Ein dunkles Kapitel
deutscher Rechtsgeschichte beginnt am zweiten Weihnachtsfeiertag
des Jahres 1952: Sieben NS-Kriegsverbrecher fliehen aus dem
Gefängnis im holländischen Breda. Klaas Carel (oder
Carl) Faber ist einer von ihnen.
Er und sein Bruder Pieter Johan haben im Sicherheitsdienst
der deutschen Besatzer gedient, Gefangene in Lagern bewacht
und an Razzien teilgenommen. Beide wurden 1944 wegen der
Hinrichtung von Gefangenen, unter anderem im Juden-Durchgangslager
Westerbork, zum Tode verurteilt. 1948 wurde das Todesurteil
an Pieter Johan vollstreckt, Klaas Carels Strafe in lebenslange
Haft umgewandelt.
Mit 110 anderen niederländischen und 63 deutschen Kriegsverbrechern,
allesamt "Lebenslängliche", sitzt Faber in "De
Koepel" ein, dem Gefängnis von Breda. Am 26. Dezember
1952 nutzen er und sechs weitere NS-Kollaborateure das Gewimmel
vor der weihnachtlichen Filmvorführung, um sich in den
Heizungskeller zu schleichen. Einer von ihnen, der als "Henker
von Ommen" berüchtigte Herbertus Bikker, hat Tage
zuvor bei einem Arbeitseinsatz die Kohlenklappe zum Hof unverschlossen
gelassen. Im Hof haben die Flüchtlinge Leitern versteckt, überqueren
die Mauern, fliehen nach Deutschland.
Die deutschen Beamten im Zollamt Wyler begrüßen
die Kriegsverbrecher mit Kaffee und Kuchen. "Der Zollamtsleiter
war ein Kriegskamerad", erzählt Bikker 1997 dem
Stern. Ein Amtsrichter verurteilt sie wegen illegalen Grenzübertritts
zu je zehn Mark Ordnungsstrafe, ein Gerichtsdiener zahlt
für sie und gibt ihnen noch zehn Mark für die Reise. "Beim
Gericht, dat waren alles Kameraden", sagt Bikker.
Zwei Tage später bittet Den Haag Bonn offiziell um
die Verhaftung und Auslieferung der Flüchtigen. Sie
werden zwar rasch gefasst - in die Niederlande kommt aber
nur einer zurück: Die britische Militärpolizei
entführt Jacob de Jonge, den Deutschland als politischen
Flüchtling anerkennt. Die Adenauer-Regierung protestiert
erfolglos in London dagegen.
Die anderen Ausbrecher erklärt der Bundesgerichtshof
zu Deutschen, die laut Grundgesetz nicht ausgeliefert werden
dürfen: Sie haben mit dem Eintritt in die Waffen-SS
ihre niederländische Staatsangehörigkeit verloren
und die deutsche erworben. Die Rechtsgrundlage ist ein Erlass
des "Führers" und Reichskanzlers Adolf Hitler
vom 19. Mai 1943.
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelt ab 1954
gegen den Deutschen von Hitlers Gnaden, doch das Landgericht
lehnt die Zulassung der Anklage 1957 ab: keine ausreichenden
Beweise. Die niederländische Regierung weigert sich,
Rechtshilfe zu leisten, weil sie auf der Auslieferung beharrt
und die deutschen Gerichte für durchsetzt von alten
Nazis hält. Auch die Ermittlungsverfahren gegen alle
anderen Flüchtlinge aus Breda werden eingestellt.
Der verurteilte Kriegsverbrecher lebt bist 1961 im Ruhrgebiet,
zieht dann nach Ingolstadt. Er arbeitet bis zur Rente bei
Auto Union und Audi. Heute wohnt er mit seiner Frau im Ingolstädter
Piusviertel, einer anonymen Wohnblock-Gegend. Nachbarn beschreiben
ihn als zurückgezogen. Für Journalisten macht er
die Tür nicht auf, im Telefonbuch steht er nicht. Aber
seit kurzem auf der Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums.
Er ersetzt den KZ-Arzt Aribert Heim, der aufgrund von Recherchen
der New York Times und des ZDF als wahrscheinlich tot gilt.
Im Sommer 2003 beantragen die Niederlande, dass Faber seine
lebenslange Haft aus dem niederländischen Urteil in
Deutschland absitzen soll. Doch 2004 befindet das Landgericht
Ingolstadt, die Vollstreckung sei nicht zulässig - wegen
der ergebnislosen Ermittlungen von 1954. Die Staatsanwaltschaft
Ingolstadt hält den Fall für geschlossen. Der 87-Jährige
hat wohl nichts mehr zu befürchten.
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