Efraim Zuroff ist Direktor des Simon Wiesenthal Center in Jerusalem. Er wurde
1948 in Brooklyn geboren, studierte Geschichte und promovierte über den
Holocaust. Anschließend arbeitete er für das amerikanische Justizministerium
an der Aufklärung von Kriegsverbrechen. Seit 1978 ist er für das Wiesenthal
Center tätig. Zuroff rief die „Operation Last Chance“ ins Leben,
eine Fahndungsaktion, die die letzten noch lebenden NS-Verbrecher finden und
vor Gericht bringen soll. Seit Januar 2001 wurden weltweit achtundvierzig NS-Verbrecher
verurteilt, darunter drei in Deutschland.
Das Simon Wiesenthal Center hat eine Liste der meistgesuchten
Nazis erstellt. Nummer eins ist Alois Brunner, der Assistent
von Adolf Eichmann, verantwortlich für den Massenmord
an den Wiener Juden. Er wäre heute fünfundneunzig
Jahre alt. Glauben Sie, er lebt noch?
Wir wissen es nicht. Zuletzt wurde er 2001 von französischen
Fahndern im Hotel Meridian in Damaskus gesehen, danach verliert
sich seine Spur.
Nummer zwei ist Aribert Heim, Arzt im KZ Mauthausen. Was
wissen Sie über ihn?
Wir glauben, dass er noch lebt. Letzte Woche hatte er seinen
dreiundneunzigsten Geburtstag. Wir nehmen an, dass er sich
in Spanien oder Chile aufhält.
Weiß man, wie er heute aussieht?
Heim ist sehr groß. 1,90 Meter, Schuhgröße
47. Er hat eine Narbe auf der rechten Wange. Er ist viel
leichter zu finden als der Durchschnittsnazi, der, sagen
wir, 1,78 Meter groß ist und keine Narbe hat.
Heim entnahm gesunden Häftlingen bei vollem Bewusstsein
Organe, ließ Lampenschirme aus der Haut von Juden anfertigen.
Nach dem Krieg arbeitete er unbehelligt weiter, bis 1962
hatte er in Baden-Baden eine gynäkologische Praxis.
Wie kam es, dass er nie vor ein deutsches Gericht gestellt
wurde?
Das sollte er ja. Aber jemand warnte ihn. Er entkam in der
Nacht vor seiner geplanten Verhaftung. Es sind ein paar sehr
seltsame Dinge geschehen im Fall Heim. Nach dem Krieg wurde
er von den Amerikanern verhaftet, aber er wurde im Mauthausen-Prozess
nicht angeklagt. Vielleicht war er dem amerikanischen Geheimdienst
von Nutzen.
Im Juni wurde der Norweger Fredrik Jensen, ein ehemaliges
SS-Mitglied, gefasst. Er wohnte im exklusiven Royal Nordic
Club in Marbella. Eigentlich hatten die Fahnder gehofft,
dort Heim zu finden.
Moment. Jensen wurde nicht gefasst, er wurde lediglich entdeckt.
Wurde er nicht verhaftet?
Nein, daran arbeiten wir noch. Dieser Fall spiegelt all
das wider, womit wir es zu tun haben. Jensen war der am höchsten
ausgezeichnete norwegische Nazi, einer der wenigen Ausländer,
die von Hitler persönlich einen Orden bekamen. Aber
es gibt drei Probleme. Erstens: Er ist Norweger. Norwegen
ist neben Schweden das einzige Land, in dem Genozid, Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren. Zweitens:
Er wurde in Norwegen bereits bestraft, saß zehn Monate
im Gefängnis, danach verließ er das Land. Wir
versuchen gerade herauszufinden, wofür er die Haft verbüßt
hat. Drittens: Er wohnt in Spanien, einem Land, das sich
nicht darum schert, ob jemand Kriegsverbrecher ist. Und ein
viertes Problem: Jensen hat für drei Einheiten der Waffen-SS
gearbeitet, „Der Führer“, „Das Reich“ und „Wiking“.
