Aus den Top Ten
des Wiesenthal-Zentrums mit den meistgesuchten Nazis ist
John Demjanjuk gestrichen. Die Liste dient heute mindestens
so sehr historischer Aufklärung wie der Strafverfolgung.
Düsseldorf Wieder ein Name weniger. John Demjanjuk
kann von der Liste der meistgesuchten NS-Täter gestrichen
werden. Der seit gestern in München inhaftierte mutmaßliche
Aufseher im Vernichtungslager Sobibor war Nummer eins der
wichtigsten NS-Verbrecher, die noch in Freiheit sind. Die
Liste wird veröffentlicht vom Simon-Wiesenthal-Zentrum,
einer jüdischen Menschenrechtsorganisation, die sich
die Suche nach untergetauchten Handlangern des Holocaust
auf die Fahnen geschrieben hat.
Auf der Liste standen früher Namen wie der von Josef
Mengele, dem Lagerarzt von Auschwitz, der 1979 beim Baden
in Brasilien ertrank, und von Franz Stangl, dem Kommandanten
der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, 1970 in Düsseldorf
zu lebenslanger Haft verurteilt, ein Jahr später verstorben.
2009 jedoch fehlen prominente Namen: Die meisten Täter
sind tot oder zur Rechenschaft gezogen. Der Rest sei selbst
Spezialisten "weitgehend unbekannt", sagt Werner
Renz vom Fritz-Bauer-Institut zur Erforschung des Holocaust
in Frankfurt am Main unserer Zeitung. Dennoch – ihre
Untaten lesen sich wie eine Kurzfassung des Menschheitsverbrechens
Holocaust. Beispiele:
Nummer 1 – Sandor Kepiro Der ungarische Gendarmerie-Offizier,
Jahrgang 1914, soll 1942 an der Ermordung von 1200 Zivilisten
in Serbien beteiligt gewesen sein. Er lebt in Ungarn; dort
laufen Ermittlungen.
Nummer 2 – Milivoj Asner Geboren 1913 in Kroatien.
Er war Chef der faschistischen Ustascha-Polizei in Pozega
in Kroatien und soll für die Ermordung Hunderter Serben,
Juden und Zigeuner verantwortlich sein. Österreich verhindert
die Auslieferung an Kroatien.
Nummer 3 – Sören Kam 1921 in Kopenhagen geboren.
Der SS-Mann soll bei der Deportation dänischer Juden
geholfen haben; darüber laufen Untersuchungen in Dänemark.
Er lebt in Bayern; eine Auslieferung wegen Ermordung eines
Journalisten 1943 scheiterte 2007.
Die weiteren sechs sollen am Judenmord in den Niederlanden,
Ungarn, Litauen, Estland und Weißrussland mitgewirkt
haben. "Es geht heute vor allem um Einzeltaten",
sagt Renz: "Das ist mit früheren Jahrzehnten nicht
mehr zu vergleichen."
Außerhalb der Listen-Nummerierung führt das Wiesenthal-Zentrum
zwei Namen: Aribert Heim, SS-Arzt in mehreren KZs, und Alois
Brunner, rechte Hand Adolf Eichmanns bei der Deportation
der Juden in die Vernichtungslager. Beide sind vermutlich
tot – Heim soll 1992 als freier Mann in Kairo gestorben
sein, Brunner wurde zuletzt 2001 in Syrien gesehen. Endgültige
Beweise für beider Tod gibt es jedoch nicht.
Mangelnder politischer Wille sei das größte Hindernis,
NS-Verbrecher zu bestrafen, heißt es im aktuellen Wiesenthal-Bericht
von Ende April. Kritisiert werden namentlich Ungarn, Litauen
und Österreich. Das Zentrum führt eine "Schwarze
Liste" von Ländern, die nicht kooperieren oder
keine Anstrengungen zur Verfolgung von Nazis unternehmen.
Mit Costa Rica und Bolivien sind das etwa Frankreich, Belgien
und Russland. Deutschland steht mit Spanien und Serbien in
der zweithöchsten Kategorie ("Laufende Untersuchung
und Verfolgung"). Die höchste Kategorie ("Sehr
erfolgreich") besetzen allein die USA.
Das Wiesenthal-Zentrum und die von ihm initiierte "Operation
Letzte Chance" loben für Hinweise auf NS-Verbrecher
bis zu 10 000 Euro Belohnung aus. Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm,
Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen in Ludwigsburg, hält die Wiesenthal-Liste
für "gut gemeint", auch wenn ihm aus den letzten
Jahren kein wirklicher Wiesenthal-Erfolg bekannt sei. "Ich
kann mir nicht vorstellen", sagt Schrimm unserer Zeitung, "dass
eine Belohnung jemanden umstimmt, nach so langer Zeit sein
Schweigen zu brechen." Seine Mitarbeiter hätten
ganz andere Motive kennen gelernt – Gewissenbisse ehemaliger
SS-Leute etwa, die sich erst heute von ihrem Eid auf Adolf
Hitler entbunden fühlten.
Mit einem Kopfgeld habe die Belohnung nichts zu tun, sagt
der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan
Kramer, unserer Zeitung. Wer Wiesenthal gekannt habe, wisse,
dass es ihm um Gerechtigkeit statt um Rache gegangen sei,
zumal viele staatliche Stellen nach 1945 bei der Verfolgung
von NS-Verbrechen "kläglich versagt" hätten.
Grundsätzlich sei die Liste hilfreich, erklärt
Werner Renz – "auch wenn sie vielleicht nicht
mehr zur Strafverfolgung führt, sondern nur zu historischen
Erkenntnissen". Wo tauchten die Nazis unter? Wer deckte
sie? Solche Fragen bleiben brisant, auch wenn die Täter
tot sind. Aber dass einer der verbliebenen neun der Wiesenthal-Liste
noch vor Gericht gestellt wird – das, sagt Renz, halte
er für "äußerst unwahrscheinlich".
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