Mangel an Zeugen
und Dokumenten, krudes Plädoyer: Im Prozess gegen den
wegen 14fachen Mordes angeklagten mutmaßlichen Kriegsverbrecher
Josef Scheungraber fordert die Verteidigung Freispruch. Alte
Kameraden im Publikum finden das prima.
München - Man kennt sich hier. Servus und Grüas
di - die alten Kameraden in Saal 101 des Münchner Landgerichts
schütteln sich die Hände. Sie sind der Unterstützungstrupp
des Angeklagten, der jetzt hineingeführt wird: schlohweißes
Haar, buschige Augenbrauen, Trachtenjanker. Der 90-jährige
Josef Scheungraber wünscht einen "Guten Morgen",
schlurft durch den Raum. Dann lässt er sich auf den
blassrot bezogenen Stuhl fallen.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Greis 14fachen Mord vor
- im Jahr 1944. Damals, im Juni, soll Scheungraber als Kompanieführer
im Gebirgspionier-Bataillon 818 im italienischen Falzano
di Cortona in der Toskana den Befehl zu zwei Vergeltungsanschlägen
für einen Partisanenangriff gegeben haben.
Vier Zivilisten wurden auf der Straße erschossen,
elf in einem Bauernhaus in die Luft gesprengt. Einer überlebte.
Die Ankläger fordern lebenslange Haft. Scheungraber,
der wegen des Massakers bereits von einem italienischen Militärgericht
vor drei Jahren in Abwesenheit zu ebendieser Strafe verurteilt
wurde, weist die Vorwürfe zurück. Jeder seiner
drei Verteidiger plädiert an diesem Freitag nach neun
Prozessmonaten für Freispruch. "Es lässt sich
nichts, aber auch gar nichts an Beweismitteln zusammentragen,
das die persönliche Schuld von Herrn Scheungraber erkennen
lässt", so dessen Anwalt Christian Stünkel
in seinem Plädoyer.
Tatsächlich konnten während des Prozesses weder
Dokumente vorgelegt noch Zeugen geladen werden, die einen
direkten Befehl von Josef Scheungraber belegen. Viele der
einstigen Zeugen sind mittlerweile verstorben. Doch geht
die Staatsanwaltschaft davon aus, dass der damalige Kompanieführer
entsprechend seiner militärischen Funktion eingebunden
war. "Eine absolute Gewissheit ist nicht erforderlich,
es reicht ein ausreichendes Maß an Sicherheit",
so Ankläger Hans-Joachim Lutz bei seinem Plädoyer
Mitte Juni.
"Alles andere ist Vermutung"
Dagegen Verteidiger Stünkel: Es sei nicht ersichtlich,
wo die persönliche Schuld seines Mandanten bei der Erschießung
der vier Zivilisten liegen soll, es gebe keine Zeugenaussagen.
Und bei den Toten im Bauernhaus habe man zwar "die Tatsache,
dass Menschen in ein Haus gesperrt wurden, das gesprengt
wurde, aber alles andere ist Vermutung".
Immer wieder rückte der Gesundheitszustand und eine
mögliche Verhandlungsunfähigkeit des 90-jährigen
Angeklagten in den Mittelpunkt des Prozesses. Zuletzt mussten
die Plädoyers der Verteidigung verschoben werden, weil
Scheungraber mit Verdacht auf einen Schlaganfall in die Klinik
eingeliefert wurde. Allerdings betont der behandelnde Arzt
an diesem Freitag in Saal 101, dass es sich nur um eine vorübergehende
Durchblutungsstörung im Gehirn gehandelt habe.
Der schwerhörige und deshalb mit einem Kopfhörer
ausgestattete Josef Scheungraber auf dem Stuhl des Angeklagten
verfolgt die Szenerie derweil nahezu unbeteiligt. Zwischendurch
droht er einzunicken, dann zupft ihn einer seiner Anwälte
am Ärmel. Texte liest er mit der Lupe. Als Richter Manfred
Götzl nach seinem Befinden fragt, antwortet Scheungraber
lautstark: "Ich hab' im Moment keine Beschwerden, und
ich bin froh, wenn heute verhandelt wird." Ob er denn
ordentlich hören könne? "Jawoll!", ruft
Scheungraber.
Skurrilitäten eines der wohl letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse.
Genauso wie die Rede des Scheungraber-Verteidigers Klaus
Goebel. Der argumentiert anfangs mit europäischer Menschenrechtskonvention
und EU-Grundrechtecharta, wechselt dann über in trübe
Gewässer. Da wird die deutsche Wehrmacht dann schon
mal zum Opfer. "Mehrere tausend deutscher Soldaten",
sagt Goebel, seien "Opfer der italienischen Partisanen" geworden.
Und dabei handele es sich "um ein völkerrechtswidriges
Tätigwerden dieser Partisanen".
Die Älteren im Publikum finden das offenbar eine prima
Argumentation. Scheungraber derweil schaut unter halbgeschlossenen
Augenlidern reglos geradeaus.
Am 16. Juli geht es weiter, möglicherweise schon mit
der Urteilsverkündung. Und gleich darauf könnte
der nächste Prozess gegen einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher
folgen. Denn zeitgleich zu Scheungrabers Auftritt vor Gericht
verkündete die Münchner Staatsanwaltschaft, dass
der 89-jährige John Demjanjuk eingeschränkt verhandlungsfähig
sei. Noch im Juli soll Anklage erhoben werden. Der Vorwurf:
Beihilfe zum Mord an mindestens 29.000 Juden. Der gebürtige
Ukrainer Demjanjuk soll als KZ-Wachmann im von Deutschland
besetzten Polen die Menschen 1943 in die Gaskammern getrieben
haben.
spiegel.de
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