Alle Einheiten haben Kriegsverbrechen begangen. Wir klären
gerade, ob Jensen zur betreffenden Zeit jeweils dort war.
Wie alt ist er?
Er ist jung, sechsundachtzig, in prima Verfassung. Spielt
Tennis und Golf.
Glauben Sie, er hat Kontakt zu Heim?
Der Verdacht besteht. Ein norwegischer Dokumentarfilmer ist
sich sicher, dass Jensen wisse, wo Heim ist. Wir versuchen
gerade, diese Information zu überprüfen. Das
ist unsere Hauptarbeit. Wir werden überflutet mit
Informationen, 95 Prozent davon sind vollkommen nutzlos.
Aber alles muss überprüft werden.
Existiert „Odessa“ noch, die Organisation ehemaliger
SS-Angehöriger, mit deren Hilfe Alois Brunner wohl jahrzehntelang
in Syrien untertauchen konnte?
Ich glaube nicht. Aber Nazis helfen sich untereinander. Es
gibt die Organisation „Stille Hilfe“, geleitet
von Gudrun Burwitz, Himmlers Tochter. Sie lebt in der Nähe
von München. Sie hilft Nazis, besorgt ihnen Rechtsanwälte.
Es ist bekannt, dass Heim mit einem Künstlerpaar in
Spanien befreundet ist - oder war. Sie haben Namen und Adresse.
Welche Handhabe haben Sie? Lassen Sie deren Telefone abhören?
Wir sind eine nichtstaatliche Organisation. Wir sind nicht
die Polizei. Die Polizei kann Telefone abhören, wir
haben diese Befugnis nicht. Aber die deutsche Polizei hat
eine Spezialeinheit zur Ergreifung Heims gebildet. Die
tut, was in ihrer Macht steht, um ihn zu finden.
Lebt Martin Bormann noch, Hitlers Privatsekretär? Es
ist immer wieder zu lesen, er werde noch gesucht.
Ich bin mir sicher, dass er tot ist.
Arbeiten Sie mit dem Mossad, dem israelischen Geheimdienst,
zusammen?
Schön wär's. Nein, der Mossad ist nicht länger
an diesem Thema interessiert. Er hat dringendere Themen,
um die man sich momentan in Israel kümmern muss.
Bezahlen Sie Detektive, die Leuten in Chile oder Spanien
Fotos der Gesuchten zeigen?
Nein, so läuft das nicht. Wir beschäftigen bisweilen
Detektive, um beispielsweise zu beweisen, dass ein enttarnter
NS-Verbrecher gesundheitlich stabil genug ist, um einen Prozess
durchzustehen. Wir beschäftigen aber keine Detektive,
um nach den Gesuchten zu fahnden.
Arbeiten Sie mit digitalisierten Fotos, die zeigen, wie die
Gesuchten heute aussehen könnten?
Wir haben das nur einmal gemacht, im Fall von Heim. Weil
wir gegen die Zeit arbeiten, widmen wir uns nur Fällen,
in denen wir konkrete Indizien dafür haben, dass die
Person lebt. Wir wachen nicht morgens auf und denken: Ach,
Himmlers Gehilfe wurde ja nie gefunden - lasst uns den
mal suchen, vielleicht lebt er noch. Für solche Spielchen
ist keine Zeit.
Es sollte sich also niemand bei Ihnen melden und fragen,
was denn aus einem bestimmten KZ-Aufseher geworden ist.
Solchen Leuten sagen wir: Finden Sie ihn, dann übernehmen
wir. Unsere Arbeit ist das Gegenteil von kriminalistischer
Ermittlung. Die ist verbrechensbezogen: Ein Verbrechen fand
statt - wer hat es begangen? Wir brauchen einen Verdächtigen.
Dann fragen wir uns, wie wir beweisen können, dass er
etwas getan hat.
Ich habe mir das Büro eines Nazijägers voller Landkarten
und Fotos von Kriegsverbrechern vorgestellt. Stattdessen
stehen hier Regale mit Aktenordnern.
