Am Montag beginnt
der Prozess gegen Iwan Demjanjuk. Kurt Gutmann ist einer
der Nebenkläger, deren Familien in Sobibor ermordet
wurden. Dort war der mutmaßliche Nazi-Scherge tätig.
Er sitzt etwas krumm in seinem Wohnzimmer in einem Hochhaus
in Berlin-Mitte. In dem Holzregal neben ihm steht eine CD
mit dem Titel "Lagerlieder 1933 bis 1945", neben
Videos der Shoa Foundation, Filmen über das Lager Sobibor
und Büchern über NS-Verbrechen. Kurt Gutmann, 82,
hat drei Bypässe, sechs Schrauben im Rücken, Schwierigkeiten
beim Laufen und trägt Hörgeräte. "Vielleicht
habe ich nicht mehr viel Zeit", sagt er. Als jüdisches
Kind hat er die Nazizeit in Deutschland überlebt. Wer
damals sein Leben rettete? "Meine Mutter", antwortet
er.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der sogenannten
Pogromnacht, sei ihm und seiner Familie plötzlich klar
geworden, das es um Leben und Tod gehe. Deswegen schickte
seine Mutter erst den mittleren Sohn Fritz mit einem Kindertransport
nach Schottland. Im Juni 1939, als 12-Jähriger, wurde
Kurt Gutmann hinterhergeschickt. Zurück blieben seine
Mutter Jeanette und der Älteste Bruder Hans-Josef -
beide wurden 1943 in den Gaskammern von Sobibor getötet.
Geboren wurde Kurt Gutmann 1927 in Krefeld als jüngster
dreier Brüder. Er habe eine sehr schöne Kindheit
in bescheidenen Verhältnissen gehabt, blickt er zurück.
Der Vater sei zwar früh verstorben, dennoch sei es der
Mutter gelungen, ihre drei Söhne alleine aufzuziehen.
Kurt Gutmann besuchte die jüdische Volksschule, musste
mit der Machtübernahme Hitlers dann auf eine evangelische
Schule wechseln.
Hier hatte er einen SA-Führer als Rektor, sein Geschichtslehrer
war ein bekennender Nationalsozialist. "Es waren sadistische
Spiele, die sie mit mir gespielt haben", blickt Gutmann
zurück. Grundlos sei er von ihnen mit dem Rohrstock
geschlagen worden, von Mitschülern verprügelt und
als "Judenschwein" beschimpft. Bis heute müsse
er zusammenzucken, wenn ihn jemand von hinten antippt. "Ich
war doch wie jeder andere und plötzlich wurde ich abgestempelt." Er
durfte nicht mehr ins Schwimmbad, ins Kino, später sich
nicht mehr auf eine Parkbank setzen.
1945 kehrte Gutmann - der sich inzwischen der britischen
Armee angeschlossen hatte - nach Deutschland zurück.
1948 ging er nach Ostberlin. "Ich hielt es für
meine Pflicht, am Aufbau eines antifaschistischen und demokratischen
Deutschlands teilzunehmen."
Er war Dolmetscher und Übersetzer in einer chinesischen
Nachrichtenagentur, heiratete, wurde zweifacher Vater. Sein
Bruder Fritz zog von Schottland nach England und lebte dort
bis zu seinem Tod 2002. Beide suchten nach ihrer Familie,
vergeblich. Lange glaubten sie, dass Bruder und Mutter in
in Auschwitz umgekommen seien. Erst 1996 fanden sie im Bundesarchiv
heraus, dass beide nach Sobibor im Südosten Polens gebracht
wurden.
Dem Vernichtungslager, in dem der Ukrainer Iwan Demjanjuk
diente. Am 30. November beginnt vor dem Münchener Landgericht
der Prozess gegen Demjanjuk. Der Vorwurf: Er habe bereitwillig
an der Ermordung von mindestens 27.900 Personen teilgenommen,
die in den 15 Zügen aus den Niederlanden sowie in weiteren
Transporten nach Sobibor gebracht worden seien, ist der Anklageschrift
zu entnehmen. Und: Demjanjuk sei sich seiner Handlungen im
Vernichtungslager bewusst gewesen. Er habe gewusst, dass
er den Opfern körperliche und seelische Qualen zugefügt
habe.
