Ab kommenden Montag
steht in München der mutmaßliche KZ-Wächter
John Demjanjuk vor Gericht. Es ist wohl der letzte große
Holocaust-Prozess weltweit. Der 89-jährige gebürtige
Ukrainer war aber nur ein "kleines Rädchen",
das sich von den Deutschen zu Unrecht verfolgt fühlt.
Im Mai wurde John Demjanjuk von den Vereinigten Staaten
in die Bundesrepublik abgeschoben, nachdem alle Appelle und
juristischen Kniffe seiner Anwälte fruchtlos geblieben
waren. Seitdem lebt er im Haftkrankenhaus der Justizvollzugsanstalt
München-Stadelheim.
Pechvogel oder williger Vollstrecker?
Als Iwan Demjanjuk kam er 1941 in die Mühlen der Weltpolitik:
Die Rote Armee zog den Traktorfahrer aus der Ukraine ein,
um den Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion ("Unternehmen
Barbarossa") zu stoppen. Demjanjuk geriet jedoch bald
in die Fänge der Deutschen.
Um der Gefangenschaft zu entgehen, meldete er sich zu einer
Hilfsfreiwilligen-Truppe ("Trawniki"), die vor
allem zu Wachdiensten in den vom 3. Reich besetzten Gebieten
herangezogen wurde. Erhalten hat sich unter anderem Demjanjuks
Dienstausweis. Er belegt, dass Demjanjuk 1943 im KZ Sobibor
(Ostpolen) eingesetzt war. In diesem Zeitraum wurden in dem
Lager fast 28.000 Juden vergast.
Der falsche "Iwan der Schreckliche"
Bei Kriegsende 1945 hielt sich Demjanjuk in einem Vertriebenen-Lager
am Starnberger See auf - deshalb ist München jetzt Gerichtsort.
In der Nachkriegszeit gelang es ihm, seine Rolle zu verheimlichen
und sich als Opfer des Stalinismus darzustellen. So erhielt
er mit seiner Frau, die er in dieser Zeit kennen lernte,
die US-Staatsbürgerschaft und konnte sich in der Nähe
von Cleveland (Ohio) ein normales Leben als Kfz-Mechaniker
aufbauen.
Erst in den 1980er Jahren wurden die Behörden auf seine
Zeit im Dienst der Nazis aufmerksam. Weil es hieß,
Demjanjuk habe auch im KZ Treblinka gedient, wurde er an
Israel ausgeliefert.
Allerdings ließen sich Zeugenaussagen, die ihn als
den KZ-Wächter "Iwan den Schrecklichen" bezeichneten
nicht hieb- und stichfest machen. Der Oberste Gerichtshof
in Jerusalem sprach ihn 1993 frei; er konnte in die USA zurückkehren.
Beweisstück Dienstausweis
Für anderthalb Jahrzehnte hatte Demjanjuk Ruhe vor
der Justiz. Dann fand sich im Jahr 2008 in amerikanischen
Unterlagen sein Dienstausweis aus Sobibor. Die deutsche Justiz
begann daraufhin, abermals gegen ihn zu ermitteln. Die Staatsanwälte
der zentralen Ermittlungsstelle für NS-Verbrechen in
Ludwigsburg sammelten genügend Beweise für eine
Anklageerhebung. Das Demjanjuk-Verfahren zählt damit
zu der kleinen Minderheit an Ermittlungen gegen ehemalige
Schergen Hitlers, die zu einem Strafprozess führen.
Keine Erfolgsgeschichte Von
den etwa 110.000 Verdächtigen, zu denen nach 1945 in
Ludwigsburg Akten angelegt wurden, kamen nur etwa 6.500 hinter
Gitter.
Erst mit dem "Ulmer Einsatzgruppen-Prozess" im
Jahr 1958 begann die deutsche Justiz mit der Ahndung der
Massenmorde hinter der Ostfront und in den KZ. Davor hatte
Kanzler Adenauer aktiv eine Politik des Verschweigens und
Vergessens betrieben. Spektakuläre Prozesse wie die
zu den Geschehnissen in Auschwitz (1961) und Majdanek (1975)
blieben jedoch weiterhin Ausnahmen. Die Strafverfolgung der
NS-Täter zählt nach Ansicht von Fachleuten nicht
zur viel zitierten "Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik.
Der Holocaust als Basis
Beim Prozess vor dem Landgericht München wird die israelische Öffentlichkeit
besonders aufmerksam zuschauen. Der jüdische Staat gründet
sich auf den "Auschwitz-Mythos": Er rechtfertigt
seine Politik der Stärke gegenüber den arabischen
Nachbarn auch mit den Leiden der Juden im Dritten Reich.
Manche Politiker, auch Premier Netanjahu, haben schnell den
Begriff "Holocaust" zur Hand, wenn Vorwürfe
gegen Staaten wie den Iran zur Sprache kommen.
Innenpolitisch führt das Land eine intensive Diskussion darüber, ob man sich zu lange auf die Judenverfolgung als "Negativfolie" der eigenen Existenz berufen hat. So sorgte Avraham Burg, der ehemalige Präsident des Parlaments ("Knesset") mit einem Buch, in dem er eine neue geistige Grundlage für Israel forderte, für einen Skandal im Land. Junge Israelis sehen die Sache häufig ähnlich.
br-online.de
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