München Einer
der letzten NS-Kriegsverbrecherprozess gegen den 89-jährigen
Ukrainer Iwan Nikolai »John« Demjanjuk hat gestern
mit Verzögerung vor dem Landgericht München II
begonnen.
Mindestens so sehr wie das historische Ereignis selbst wurde
unter den mehr als 200 aus der ganzen Welt angereisten Journalisten
die Unfähigkeit der Münchener Strafjustiz diskutiert,
einen Prozess dieser Bedeutung und Dimension organisatorisch
in den Griff zu bekommen.
Entsprechend gereizt war die Stimmung im Zuhörerraum,
als der betagte Angeklagte mit mehr als einer Stunde Verspätung
auf einen Rollstuhl in den Saal gerollt wurde. Der gebürtige
Ukrainer schien unter einer Schildkappe vor sich hin zu dämmern.
Regungslos ließ der bis zum Hals in eine hellblaue
Decke gehüllte Demjanjuk das minutenlange Blitzlichtgewitter
der Fotografen über sich ergehen, mehr auf seinem Rollstuhl
liegend denn sitzend: Ein Bild der Hinfälligkeit.
Efraim Zuroff, Direktor des Simon Wiesenthal Center in Israel,
kennt das von vielen NS-Prozessen. Wenn sie begännen,
seien alle Angeklagten sehr, sehr krank. »Das ist doch
Hollywood«, beklagt Zuroff.
Befangenheitsantrag
Noch bevor es zur Verlesung der Anklage kam, landete Ulrich
Busch, einer der beiden Verteidiger, einen publizistischen
Coup: Verpackt in einen Antrag, Richter Ralph Alt und die
beiden Staatsanwälte wegen Besorgnis der Befangenheit
abzulehnen, hielt er schon einmal eine Art vorgezogenes Plädoyer.
Die Staatsanwaltschaft, meinte Busch, hätte gegen den
mutmaßlichen Bewacher des Vernichtungslagers Sobibor
(Polen) Demjanjuk nie Anklage erheben dürfen, weil in
früheren Prozessen dessen Vorgesetzte, nämlich
Angehörige der SS-KZ-Wachmannschaften, freigesprochen
worden seien.
Der 89-jährige Angeklagte, so steht es in der Anklageschrift,
habe sich als Kriegsgefangener freiwillig zur Ausbildung
zum so genannten »Trawniki« gemeldet und dann
in Sobibor Beihilfe zum Mord an mindestens 27 900 Juden geleistet. »Trawniki« genannt
wurden die »fremdvölkischen Wachmannschaften«,
die in den Vernichtungslagern die Drecksarbeit für die
SS-Bewacher erledigen mussten. Sie waren es, welche zum Beispiel
die in Güterwaggons antransportierten Juden in die Gaskammern
trieben.
Doch Anwalt Busch stellte den betagten Angeklagten als Opfer,
nicht als Täter hin. Die »Trawniki« hätten
ebenfalls wie die so genannten »Funktionshäftlinge« und »Arbeitsjuden« nur
die Wahl gehabt, »perfekt zu gehorchen oder erschossen
oder vergast zu werden«. Sogar Angehörige der
SS-Wachmannschaften, also Vorgesetzte der Kollaborateure
seien in früheren Prozessen wegen »Putativ-Notstands« freigesprochen
worden. Es könne aber nicht angehen, die Befehlsgeber
freizusprechen und die Befehlsempfänger zu verurteilen,
so der Anwalt. Ausgerechnet gegen das kleinste Rad am Wagen
werde verhandelt, was dem Gleichbehandlungsgrundsatz widerspreche.
Ganz anders der 83-jährige KZ-Überlebende Robert
Cohen: Er kennt alle Argumente gegen einen Demjanjuk-Prozess
wie das hohe Alter des Beschuldigten und den nachsichtigen
Umgang der deutschen Justiz mit deutschen KZ-Wächtern.
Deutschland sei bei diesen Prozessen aus der Nachkriegszeit
noch kein Rechtsstaat gewesen, findet der in Amsterdam Lebende,
der nach München gereist ist. »Deutschland hat
jetzt die Chance, ein Rechtsstaat zu werden.«
Demjanjuk hätte desertieren können, sagt Cohen.
Dann krempelt er einen Ärmel seines braun-weiß gestreiften
Hemds hoch. Die Häftlingsnummer 174708 aus dem Konzentrationslager
Auschwitz steht dort eintätowiert. 1943, als Cohen Auschwitz überlebte,
wurden seine Eltern und sein Bruder in Sobibor vergast. Laut
Anklage war Demjanjuk in dieser Zeit dort Wärter.
Die 22 nach München gekommenen Nebenkläger, unter
ihnen der Sobibor-Überlebende Thomas Blatt und Angehörige
von ermordeten Juden wie Cohen, taten sich teilweise sichtbar
schwer, dem Verteidiger schweigend zuzuhören. Besonders
als Busch meinte, sein Mandant stehe »auf gleicher
Stufe« mit dem Nebenkläger Blatt, der ebenfalls
Hilfsdienste verrichtet habe, hörte man Zischen. Mögliche
Unterlassungen der deutschen Justiz bei der Verfolgung von
NS-Verbrechen in der Vergangenheit könnten kein Grund
sein, Demjanjuk nicht anzuklagen, meinte der Nebenkläger-Anwalt.
Im Übrigen seien die »Trawniki« keineswegs
nur widerwillige Handlanger gewesen. Sie hätten Ausgang
und Urlaub gehabt und sich an den Wertsachen der Opfer bereichert.
Enormes Medieninteresse
Ü
ber den Befangenheitsantrag will das Gericht zu einem späteren
Zeitpunkt entscheiden. Ein Nachspiel könnte auch der
Umgang der Münchener Strafjustiz mit den Journalisten
aus aller Welt sein. Obwohl seit Monaten bekannt war, wie
enorm das Medieninteresse insbesondere aus Osteuropa, den
Niederlanden, den USA und Israel sein würde, mussten
die Berichterstatter zum Teil mehr als vier Stunden warten,
bis sie nach strengen Kontrollen sowie ihrer Handys und Laptops
beraubt in den Schwurgerichtssaal eingelassen wurden. »Das
Oktoberfest«, sagte ein amerikanischer Journalist, »war
besser organisiert. Man sollte diese Leute das machen lassen«.
Ausländische Journalisten setzten gar eine Resolution
gegen die Justiz-Verantwortlichen wegen des »Skandals« in
Gang. Auch Michel Friedmann, früherer Vizevorsitzender
des Zentralrats der Juden, war stinksauer: »Das ist
bereits ein Stück Prozessgeschichte«, drohte er.
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