Der gebürtige
Litauer Algimantas Dailide gilt als einer der meistgesuchten
Kriegsverbrecher – Dabei lebt er seit 6 Jahren offiziell
in Kirchberg
Ein Kirchberger steht seit einigen Tagen im Blickpunkt der Öffentlichkeit:
Der gebürtige Litauer Algimantas Dailide. Seit in der
Presse und via Bildschirm verkündet wurde, dass er auf
der Liste der meist gesuchten Nazi-Kriegsverbrecher steht,
ist es mit der Ruhe vorbei.
Von Sara Thiel
Kirchberg. Er hat sein Leben lang geschwiegen. So lange,
bis andere für ihn sprachen. Über seine Vergangenheit,
seine Taten. Darüber, warum Algimantas Dailide auf der
Liste der meistgesuchten Verbrecher der Welt auf einem der
vorderen Plätze steht. Jetzt bricht er sein Schweigen.
Sagt, warum er seiner Ansicht nach auf die von den Nazi-Jägern
im Simon-Wiesenthal-Zentrum veröffentlichte Liste gar
nicht gehört. Erzählt seine Version der Geschichte.
Schuldig – aber ohne Strafe
Dailide lebt seit 2003 in Kirchberg. Er hatte sich mit seiner
Frau Ruth in Sachsen niedergelassen, als ihm nach gut einem
halben Jahrhundert die US-amerikanische Staatsbürgerschaft
entzogen worden war. Die beiden führten ein ruhiges
Leben. Nur einmal, 2006, fuhr er in seine litauische Heimat,
um sich vor Gericht zu verantworten. „Ich wurde schuldiggesprochen“,
sagt er. Als Mitglied der litauischen Geheimpolizei Saugumas
soll er an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt
gewesen zu sein. Ein Strafmaß sei jedoch nie festgelegt
worden, sagt Dailide. Schon wegen seines Alters und seines
Gesundheitszustandes. „Deswegen ist der Staatsanwalt
in Berufung gegangen. Er hat fünf Jahre für mich
gefordert“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Manchmal
schleicht sich auch etwas Englisches in seine Erzählung.
Die Schriftstücke wiederum sind auf Litauisch verfasst.
Ein Haltloser ist er, steckt zwischen drei Sprachen und mindestens
zwei Möglichkeiten, seine Vergangenheit darzustellen.
Seine eigene erzählt von der Unschuld. Deswegen forderte
sein Verteidiger Freispruch.
Die angestrebte Berufungsverhandlung 2008 brach Algimantas
Dailide ab. “ Ich musste meine Frau pflegen.“ Das
tat er auch, bis zu ihrem Tod in diesem Frühjahr. „Jetzt
fehlt im das Geld, wieder nach Litauen zu reisen“,
wirft Bruder Vitus Laib ein. Der Pfarrer der katholischen
Gemeinde in Kirchberg sitzt mit an dem schweren Tisch. Eiche
rustikal. Er will dem 87-Jährigen den Rücken stärken.
Denn er glaubt ihm, sagt Bruder Vitus. Es ist nicht von Vergebung
die Rede, sondern von Unschuld. Dass Dailide 1941 als 19-Jähriger
geholfen haben soll, Juden zu fangen und auszuliefern – das
glaubt er nicht.
Der Mann mit den weißen Haaren und der großen
Brille sucht in den Papieren, die griffbereit liegen. Kopien
von Berichten, verfasst in Litauisch. Zwölf Namen stehen
da, jüdische. Die Namen von Menschen, die aus dem Ghetto
in Vilnius entkommen waren und fliehen wollten. „Eines
Abends sagte mein Chef, ich soll 19 Uhr wieder da sein“,
erinnert er sich an jenen 30. Oktober 1941. Dann erzählt
er von der Fahrt in einem leeren Laster, zusammen mit drei
Kollegen. Berichtet vom plötzlichen Stopp, davon, wie
er einen identischen Wagen ganz in der Nähe sah, wie
beide wieder zurückfuhren. Wie er nach Hause geschickt
wurde. Offenbar waren im anderen Fahrzeug besagte zwölf
Menschen. Das steht in zwei Berichten. In einem dritten Bericht
steht, dass der zweite Chauffeur ein Agent der Gestapo gewesen
sei und die ganze Aktion eine Finte. Die Juden sollten glauben,
man fahre sie in die Freiheit, in Wahrheit aber war man wieder
umgekehrt. Dieser Bericht, datiert auf den 27. Oktober, ist
Dailides Kronzeuge für seine Unschuld. Er habe von all
dem nichts geahnt, habe sich damals nur gewundert. „Aber
diesen Report hat niemand gelesen. Nicht der Staatsanwalt
und nicht die Leute vom Wiesenthal-Zentrum. Es hat sie nicht
interessiert“, sagt er. Die Leute aus Jerusalem stufen
ihn als einen der meistgesuchten Nazi-Verbrecher ein. Dass
sie – obwohl er seit 2003 im Telefonbuch steht – nie
mit ihm geredet haben, ärgert den sonst so gefasst wirkenden
Mann sichtlich. „Das ist ein großer Spaß und
eine Schweinerei, was der Zuroff mit mir macht“, wettert
er. Efraim Zuroff ist Direktor des Wiesenthal-Zentrums und
gilt als der letzte Nazi-Jäger.
