München -
Es war totenstill, als John Demjanjuk gestern in den Verhandlungssaal
des Landgerichts München II geschoben wurde. Alle waren
versammelt, die Richter, der Staatsanwalt, ein Holocaust-Überlebender
als Nebenkläger, im Zuschauerraum Angehörige von
Opfern, Vertreter von Opferverbänden, Dutzende von Journalisten.
Und dann das: Ein regloser Körper wird in einem schräg
gestellten Rollstuhl mit Kopfstütze langsam in den Saal
gerollt. Der Angeklagte liegt unter hellblauen Kunststoffdecken,
die zunächst an Müllsäcke denken lassen. Auf
dem Kopf trägt Demjanjuk eine Baseballmütze. Anhaltendes
Blitzlichtgewitter.
Mit dieser Szene begann gestern der möglicherweise
letzte Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Gewaltverbrecher,
doch zugleich der erste in Deutschland gegen einen Ausländer,
dem diese Taten zur Last gelegt werden. Der als Iwan Demjanjuk
1920 in der sowjetischen Ukraine geborene Mann soll laut
Anklage als Wachmann (sogenannter "Trawniki-Mann")
im Vernichtungslager Sobibor 1943 Beihilfe zum Mord an 27
900 Juden geleistet haben. 1952 war Demjanjuk in die USA
ausgewandert. 1987 wurde er in Israel (offenbar aufgrund
einer Verwechslung) zum Tode verurteilt, 1993 aufgrund von
Zweifeln an diesem ersten Urteil freigelassen und im Mai
2009 abermals von den USA ausgeliefert, diesmal nach Deutschland.
Der Vorsitzende Richter Ralph Alt eröffnete die Verhandlung
- aufgrund des Andrangs gut eine Stunde verspätet -
mit den Worten "Ich wünsche allen einen guten Tag".
Der Richter kam jedoch nicht weit. Ulrich Busch, der Wahlverteidiger,
nahm das Heft in die Hand und beantragte, die Richter für
befangen zu erklären. Er verlas einen umfangreichen
Antrag, in dem hin und wieder die Formel "die historische
Wahrheit" aufblitzte. Darin schilderte er die Umstände,
unter denen Leute wie Demjanjuk 1943, als sie als kriegsgefangene
Rotarmisten in deutschen Lagern saßen, zu SS-Hilfsdiensten "zwangsrekrutiert" und "unter
Todesdrohung" zum Dienst gepresst worden seien.
Vor allem widmete sich Busch der Frage, warum ein Ausländer,
der beim Holocaust als "Untermensch" die "Drecksarbeit" geleistet
habe, belangt werde, während viele deutsche SS-Leute
im selben Lager - wie im Sobibor-Prozess 1966 in Hagen -
freigesprochen worden seien.
"Setzt nicht Beihilfe einen Haupttäter und eine
Haupttat voraus?", fragte der Anwalt. Manche der deutschen
Vorgesetzten seien wegen Putativnotwehr freigesprochen worden.
Busch kritisierte, dass Demjanjuk aus den USA geholt worden
sei, während die "Trawniki"-Wachleute Kunz
und Nagorny, die Schlimmeres als Demjanjuk getan hätten, "seit
65 Jahren unbehelligt in Deutschland leben". Dennoch
sei Kunz vom Münchener Gericht als Zeuge in diesem Verfahren
akzeptiert worden. Die Anklage habe einen "Doppelstandard".
Offenbar werde dieser Prozess "stellvertretend" für
die US-Justiz geführt, die Demjanjuk selbst nicht anklagen
könne, weil die ihm zur Last gelegten Taten nicht in
Amerika verübt wurden. Für leise Unmutsäußerungen
im Publikum sorgte der Anwalt mit den Worten, die Trawniki-Männer
stünden "auf der gleichen Stufe" wie "jüdische
Kollaborateure und Kapos", die ebenfalls zu Hilfsdiensten
gezwungen gewesen seien.
Über den Antrag auf Befangenheit will das Gericht später
entscheiden. Der Angeklagte sprach gestern kein einziges
Wort, öffnete nur hin und wieder apathisch den Mund,
während eine Dolmetscherin für ihn übersetzte.
Drei ärztliche Gutachter stellten Demjanjuk als alles
in allem verhandlungstauglich dar. Er sei ihnen gegenüber
höflich und "sehr kooperativ" gewesen. "Man
konnte sich über einfache Dinge des Alltags gut mit
ihm unterhalten." Auch die Bedeutung des Prozesses sei
ihm bewusst. In der zweiten Sitzung am Nachmittag gab sich
Demjanjuk noch gebrechlicher als am Vormittag. Er ließ sich
liegend in den Saal rollen. Für eine kurze Behandlung
von Kopfschmerzen musste die Verhandlung für 25 Minuten
unterbrochen werden.
Efraim Zuroff, Lei-ter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in
Jerusalem, sagte der WELT, es sei gut, dass schon zu Beginn
die zwei Risiken des Prozesses zutage getreten seien: das
Thema der Verhandlungsunfähigkeit aus Gesundheitsgründen
und der Vorwurf, in der Justiz gebe es einen Mangel an Gleichbehandlung
verschiedener Täter. "Doch ein früher gemachter
Fehler (der Justiz) kann nicht rechtfertigen, diesen Fehler
jetzt zu wiederholen." Der Vergleich der Trawniki-Männer
mit jüdischen Kapos sei "beleidigend".
Vor der Betonburg des Gerichts waren in der Verhandlungspause
die Nebenkläger zu beobachten. An einer Zigarette ziehend,
stand dort der Sobibor-Überlebende Thomas Blatt Rede
und Antwort. Die Frage eines Reporters: "Sie wollen,
dass Demjanjuk verurteilt wird?" beantwortete er mit
den Worten: "Nein. Ich bin neutral." Er hoffe nur,
dass die Geschichte von Sobibor bekannt werde, auch unter
jungen Menschen.
welt.de
|