Ist der mutmaßliche
KZ-Aufseher Iwan "John" Demjanjuk gesund genug
für einen Prozess? Die Staatsanwaltschaft München
erwägt Haftbefehl gegen den Rentner, der in Amerika
lebt. Seine Familie fürchtet die Auslieferung - und
betont den schlechten Zustand des 88-Jährigen.
Cleveland - Die Frau des angeblichen KZ-Wärters ist
eine zierliche und sehr freundliche Person. Sie trägt
eine blau-grün karierte Bluse, ihr langes Haar ist zu
einem Dutt gewunden. Ein wenig verloren steht sie an der
Tür ihres gelben Farmhauses in Seven Hills, einem Vorort
von Cleveland in Ohio.
Vera Demjanjuk spricht ein Mischmasch aus Deutsch und Englisch,
und sie sieht sehr müde aus, als sie erzählt,
dass es jetzt wohl wieder losgeht, dass sie jetzt wieder
um ihren Mann John fürchten müsse. Die Familie
habe nicht die Kraft und Reserven für einen neuen
Prozess, schon gar nicht im fernen Deutschland. "Wir
sind arm und haben kein Geld."
1977 geriet ihr Mann John Demjanjuk, der heute 88 Jahre
alt ist, erstmals ins Visier amerikanischer Nazi-Jäger.
Damals verlor der ehemalige Autobauer, der bei Ford beschäftigt
gewesen war, seine Staatsbürgerschaft, die USA lieferten
ihn nach Israel aus, die Israelis wollten ihn hinrichten.
Der Vorwurf: Demjanjuk sei "Iwan der Schreckliche" gewesen,
grausamer Operateur der Gaskammern im Konzentrationslager
Treblinka.
"Ein kranker alter Mann"
1993 wurde Demjanjuk allerdings freigesprochen - weil es
sich bei "Iwan dem Schrecklichen" mit ziemlicher
Sicherheit doch um jemand anderen handelte. Demjanjuk durfte
nach Cleveland zurückkehren - nur hatten sich unterdessen
die Hinweise gemehrt, dass er stattdessen Wärter im
KZ Sobibor im heutigen Polen war. Deshalb erwägt die
Staatsanwaltschaft München nun, ihn in Deutschland vor
Gericht zu stellen. Der mutmaßliche KZ-Wärter
soll am Tod von 29.000 Menschen beteiligt gewesen sein.
Demjanjuk ist staatenlos, im Mai vergangenen Jahres hat
der US Supreme Court alle seine Einsprüche endgültig
abgelehnt. Theoretisch kann Demjanjuk deshalb jetzt jederzeit
nach Deutschland gebracht werden.
Erst kürzlich kamen Experten des Landeskriminalamts
Bayern zu dem Schluss, Demjanjuks Dienstausweis, der ihn
in Sobibor verortet, sei echt. Ein wichtiger Schritt, um
ihn in Deutschland anklagen zu können.
Nur: Ist der 88-Jährige überhaupt noch prozessfähig?
Demjanjuks Sohn John Junior sagt, sein Vater sei "sehr
gebrechlich". Er leide an einer "Blut- und Knochenmarkkrankheit" und
müsse deswegen einige Male pro Monat ins Krankenhaus,
er brauche regelmäßig Bluttransfusionen. Sein
Zustand habe sich im Laufe der vergangenen Jahre verschlimmert,
er glaube nicht, dass der Vater einen Prozess durchstehen
könne.
Wenn die deutsche Justiz trotzdem irgendwie durchsetzen
könne, ihn nach Deutschland zu holen, brauche er "medizinische
Betreuung rund um die Uhr". Auch Demjanjuks Anwalt John
Broadley sagt, dass sein Mandat "ein kranker alter Mann" sei.
Aber: Darauf, dass er krank sei, beruft sich Demjanjuks Familie
schon seit Jahrzehnten. Manchmal ließ er sich im Rollstuhl
in den Gerichtssaal fahren.
"Gigantischer Kerl, breitschultrig, mit großen
Pranken"
Vor neun Jahren vernahm ihn der Staatsanwalt Jonathan Drimmer
in jenem Verfahren, in dem Demjanjuk am Ende die Staatsbürgerschaft
entzogen wurde. "Da war er immer noch ein gigantischer
Kerl", sagt Drimmer: hochgewachsen, breitschultrig,
mit großen Pranken. Demjanjuk habe damals einen ganzen
Tag lang ausgesagt. "Am Ende war ich erschöpft
- aber er war stark. Damals, 2000, war er stark wie ein Ochse."
Heute wirke er schon deutlich wie ein 88-jähriger Mann,
sagt jedoch Demjanjuks Nachbar Erik Keller, ein junger Grafikdesigner,
mit dem Demjanjuk oft ein Schwätzchen hält. Der
alte Mann könne nicht mehr gut stehen und gehen, habe
Probleme mit den Knien, aber erst kürzlich nach einem
Schneesturm "hat er noch in der Einfahrt Schnee geschippt",
sagt Familienvater Keller. Er selbst habe Demjanjuk dabei
geholfen. Im Rollstuhl habe er ihn noch nie gesehen.
