zorn sind die Kollegen in München. "Der Zeitdruck
ist enorm", sagt Schrimm der Süddeutschen Zeitung, "jeder
verlorene Monat zählt." Und er macht kein Hehl
daraus, dass die Monate in München verloren gingen;
dort nämlich hat die Staatsanwaltschaft München
I die Zentrale Stelle vor vier Tagen wissen lassen, sie benötige
weitere Akten, bevor sie Anklage erheben könne gegen
Ivan Demjanjuk.
Iwan "John" Demjanjuk, 88 Jahre alt, ist womöglich
der letzte bekannte Nazi-Verbrecher, dem man noch den Prozess
machen könnte. Anders als den angeblich nun doch verstorbenen
Mediziner Aribert Heim, der bis dahin meistgesuchte NS-Täter,
der in Mauthausen bei bestialischen Experimenten Hunderte
Häftlinge ermordet haben soll, würde man Demjanjuk
aber "nur" wegen Beihilfe zum Mord belangen können,
so sehen es jedenfalls die Ludwigsburger Ermittler. Sie halten
es für erwiesen, dass dieser von der SS ausgebildete "Hilfswillige" -
damals wurden diese Handlanger nach dem Ortsnamen ihres Ausbildungslagers
bei Lublin "Trawniki" genannt -, 1943 im Vernichtungslager
Sobibor an der Ermordung von mindestens 29 000 europäischen
Juden mitgewirkt hat, unter ihnen auch 1900 deutsche Juden
- woraus sich die Möglichkeit zu einer Anklage in Deutschland
ergibt.
Aber wann kommt diese Anklage? Federführend ist nun
München, und München könnte, glaubt man Schrimm,
eigentlich loslegen: "Ich halte eisern daran fest: Die
Akten, die wir geliefert haben, sind vollständig und
reichen zur Erhebung der Anklage völlig aus." Das
sehen die Kollegen anders. "Von Verzögerung kann
keine Rede sein", sagt Anton Winkler, Sprecher der Staatsanwaltschaft
München I. Am gestrigen Donnerstag berieten die Münchner
Ermittler und zwei Beamte der US-Sonderermittlungsbehörde
für NS-Verbrechen (OSI), dabei auch deren Chef Eli Rosenbaum,
die Lage der Dinge. Die US-Fahnder hatten Demjanjuks Dienstausweis
mitgebracht, und vor allem der sorgt laut Winkler für
eine Verzögerung. Die Staatsanwaltschaft München
I lässt die Techniker des bayrischen Landeskriminalamtes
prüfen, ob der Ausweis wirklich echt ist; in der Vergangenheit
war dies umstritten. Winkler: "Ohne Bestätigung,
dass es wirklich sein Ausweis ist, können wir eigentlich
keine Anklage erheben." Das Gutachten wird nach Winklers
Angaben etwa vier Wochen brauchen - "und dann werden
wir, wenn es echt ist, sofort Haftbefehl beantragen und das
Auslieferungsverfahren beginnen." Schrimm dagegen führt
an, die Echtheit sei durch US-Experten längst bestätigt
- doch dazu fanden die Münchner Kollegen, wie sie sagen,
nichts in den Akten. Außerdem haben die Ludwigsburger
noch einen greisen Zeugen aufgetan, der bestätigen könnte,
dass Demjanjuk zur Tatzeit tatsächlich zu den Trawniki
gehörte. Auch den will die Staatsanwaltschaft München
erst noch selbst vernehmen.
Der Zwist zwischen München und Ludwigsburg hat eine
Vorgeschichte. Die Ludwigsburger klagen nicht selbst an;
sie versorgen die zuständigen Staatsanwaltschaften mit
den Ergebnissen ihrer Ermittlungen. Die Münchner hielten
sich aber gar nicht für zuständig, da Demjanjuk
hier weder gelebt noch die ihm zugeschriebenen Verbrechen
hier begangen habe. Schrimms Leute hatten ermittelt, dass
Demjanjuk nach dem Krieg in einem Flüchtlingslager bei
München untergetaucht war, woraus sie die Zuständigkeit
der Staatsanwaltschaft in der Landeshauptstadt ableiteten.
Der Bundesgerichtshof musste die Causa entscheiden, die manchen
ausländischen Beobachter zweifeln ließ, ob die
Deutschen NS-Täter tatsächlich mit jener Verve
verfolgen, wie sie immer behaupten. Schrimm aber hat gewonnen.
Im ungewöhnlicher Geschwindigkeit, binnen weniger Tage,
entschied der BGH die Sache: Die widerwilligen Münchner
waren doch zuständig. Und jetzt das.
Überlebende hatten Demjanjuk schon einmal als brutalen
KZ-Wächter identifiziert, allerdings im Vernichtungslager
Treblinka; er sei "Iwan der Schreckliche" genannt
worden. Demjanjuk wurde 1988 in Jerusalem zum Tod verurteilt.
Fünf Jahre später hob der Oberste Gerichtshof Israels
das Todesurteil auf, da Demjanjuks Identität nicht zweifelsfrei
feststehe. Er ging in die USA zurück, die ihm aber schon
1981 die Staatsangehörigkeit aberkannt und ihn nach
Jerusalem ausgeliefert hatten. Später gab es Hinweise,
dass Demjanjuk als Aufseher in Sobibor gewütet habe.
Derzeit hat der staatenlose Demjanjuk keine Rechtsmittel
mehr gegen seine Auslieferung eingelegt. Er lebt im Bundesstaat
Ohio, sein Anwalt hält ihn für nicht vernehmungsfähig.
In einem sind sich die hadernden Staatsanwälte einig: "Die
Amerikaner sind sehr interessiert, ihn nach Deutschland zu überstellen",
sagt Schrimm: "Ich erwarte, dass sie ihn rasch ausliefern,
wenn wir sie darum bitten." Auch Winkler sagt nach dem
Treffen mit den US-Ermittlern, er befürchte "keine
Verzögerungen durch die US-Justizbehörden".
Dann müssen sich die deutschen Staatsanwälte nur
noch untereinander einigen.
sueddeutsche.de
|