Bei der Eröffnung
des Prozesses gegen John Demjanjuk war Efraim Zuroff anwesend.
Der Historiker leitet die Zweigstelle des Simon-Wiesenthal-Zentrums
in Israel, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Strafverfolgung
von NS-Verbrechern weltweit voranzubringen. Mit Zuroff sprach
Gerhard Gnauck.
DIE WELT: Herr Zuroff, wie bewerten Sie diesen Prozess?
Efraim Zuroff: Ich finde es wichtig, dass in einem der vermut-lich
letzten Verfahren ein mutmaßlicher NS-Kriegsverbrecher
zur Verantwortung gezogen wird. Das Argument, dass in früheren
Jahren viele höherrangige deutsche SS-Leute freigesprochen
wurden, überzeugt mich nicht. Wenn damals Fehler gemacht
wurden, so heißt das doch nicht, dass wir diese alten
Versäumnisse heute wiederholen müssen.
DIE WELT: Demjanjuks Verteidigung sagte am gestrigen Dienstag,
das israelische Urteil gegen ihn von 1987 habe seine Tätigkeit
in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor enthalten,
und niemand könne zweimal für dieselbe Tat vor
Gericht stehen. Außerdem machte sie Befehlsnotstand
geltend. Viele desertierte Wachmänner, so hieß es,
seien erschossen worden.
Zuroff: Im Lager Sobibor haben 30 deutsche SS-Leute 120
Ukrainer befehligt. Die Ukrainer waren bewaffnet, eigentlich
hätten sie die SS-Leute überwältigen können.
Sie hätten fliehen können. Ich weiß, diese
Menschen standen vor schwierigen Entscheidungen. Aber jeder
muss für seine Taten Verantwortung übernehmen.
Was die frühere Verurteilung Demjanjuks betrifft, kann
ich nicht mit Sicherheit sagen, ob dort Sobibor erwähnt
worden ist.
DIE WELT: Das Wiesenthal-Zentrum hat gerade seinen Jahresbericht
herausgegeben. Wer sind heute die meistgesuchten NS-Verbrecher?
Zuroff: Alois Brunner, der enge Mitarbeiter Eichmanns. Er
hat zuletzt lange in Syrien gelebt. Er ist mittlerweile fast
mit Sicherheit verstorben. Der Nächste ist der für
viele Morde und tödliche Injektionen verantwortliche
KZ-Arzt Aribert Heim, angeblich 1992 in Kairo verstorben
- auch hier gibt es aber keine Sicherheit, und unsere Ermittlungen
stecken fest. Ein weiterer wäre Klaas Carl Faber, der
Gefangene im holländischen Lager Westerbork ermordet
hat, von wo die Transporte nach Sobibor gingen, und der 1952
aus den Niederlanden nach Deutschland floh. Die Justiz in
Ingolstadt hat seitdem, trotz niederländischer Bitten,
nichts unternommen.
DIE WELT: Ihr Zentrum nennt für das vergangene Berichtsjahr
in Deutschland neu aufgenommene Ermittlungen in 43 Fällen,
mehr als in jedem anderen Land. Dagegen liegt bei der Anzahl
der bereits bisher laufenden Ermittlungen Polen mit 270 Fällen
vorne.
Zuroff: Die Zahlen nennen uns die Behörden der jeweiligen
Länder - ohne Details oder die Staatsangehörigkeit
der Verdächtigen. Was die polnische Statistik betrifft:
Sie hat keine Bedeutung; in diesen Fällen wird es nicht
zu Anklagen kommen. Es gab in Polen in den letzten zehn Jahren
nur ein Urteil gegen einen NS-Verbrecher.
DIE WELT: Gab es in den vergangenen Jahren weitere Fälle
mit NS-Verbrechern in Ostmitteleuropa?
Zuroff: In der Ukraine gibt es meines Wissens keine Fälle,
in denen ermittelt worden wäre. In Ungarn wird seit
zwei Jahren schleppend gegen Sandor Kepiro ermittelt, der
als ungarischer Polizeioffizier an der Ermordung von 1200
Juden sowie auch Serben und Roma beteiligt war. Es gibt den
Fall von Michail Gorschkow, der an Judenmorden teilgenommen
hat, dem die US-amerikanische Staatsbürgerschaft entzogen
wurde und der jetzt vermutlich in Estland lebt, wo gegen
ihn ermittelt wird. In Litauen gab es seit 2000 zwei Urteile,
eines davon zu fünf Jahren, es betrifft Algimantas Dailide,
der als Polizist Juden verhaftet hat, die dann von anderen
ermordet wurden. Dailide ist aus angeblichen Gesundheitsgründen
freigelassen worden und lebt heute in Deutschland.
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