Stand: 25.11.2009 br-online.de
Mit Paragraphen gegen den Holocaust

Ab kommenden Montag steht in München der mutmaßliche KZ-Wächter John Demjanjuk vor Gericht. Es ist wohl der letzte große Holocaust-Prozess weltweit. Der 89-jährige gebürtige Ukrainer war aber nur ein "kleines Rädchen", das sich von den Deutschen zu Unrecht verfolgt fühlt.

Im Mai wurde John Demjanjuk von den Vereinigten Staaten in die Bundesrepublik abgeschoben, nachdem alle Appelle und juristischen Kniffe seiner Anwälte fruchtlos geblieben waren. Seitdem lebt er im Haftkrankenhaus der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim.

Pechvogel oder williger Vollstrecker?

Als Iwan Demjanjuk kam er 1941 in die Mühlen der Weltpolitik: Die Rote Armee zog den Traktorfahrer aus der Ukraine ein, um den Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion ("Unternehmen Barbarossa") zu stoppen. Demjanjuk geriet jedoch bald in die Fänge der Deutschen.

Um der Gefangenschaft zu entgehen, meldete er sich zu einer Hilfsfreiwilligen-Truppe ("Trawniki"), die vor allem zu Wachdiensten in den vom 3. Reich besetzten Gebieten herangezogen wurde. Erhalten hat sich unter anderem Demjanjuks Dienstausweis. Er belegt, dass Demjanjuk 1943 im KZ Sobibor (Ostpolen) eingesetzt war. In diesem Zeitraum wurden in dem Lager fast 28.000 Juden vergast.

Der falsche "Iwan der Schreckliche"

Bei Kriegsende 1945 hielt sich Demjanjuk in einem Vertriebenen-Lager am Starnberger See auf - deshalb ist München jetzt Gerichtsort. In der Nachkriegszeit gelang es ihm, seine Rolle zu verheimlichen und sich als Opfer des Stalinismus darzustellen. So erhielt er mit seiner Frau, die er in dieser Zeit kennen lernte, die US-Staatsbürgerschaft und konnte sich in der Nähe von Cleveland (Ohio) ein normales Leben als Kfz-Mechaniker aufbauen.

Erst in den 1980er Jahren wurden die Behörden auf seine Zeit im Dienst der Nazis aufmerksam. Weil es hieß, Demjanjuk habe auch im KZ Treblinka gedient, wurde er an Israel ausgeliefert.
Allerdings ließen sich Zeugenaussagen, die ihn als den KZ-Wächter "Iwan den Schrecklichen" bezeichneten nicht hieb- und stichfest machen. Der Oberste Gerichtshof in Jerusalem sprach ihn 1993 frei; er konnte in die USA zurückkehren.

Beweisstück Dienstausweis

Für anderthalb Jahrzehnte hatte Demjanjuk Ruhe vor der Justiz. Dann fand sich im Jahr 2008 in amerikanischen Unterlagen sein Dienstausweis aus Sobibor. Die deutsche Justiz begann daraufhin, abermals gegen ihn zu ermitteln. Die Staatsanwälte der zentralen Ermittlungsstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg sammelten genügend Beweise für eine Anklageerhebung. Das Demjanjuk-Verfahren zählt damit zu der kleinen Minderheit an Ermittlungen gegen ehemalige Schergen Hitlers, die zu einem Strafprozess führen.

Keine Erfolgsgeschichte

Von den etwa 110.000 Verdächtigen, zu denen nach 1945 in Ludwigsburg Akten angelegt wurden, kamen nur etwa 6.500 hinter Gitter.

Erst mit dem "Ulmer Einsatzgruppen-Prozess" im Jahr 1958 begann die deutsche Justiz mit der Ahndung der Massenmorde hinter der Ostfront und in den KZ. Davor hatte Kanzler Adenauer aktiv eine Politik des Verschweigens und Vergessens betrieben. Spektakuläre Prozesse wie die zu den Geschehnissen in Auschwitz (1961) und Majdanek (1975) blieben jedoch weiterhin Ausnahmen. Die Strafverfolgung der NS-Täter zählt nach Ansicht von Fachleuten nicht zur viel zitierten "Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik.

Der Holocaust als Basis

Beim Prozess vor dem Landgericht München wird die israelische Öffentlichkeit besonders aufmerksam zuschauen. Der jüdische Staat gründet sich auf den "Auschwitz-Mythos": Er rechtfertigt seine Politik der Stärke gegenüber den arabischen Nachbarn auch mit den Leiden der Juden im Dritten Reich. Manche Politiker, auch Premier Netanjahu, haben schnell den Begriff "Holocaust" zur Hand, wenn Vorwürfe gegen Staaten wie den Iran zur Sprache kommen.

Innenpolitisch führt das Land eine intensive Diskussion darüber, ob man sich zu lange auf die Judenverfolgung als "Negativfolie" der eigenen Existenz berufen hat. So sorgte Avraham Burg, der ehemalige Präsident des Parlaments ("Knesset") mit einem Buch, in dem er eine neue geistige Grundlage für Israel forderte, für einen Skandal im Land. Junge Israelis sehen die Sache häufig ähnlich.

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