Kurt Gutmann ist einer von 27 zugelassenen Nebenklägern
im Fall Demjanjuk und der einzige Deutsche darunter. Er wird
die ersten zwei Prozesstage in München dabei sein, anschließend
wird sein Anwalt alle Termine für ihn wahrnehmen. "Es
ist anstrengend für mich", sagt Gutmann, "aber
ich freue mich auch darauf, weil ich klären möchte,
wer für den Tod meiner Mutter verantwortlich ist."
Eine Nebenklage kann einreichen, wer einen Verwandten -
also seine Eltern, Geschwister oder seinen Partner, manchmal
seine gesamte Familie - verloren hat. Ein Bekannter informierte
Gutmann über seine rechtlichen Möglichkeiten gegen
Demjanjuk. "Durch die Nebenkläger bekommen die
Opfer ein Gesicht", sagt Cornelius Nestler, Professor
für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität
Köln. Denn der Vorwurf sei ansonsten zu abstrakt. "Der
Mord an so vielen Menschen ist nicht konkret vorstellbar",
so Nestler.
Gemeinsam mit fünf anderen Juristen vertritt er zahlreiche
Nebenkläger aus dem Ausland, überwiegend aus den
Niederlanden. Nebenkläger haben das Recht, aber keinesfalls
die Pflicht, persönlich an dem Prozess teilzunehmen,
für die juristische Vertretung vor Gericht entstehen
keinerlei Kosten. Denn Nebenklägern gehe es nicht um
Rache, sondern um Gerechtigkeit, sagt Nestler. Auf die Höhe
einer Strafe komme es nicht an, sondern darauf, "dass
jeder, der in Sobibor für den Massenmord Verantwortung
trägt, sich seiner Verantwortung zu stellen hat".
Für die deutsche Justiz wird das Verfahren eine Premiere:
Zum ersten Mal wird ein ausländischer Scherge aus dem
letzten Glied der Befehlskette nicht als "Exzesstäter" belangt,
sondern weil er mithalf, die Mordmaschinerie am Laufen zu
halten. Für einen der letzten großen Kriegsverbrecherprozesse
hat die Schwurgerichtskammer des Landgerichts München
35 Verhandlungstage vorgesehen.
Um ein Chaos im Zuschauerraum zu verhindern, wird das Landgericht
die Verhandlung per Video in einen zweiten Saal übertragen,
schließlich haben sich für den ersten Verhandlungstag
mehr als 220 Journalisten aus aller Welt angemeldet. Im Schwurgerichtssaal
stehen aber nur 147 Plätze zur Verfügung, davon
maximal 68 für Journalisten.
Dem Prozess gegen Demjanjuk steht rechtlich nichts mehr
im Wege. "Die Prozessvermeidungsstrategie von Demjanjuks
Verteidigern ist juristisch ohne Substanz", kommentiert
Nestler die Versuche, den Prozess zu verhindern. Demjanjuks
Verteidiger scheiterte beim Bundesverfassungsgericht mit
zwei Beschwerden. Sein gesundheitlicher Zustand sei für
einen Mann seines Alters sehr gut, ist den medizinischen
Gutachten zu entnehmen.
Demjanjuk, 1920 im ukrainischen Dorf Dobowoije geboren,
wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er sagte
später, für ein Stück Brot hätte er alles
getan. Der Ukrainer geriet als Rotarmist 1942 in deutsche
Kriegsgefangenschaft und überlebte, weil er ein Trawniki
wurde, sagen seine Münchener Ankläger. Trawnikis
waren ausländischen Helfer, die die SS für den
Massenmord im besetzten Osteuropa rekrutierte. Schon seit
1948 sind die Ermittler Demjanjuk auf der Spur, der nach
dem Krieg in Süddeutschland lebte und 1952 in die USA
auswanderte.
Er sei das, was die Israelis "Rosch katan" nennen, "ein
kleiner Kopf". Ein "kleines Rädchen" der
Tötungsmaschinerie, einer der Helfer, die Juden in Transporte,
Gaskammern und durch die Ghettos prügelten. Demjanjuk
habe erst im KZ Flossenburg, 1943 dann sechs Monate als Wachmann
in Sobibor gedient.