Emotionen im Verborgenen
Die Emotionen sitzen tief bei Dailides. Meist wirkt er freundlich
distanziert. Selbst wenn er erklärt, dass er nach dem
Bericht im Fernsehen keine Reaktion bekommen habe. Dabei
weiß Bruder Vitus von telefonischen Beschimpfungen.
Eine Nachbarin sagt, er habe am Tag danach darauf verzichtet,
zum Frisör zu gehen. Manchmal aber verliert dieser Mann
seine Fassung. Kurz nur, aber sichtbar. Wenn er von seiner
Frau erzählt, die dem Krebs erlag. Wenn er an Amerika
zurückdenkt, wo seine zwei Söhne wohnen. „Ich
habe 8 Enkel und 13 Urenkel, glaube ich. Und ich darf nicht
zu ihnen.“ Dann ist er plötzlich nicht im Raum.
Ihm wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, als man dahinterkam,
dass seine Formulare falsch sind. Nach dem Krieg war er in
Bamberg, in einem Gefangenenlager. Um nach Amerika ausreisen
zu können, verschwieg er seine Arbeit bei der Saugumas. „Das
haben viele gemacht. Wir wollten doch weg.“ Irgendwann
kam es heraus. Den Ausgang des Prozesses in den USA hat er
nicht abgewartet. Innerhalb von zehn Tagen waren er und seine
Frau ausgereist. Sie tauschten Cleveland mit Sachsen. „Wir
haben kaum etwas mitgenommen.“ Die Wohnung ist deutsch.
Tisch mit Kacheln, blaues Ledersofa, moderne blaue Schrankwand,
einige Teddys auf der Sofalehne. Weiße Wände.
Blumen auf dem Fensterbrett. Kaum Persönliches. Nur
die Kopien in den Heftern. Es scheint, dass dort drinnen
nun sein Leben steckt.
Der letzte Beweis fehlt
„Ich war doch keiner von den Großen“,
sagt er. „Ich war doch nur in der Schreibstube.“ Aber
er war dabei. „Ja“, sagt er. Als im Juni 1941
die Deutschen nach Litauen kamen, da war man froh, die Russen
los zu sein. „Die haben doch auch Leute nach Sibirien
geschickt. Juden. Und Litauer auch“, sagt er. Als junger
Mann hat er für die Deutschen gearbeitet. Diese Schuld
nimmt er auf sich. Alles andere weist er von sich.
Damit ist die Geschichte eines Lebens erzählt. Algimantas
Dailides Geschichte. War er ein Verbrecher? Oder war er ein
kleines Licht, einer, der in schwierigen Zeiten mit dem Strom
schwamm, ohne sich die Hände schmutzig zu machen? Die
Leute vom Simon-Wiesenthal-Zentrum sind von ersterem überzeugt,
Dailide selbst beharrt auf seiner Version der Geschichte.
Den letzten Beweis bleiben beide schuldig. Wem man glaubt,
hängt wohl vor allem davon ab, mit welchen Ohren man
ihnen zuhört.
Operation Last Chance
Unter diesem Namen suchen das Simon-Wiesenthal-Zentrum und
Targum Shlishi Foundation Kriegsverbrecher aus der Nazizeit.
Es ist sogar eine Prämie ausgesetzt für alle, die
helfen, die Gesuchten zu verurteilen.
Nachdem Namen wie Mengele, Stangl oder zuletzt Demjanjuk
von der Liste der meistgesuchten Kriegsverbrecher verschwunden
sind, konzentrieren sich die Aufklärer zunehmend auf
Täter aus Osteuropa. Unter ihnen Algimantas Dailide – irgendwo
zwischen Platz 4 und 9. Chefaufklärer Efraim Zuroff
beharrt auf dieser Einstufung. Damit will er zum einen Aufmerksamkeit
für den Fall erreichen, zum anderen fordert er, dass
Dailide als verurteilter Verbrecher seine Haft antreten muss.
Zuroff sagte gegenüber der Presse, es sei ein Hohn der
Gerechtigkeit, dass der Litauer heute unbehelligt in Deutschland
leben darf.
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