Seit gut 50 Jahren
wird von der deutschen Zentralen Stelle zur Aufklärung
von NS-Verbrechen in in- wie ausländischen Archiven
nach Beweisen für NS-Greueltaten gefahndet. So konnten
auch zuvor unbekannte Ereignisse entdeckt sowie Täter
vor Gericht gebracht werden.
slz. Ludwigsburg, Ende Mai
Dass der gebürtige Ukrainer Iwan Demjanjuk nun doch
noch in München für seine Aufsehertätigkeit
im Vernichtungslager der Nazis in Sobibor vor Gericht steht,
ist einer Behörde in Ludwigsburg zu verdanken. Diese
trägt den sperrigen Namen «Zentrale Stelle der
Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen» und ist seit 1958 das deutsche Herzstück
der juristischen Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen. Dabei
konzentriert sie sich laut ihrem Gründungsauftrag auf
Verbrechen ausserhalb der eigentlichen Kriegshandlungen,
die von Deutschen oder von Ausländern im Auftrag der
Nazi-Kommandanten verübt worden sind. Wegen Verjährungsfristen
können seit Mai 1960 nur noch Morde verfolgt werden.
«Belastend, aber notwendig»
Wenn man das Gebäude, ein ehemaliges Frauengefängnis
wenige Gehminuten vom prächtigen Ludwigsburger Barockschloss
entfernt, betritt, empfängt einen normale Behördenatmosphäre – nichts
lässt darauf schliessen, dass man hier seit Jahrzehnten
grauenvollen Taten auf der Spur ist. Doch im Gespräch
mit den Mitarbeitern wird einem schnell klar, dass hier kein
einfacher Bürojob geleistet wird. Denn der Auftrag lautet:
Alles im In- und Ausland erreichbare Material über NS-Verbrecher
und -Verbrechen zu sichten und auszuwerten. Und das bedeutet,
sich täglich mit den eigentlich unvorstellbaren Zuständen
in Vernichtungslagern oder den Massenerschiessungen von Juden
im Osten zu beschäftigen.
Als Joachim Riedel, stellvertretender Leiter der Zentralen
Stelle, letzten Herbst in Moskau war, um dort erbeutetes
deutsches und jahrelang geheim gehaltenes Archivmaterial
des KGB auszuwerten, erhielt er auch detaillierte Angaben über
die Transporte von Juden in die östlichen Vernichtungslager,
wie er im Gespräch erzählt. «Das ist mir
echt an die Nieren gegangen, obwohl ich doch seit Jahren
mit der Thematik vertraut bin.» Auch die Sondierung
von in Colmar aufbewahrten und erst kürzlich an Deutschland
ausgehändigten Dokumenten hat Riedel zugesetzt. Denn
dabei fand er ein mehrbändiges «Handbuch» aus
der Gestapozentrale mit Anweisungen über den Umgang
mit sowjetischen Kriegsgefangenen oder ausländischen
Zwangsarbeitern, die sich mit deutschen Frauen eingelassen
hatten. Solche Anweisungen zum Foltern und Töten seien
schon erschütternd, erzählt der Jurist mit leiser
Stimme.
Doch Riedel ist überzeugt, dass dieses Dokumenten-Studium
in doppelter Hinsicht unbedingt getan werden muss. Denn erstens
könne man durch derartige Auswertungen Hinweise auf
Täter, mögliche Zeugen oder noch unbekannte Verbrechen
erlangen. Deshalb gingen die Mitarbeiter der Zentralen Stelle
auch nicht ausschliesslich eingegangenen Hinweisen über
mögliche Täter oder Anfragen aus anderen Staaten
nach, sondern suchten wenn immer möglich auch aus eigenem
Antrieb Archive auf und fahndeten nach potenziell hilfreichen
Hinweisen ohne konkretes Verfahren. Zweitens sei es für
die historische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und
der dort begangenen systematischen Greueltaten von grosser
Bedeutung, wenn man so viele Details wie nur irgend möglich
kenne, ist Riedel überzeugt.
Und die Arbeit der Ludwigsburger hat in den gut 50 Jahren
des Bestehens der Zentralen Stelle auch zu sichtbaren Ergebnissen
geführt. So hat man Beweise für mehr als 7400 Ermittlungsverfahren
gesammelt, viele davon Sammelverfahren mit mehreren Angeklagten.
Zudem wurden 113 419 Überprüfungs- und Rechtshilfevorgänge
sowie Auskünfte bearbeitet. Insgesamt wurden in Deutschland über
6000 Personen wegen NS-Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe
verurteilt, in sehr vielen dieser Fälle hatte die Zentrale
Stelle wichtiges Beweismaterial geliefert oder die Prozesse überhaupt
erst ermöglicht.
Zugang zu Archiven oftmals schwierig
Man weiss jedoch auch in Ludwigsburg, dass es wesentlich
mehr Täter gab, die während der NS-Zeit aus Rassenhass,
in Euthanasieprogrammen oder bei Massenerschiessungen von
Bürgern besetzter Staaten gemordet hatten. Doch Riedel
verweist darauf, dass es oftmals technisch schwierig ist
und war, eindeutige Beweise für eine Schuld zu erbringen.