Beweisen sollen das ein Trawniki-Ausweis, ausgestellt auf
seinen Namen und mit einer Unterschrift des Lagerleiters
und eines Nachschuboffiziers versehen, eine Versetzungsliste,
auf der auch Demjanjuk steht, und eine Aussage eines Ukrainers,
die ihn belastet. Der mittlerweile verstorbene SS-Wachmann
Ignat Daniltschenko, der auch in Sobibor war, sagte bei einer
Vernehmung 1979, "Demjanjuk war wie alle anderen Wachmänner
im Lager an der Massenvernichtung der Juden beteiligt."
250.000 Menschen wurden in Sobibor ermordet, die meisten
waren Polen, in den Gaskammern töteten die etwa 30 SS-Männer
und ihre 120 Helfer aus der Ukraine auch Juden aus den Niederlanden,
Tschechien, Frankreich, der Slowakei und Deutschland. Weil
im Oktober 1943 einige Häftlinge den Ausbruch wagten
und 47 überlebten, erfuhr die Welt von diesem Vernichtungslager.
Demjanjuk hat immer alles bestritten: Nie habe er Juden ins
Gas geprügelt. Kurt Gutmann glaubt fest an Demjanjuks
Schuld, die Beweislast sei zu eindeutig.
Schon einmal wurde der Ukrainer für einen mordenden
KZ-Aufseher gehalten. 1987 stand er in Israel vor Gericht,
als "Iwan der Schreckliche" soll er im KZ-Treblinka
an dem Tod von fast 900.000 Juden verantwortlich gewesen
sein: Es wurde ihm vorgeworfen, die Motoren für die
Gaskammern betrieben zu haben.
Demjanjuk behauptet, von Motoren keine Ahnung zu haben.
Makaber: Der breitschultrige, bullige Mann mit den grauen
Augen arbeitete die meiste Zeit seines Lebens als Kraftfahrer
oder Traktorist, erst auf einer Kolchose, nach dem Zweiten
Weltkrieg für Flüchtlingsorganisationen in Deutschland
und später, in den USA, war er Angestellter in der Dieselmotorenabteilung
der Ford-Werke.
In erster Instanz wurde er zum Tode verurteilt, doch 1993
vom Obersten Gerichtshof in Israel wieder freigesprochen,
nachdem neu zugängliche Dokumente des KGB einen anderen
KZ-Wächter als "Iwan den Schrecklichen" identifizierten.
Demjanjuk kehrte in die USA zurück.
Kurt Gutmann verfolgte den Prozess um den mutmaßlichen
Kriegsverbrecher, kümmerte sich aber nicht darum. Erst
2008 kreuzten sich die Wege der beiden, da wurde Demjanjuks
Leben wieder gestört. Zehn Monate arbeiteten zwei Ermittler
der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen an dem Fall, bevor sie die Ergebnisse an die Staatsanwaltschaft
in München übergaben.
Nach langem juristischem Hin und Her wurde er von den USA
nach Deutschland abgeschoben Seit dem 12. Mai dieses Jahres
sitzt er in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim im Süden
Münchens. Seine Anwälte werden fordern, das Gericht
möge einen einzigen Fall nachweisen, in dem er eigenhändig
zu der Ermordung eines Menschen beitragen werde.
Die Staatsanwaltschaft wird entgegnen, Sobibor sei ein Vernichtungslager
gewesen. Jeder, der dort seinen Dienst versah, habe sich
mitschuldig gemacht. Auch die Forderung der Verteidigung
nach einem Augenzeugen, der Demjanjuk gesehen haben soll,
lässt sich entkräften: Zwischen der Ankunft und
der Ermordung der Menschen im Lager lagen meist nur wenige
Stunden. Diejenigen, die dort ankamen, hatten ihren letzten
Gang schon angetreten.
Bei einer Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord droht ihm
eine Haftstrafe von 3 bis 15 Jahren in jedem einzelnen Fall.
In die USA darf er nicht mehr zurück. Sollte er vor
Ende des wohl langen Prozesses haft- oder verhandlungsunfähig
werden oder sollte es zu einem Freispruch kommen, müsste
er als Sozial- und Pflegefall in München bleiben. Dem
Nebenkläger Kurt Gutmann ist es "egal, ob er ins
Gefängnis muss oder nicht, der Prozess ist mir wichtig.
Ich will die Wahrheit."
taz.de
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