Die Arbeit besteht aus drei Bestandteilen: Recherche in Archiven,
Detektivarbeit, politische Lobbyarbeit, leider vor allem
aus Letzterer. Das größte Problem, mit dem wir
es heute zu tun haben, ist der fehlende politische Willen,
NS-Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.
Ein Beispiel: Milivoj Asner soll 1941 und 1942 als Leiter
der faschistischen Ustascha-Polizei in Kroatien an der
Deportation von Juden und Serben beteiligt gewesen sein.
Sie wissen, wo er wohnt.
In Klagenfurt, in der Paulitschgasse.
Warum ist er frei?
Die Österreicher sagen, er sei nicht gesund genug für
einen Prozess, und weigern sich, ihn nach Kroatien auszuliefern.
Wir sind anderer Meinung. Enttarnt haben wir ihn am 30. Juni
2004. Da lebte er noch in Kroatien. Einen Tag später
war er verschwunden. Das war unser Fehler: Wir nahmen damals
an, dass ein über Neunzigjähriger nicht mehr fliehen
würde.
Wie macht sich Deutschland bei der Jagd auf alte Nationalsozialisten?
Da wird viel getrödelt. Man sollte meinen, wo uns doch
so wenig Zeit bleibt, um die letzten zu fassen, würde
das Ganze als Eilsache behandelt. Aber die deutschen Behörden
benehmen sich, als wollten sie die hundertsten Geburtstage
abwarten.
Dabei rennt die Zeit, wie der Fall Lajos Polgar zeigt. Er
war ein Führungsmitglied der Pfeilkreuzler in Budapest,
der ungarischen Rechtsextremisten, die Zehntausende von
Juden an den Ufern der Donau erschossen haben. Sie machten
ihn 2005 in Australien ausfindig. Polgar starb aber im
Juli 2006, bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte.
Sein Sohn beschuldigt mich, ihn umgebracht zu haben. Polgar
starb an einem Herzinfarkt. Ich hätte ihn lieber vor
Gericht gesehen.
Glauben Sie, diese Männer führen ein friedliches
Leben?
Heim jedenfalls nicht, das ist sicher. Er ist seit 2004 ständig
in den Medien, jeder Schritt seiner Verwandten wird beobachtet,
er hat sicher keine Ruhe - es sei denn, er läge irgendwo
im Koma. Aber ich weiß von Leuten, die ein schönes
Leben hatten, nachdem sie Tausende Juden, Zigeuner, Unschuldige
umgebracht hatten. Kepiro zum Beispiel. Haben Sie von ihm
gehört?
Nein.
Sándor Kepiro war Offizier der ungarischen Gendarmerie
und aktiv am Massenmord an Zivilisten vom 23. Januar 1942
in Novi Sad beteiligt. Mindestens 1300 Menschen starben an
diesem Tag. Kepiro wurde noch während des Krieges in
Ungarn für dieses Verbrechen verurteilt, aber kurz nach
dem Prozess besetzten die Nazis Ungarn und ließen ihn
wieder frei.
Wie haben Sie ihn gefunden?
Im Februar 2005 ging eine Mail beim Wiesenthal Center Los
Angeles ein. Darin schrieb jemand, er lebe in Schottland,
habe eine ungarische Freundin und deshalb an einem Treffen
von in Schottland lebenden Ungarn teilgenommen. Dort sei
ein alter Ungar gewesen, der sich seiner Rolle bei der
Deportation von Juden nach Auschwitz rühmte. Diese
Mail wurde an mich weitergeleitet, ich kontaktierte den
Absender, bat ihn um den vollen Namen und die Adresse dieses
Ungarn. Wenig später saß ein Journalist in meinem
Auftrag im Wohnzimmer des alten Mannes und gab vor, an
einer Geschichte über Exilungarn zu arbeiten. Der
Alte stellte sich als kleiner Fisch heraus. In seinem Wohnzimmer
aber hing ein Foto, das einen anderen Ungarn in Uniform
zeigte. Das sei Sándor Kepiro, sagte der alte Mann,
ein viel höherer Offizier als er, mit dem er heute
noch Kontakt habe. Der Name sagte mir nichts. Ich sprach
mit einem Experten für den Holocaust in Ungarn. Seine
Reaktion: „Wie bitte, der Bastard lebt noch?“ Bingo.