Demjanjuk arbeite im Sommer oft in Jeans und Sweatshirt
in seinem großen Gemüsegarten. Ehefrau Vera bringe
gelegentlich auch mal Tomaten vorbei. "Sie sind sehr
nachbarschaftlich." Demjanjuk sei stolz auf den Garten
und spreche oft von seiner Arbeit bei Ford.
Auf die Vergangenheit vor dieser Vergangenheit, sagt Nachbar
Keller, habe er Demjanjuks nie angesprochen - und darauf
sei sein Nachbar auch nie von sich aus gekommen. Er freue
sich offensichtlich über ein kleines nachbarschaftliches
Palaver, denn "er spricht nicht mit vielen Leuten."
Die Hausnummer, die bei allen Nachbarn groß am Briefkasten
prangt, ist bei den Demjanjuks klein angebracht. Vor dem
Haus steht ein großes Schild "Betreten verboten".
Das Eigenheim mit angebauter Garage, Wintergarten und großem
Garten ist besser in Schuss als die meisten in der Straße
- obwohl Demjanjuk mit seiner Staatsbürgerschaft auch
seine gesetzliche Rente verloren hat und von der Unterstützung
seiner Kinder lebt.
Seven Hills ist ein Vorort von Cleveland, der einst boomenden
Industriestadt, die heute eine der ärmsten Großstädte
Amerikas ist. Irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg war das
Viertel mit seinen hingeduckten Farmhäusern aus Holz
und Backstein ein Stück des amerikanischen Traums.
"Mein Papa hat in seinem Leben niemanden umgebracht"
Heute ist es auch ein Alptraum, mit verschlossenen Garagentoren,
zugezogenen Gardinen und rostenden Briefkästen. Niemand
ist auf der Straße zu sehen, nur alle 20 Minuten kommt
mal ein Auto vorbei. Seven Hillas ist wie ausgestorben, nur
in der Ferne rauscht der Verkehr über die Interstate.
Sein Vater kümmere sich nicht allzu sehr um das, worüber
in Deutschland gesprochen werde, behauptet John Demjanjuk
Junior. "Er beschäftigt sich mit seiner Gesundheit
und damit, am Leben zu bleiben für die letzten paar
Jahre." Es gebe keine Anhaltspunkte, "anhand derer
mein Vater in einem Strafgerichtsprozess verurteilt werden
könnte".
Der Sohn hat sich die Verteidigung seines Vaters zur Lebensaufgabe
gemacht. "Mein Papa hat in seinem Leben niemanden umgebracht.
Es gibt keine Beweise, dass er irgendetwas damit zu tun gehabt
hat", beteuert der Junior. "Er ist kein Mörder.
Er ist eine sehr sanfte und freundliche Person. Ich weiß aus
tiefem Herzen, dass er niemanden umgebracht hat. Er war ein
Soldat der Roten Armee, der sich darin verfangen hat, was
im Zweiten Weltkrieg passierte."
Demjanjuk Junior glaubt an die Unschuld seines Vaters, er
sagt, dieses Wissen habe ihm Kraft gegeben all die Jahre,
für seinen Vater zu kämpfen. Er nennt die Verbrechen
des Holocaust "entsetzlich", aber "darum geht
es nicht."
Keine Erklärung, wie die Spuren in die Akten kamen
Darum gehe es schon, glauben jedoch amerikanische und deutsche
Staatsanwälte. Sieben wasserdichte Beweise habe er dafür,
dass Demjanjuk im KZ gedient hat, sagt der amerikanische
Ex-Staatsanwalt Drimmer. Sieben Dokumente aus verschiedenen
Archiven, von verschiedenen Dienststellen. Da gebe es wenig
Raum für Verwechslungen, da könne niemand Demjanjuk
etwas untergeschoben haben. Nein, die Sache sei eindeutig.
Nur heiße das lange nicht, dass ihm auch noch jetzt,
63 Jahre nach Kriegsende, dafür der Prozess gemacht
werden könne.
Eine halbwegs plausible Erklärung dafür, wie die
Spuren seines angeblich ja unschuldigen Vaters in die Akten
gekommen sein könnten, hat Demjanjuk Junior nicht. Er
sagt nur, dass im Strafprozess in Deutschland die Beweislast
viel höher sei als im amerikanischen Prozess, in dem
es nur um die Aberkennung der Staatsbürgerschaft ging.
Er sagt auch, dass die Deutschen keinen einzigen lebenden
Augenzeugen mehr haben. Und dass sein Vater sowieso viel
zu krank sei.
Nur darüber, wie es wirklich gewesen sein könnte,
darüber sagt er nichts.
spiegel.de
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