So könne man erst seit 1990 oder sogar noch später
Einblick in die Archive der ehemaligen Ostblockstaaten
nehmen. Zudem war es gerade auch in den Anfangsjahren der
Bundesrepublik keineswegs immer erwünscht, in der
braunen Vergangenheit zu stochern und Täter zu finden
und zur Rechenschaft zu ziehen.
Aber auch andere Staaten wollten keine Ermittlungen über
auf ihrem Staatsgebiet von Deutschen begangene Morde, weil
man dann eigene Landsleute, die ebenfalls ausserhalb ihrer
Heimat zu Tätern geworden waren, auch hätte belangen
müssen. Deshalb hätten zum Beispiel in Italien
viele wichtige Dokumente jahrzehntelang in Giftschränken
in Archivkellern ungelesen geschmort, sagt Riedel. Nicht
nur die Mitarbeiter in Ludwigsburg wissen, dass es allein
aufgrund der Zeit, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
vergangen ist, immer schwieriger wird, noch lebende Täter – wie
auch lebende Zeugen mit einem intakten Erinnerungsvermögen – aufzuspüren.
Doch dies sei kein Grund, jetzt mit der Tätigkeit aufzuhören,
davon ist man in Ludwigsburg überzeugt. Denn neben dem
Auftrag zur historischen Aufklärung gebe es auch heute
noch die Chance, Täter zu überführen. So kommen
nach vorsichtigen Schätzungen noch einige Dutzend Fälle
der Zentralen Stelle für eine Abgabe an die Staatsanwaltschaften
in Betracht. Denn da die Ludwigsburger Behörde nicht
selber Anklage erheben darf, muss sie die gesammelten Beweise
dorthin überweisen.
Der für den Fall Demjanjuk zuständige Ludwigsburger
Jurist erläutert im Gespräch die vielfältigen
Schwierigkeiten, die seine Suche nach Beweisen in Archiven
und der realen Welt mit sich brachte. Und er liefert auch
gleich eine Erklärung, warum es so lange gedauert hat,
bis nun Demjanjuk endlich doch noch der Prozess für
seine Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor gemacht
wird. Schliesslich war der gebürtige Ukrainer keineswegs
all die Jahrzehnte untergetaucht. Der seit 1952 in den Vereinigten
Staaten lebende Mann wurde sogar schon 1988 in Jerusalem
zum Tode verurteilt. Damals glaubten die Richter, dass er
der «Iwan der Schreckliche» genannte Aufseher
im Konzentrationslager Treblinka gewesen sei.
Weil jedoch Zweifel an dieser Identität aufkamen, musste
man Demjanjuk sieben Jahre später wieder freilassen.
Und obwohl damals schon sein Dienstausweis des Vernichtungslagers
Sobibor aktenkundig gewesen war, in welchem die Einsatzorte
der Wachmänner mit dem Zeitpunkt der Versetzung eingetragen
waren, hatte man sich in Jerusalem nach der Pleite des ersten
Prozesses gegen einen zweiten solchen entschieden. Zudem
war es Anfang der 1990er Jahre in Deutschland politisch wie
gesellschaftlich nicht erwünscht, die eventuelle Schuld
von Staatsangehörigen der von Nazis besetzten Staaten,
die von den neuen Herren zu Diensten in Konzentrationslagern
oder bei Massenerschiessungen abkommandiert worden waren,
genauer zu untersuchen.
Zufallsfund im Internet
Doch als man im März vergangenen Jahres zufällig
im Internet auf einer internen Seite einer amerikanischen
Behörde gelesen hatte, dass Demjanjuk die amerikanische
Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, war die Zeit
offenbar reif für intensive Recherchen seitens der Zentralen
Stelle. Und obwohl er eigentlich kurz darauf in den Ruhestand
hätte gehen sollen, habe ihn der Fall derart beschäftigt,
dass er ihn im Angestelltenverhältnis zu Ende gebracht
habe, erzählte der Mitarbeiter im Gespräch. Nun
liege deutlich mehr Beweismaterial gegen Demjanjuk vor als
noch vor zehn Jahren, zudem wisse man viel mehr über
die Zustände in Vernichtungslagern wie Sobibor, so dass
sich dort tätige Personen nicht mehr mit Nichtwissen
oder Unbeteiligtsein herausreden könnten.
Momentan bearbeitet man in Ludwigsburg noch zwei weitere
Fälle von sogenannt fremdvölkischen Hilfswilligen,
die vermutlich beim Abtransport und bei dabei durchgeführten
Tötungen von Juden im Ghetto Lemberg beziehungsweise
bei Massenerschiessungen im östlichen Polen mitgewirkt
hatten. Sollte es zu Anklagen kommen, so wäre dies ein
weiterer Beitrag zur nach wie vor aktuellen und notwendigen
juristischen Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen.
nzz.ch
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