Wir hatten einen Fall. Es fehlte nur ein wichtiges Detail.
Wo lebte Sándor Kepiro?
Genau. Wir fanden heraus, dass er in Budapest lebt - er steht
bis heute unter seinem richtigen Namen im Telefonbuch.
Er ist frei?
Kepiro ist ein pensionierter Rechtsanwalt, beliebter Nachbar
und lebt ironischerweise genau gegenüber einer Synagoge.
Eigentlich dachten wir, der Fall sei klar: Er war ja schon
verurteilt. Wir wollten, dass seine Verurteilung rechtskräftig
wird. Aber das gestaltete sich schwierig. Um das Ganze
zu beschleunigen, entschied ich, den Fall publik zu machen.
Wir hielten eine Pressekonferenz in der Synagoge bei ihm
gegenüber ab. Und am Ende, als alle wissen wollten,
wo der Gesuchte denn nun sei, sagte ich: „Schauen
Sie aus dem Fenster, dort wohnt er.“ Die Journalisten
klingelten bei ihm, er beantwortete ihre Fragen. Er sagte: „Ja,
das war alles schrecklich, aber ich habe nichts damit zu
tun.“ Im März entschied die ungarische Regierung,
ihn seine Haftstrafe nicht verbüßen zu lassen,
weil sie 1944 annulliert worden sei. Es ist frustrierend.
Simon Wiesenthal hat sich als „Kriminalisten“ bezeichnet.
Wie würden Sie Ihren Beruf beschreiben?
Als Kämpfer für die Wahrheit. Die Versuche, die
Geschichte des Holocaust zu verfälschen, machen mir
Sorge.
Was meinen Sie damit?
Der Holocaust war nicht: Deutsche gegen die Juden. Er war:
Europa gegen die Juden. In jedem europäischen Land
haben die Nazis Helfer gefunden. Aber in den westlichen,
südlichen und nördlichen Ländern hörte
die Kollaboration an den Bahnhöfen auf. Die Juden
wurden nicht von holländischen Polizisten ermordet,
sie wurden von ihnen nur in den Zug gesetzt. Umgebracht
hat man sie im Osten.
Weil die Deutschen die Konzentrationslager im Osten errichtet
hatten.
Nicht nur. In Litauen wurden 98 Prozent der Juden in ihren
Heimatdörfern ermordet. Es gab nur einen einzigen
Transport nach Auschwitz. In Estland, Kroation oder der
Ukraine fanden die Deutschen sehr viele Menschen, die bereitwillig
gemordet haben. Das will natürlich in diesen Ländern
niemand hören. Ich kämpfe für die historische
Wahrheit. Ich glaube, die Täter heute noch zur Verantwortung
zu ziehen ist die beste Geschichtslektion, die man erteilen
kann.
Glauben Sie an Rache?
Nein. Ich halte manchmal Vorträge vor Schülern.
Die fragen mich: „Sie wissen, wo die Nazis sind. Warum
bringen Sie die nicht um?“ Ich sage: „Glaubt
ihr, wenn ich das tue, steht am nächsten Tag in der
Zeitung: ,Abscheulicher Kriegsverbrecher kriegt endlich,
was er verdient?' Nein, da würde stehen: ,Rachsüchtige
Juden foltern armen Neunzigjährigen.'“ Anders
ausgedrückt: Was hilft dabei, dass so etwas nie wieder
geschieht? Kein Mord aus Rache, sondern ein Gerichtsverfahren.
Was werden Sie tun, wenn der letzte alte Nationalsozialist
tot ist?
Es gibt einen natürlichen Übergang von meiner jetzigen
Tätigkeit zum Kampf gegen Antisemitismus.
faz.ne |