1943 soll er im
NS-Vernichtungslager Sobibor Beihilfe zum Mord an 27.900
Juden geleistet haben. Mit keiner Miene verrät der Angeklagte,
ob er versteht, was ihm da vorgeworfen wird. Eine Übersetzerin
flüstert ihm alles ins Ohr.
Regungslos sitzt John Demjanjuk in seinem Rollstuhl, als
der Richter am Landgericht München den Prozess gegen
ihn eröffnet. Die Augen hat er geschlossen, seine blaugraue
Baseballkappe ins Geschicht gezogen. Über seine Knie
hat er eine blaue Decke gebreitet, hinter ihm steht ein Sanitäter.
Mit keiner Miene verrät der Angeklagte, ob er versteht,
was ihm da vorgeworfen wird. Eine Übersetzerin flüstert
ihm alles ins Ohr. Es geht um Beihilfe zum Mord, um die Tötung
von 27.900 Juden im NS-Vernichtungslager Sobibor. Der gebürtige
Ukrainer war als sowjetischer Gefangener von den Nazis für
Hilfsdienste ausgebildet und 1943 sieben Monate in Sobibor
im heutigen Polen eingesetzt worden.
In den vordersten Reihen des kleinen Gerichtssaals, der
nicht annähernd alle interessierten Beobachter und Journalisten
fasst, kehrt Aufregung ein, als Demjanjuk im Rollstuhl hinter
die Anklagebank geschoben wird. Einige springen von ihren
Sitzen auf und wollen den Angeklagten sehen. „Hinsetzen“,
ruft eine ältere Frau. Einem mutmaßlichen Kriegsverbrecher
solle man nicht die „Ehre“ erweisen und sich
erheben. Diejenigen, die in den ersten Reihen sitzen, haben
Angehörige im Lager Sobibor verloren und treten als
Nebenkläger im Prozess auf.
Unter ihnen ist auch Robert Cohen aus Amsterdam. Der 83-Jährige
hat in Sobibor Eltern und Bruder verloren: „Ich will,
dass Demjanjuk bestraft wird“, sagt er in der Prozesspause.
Die meisten der in Sobibor getöteten Juden kamen mit
Transporten aus den Niederlanden. „Deutschland kann
es sich nicht erlauben, eine leichte Strafe zu geben. Da
geht es doch um das Ansehen im Ausland“, sagt Cohen,
während er den Ärmel seiner Anzugjacke nach oben
rollt. Die Nummer 174708 wird sichtbar, eintätowiert
auf seinem Unterarm, als Cohen als Jugendlicher nach Auschwitz
deportiert wurde. „Demjanjuk war ein Nazi und wird
immer einer bleiben.“ Daran gibt es für Cohen
keine Zweifel.
Anwalt sieht Demjanjuk als Opfer
Das sieht Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch anders. Zu
Beginn der Verhandlung stellt er ihn als Opfer, nicht als
Täter dar. Demjanjuk sei ein Überlebender des
Holocaust – so wie einige im Gerichtssaal. Der Anwalt
ist der Meinung, dass Demjanjuk nur ein kleines Rädchen
in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis war. Als ein von
den Nazis gefangener Rotarmist habe er sich den Befehlen
nicht widersetzen können.
Busch wirft dem Gericht „moraliche Doppelstandards“ vor.
Demjanjuks deutsche Vorgesetzte seien entweder in früheren
Prozessen freigesprochen worden, oder es sei erst gar nicht
zu Ermittlungen gekommen. „Demjanjuk wird nach Deutschland
importiert“, so Busch, während andere unbehelligt
in Deutschland lebten. Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Zentrum
Jerusalem meint hingegen, dass sich Helfer wie Demjanjuk
nicht so leicht aus der Verantwortung stehlen könnten.
Zentrale Frage zu Prozessbeginn war, ob der gebrechlich
wirkende Demjanjuk, wirklich verhandlungsfähig ist.
Die Gutachter sagten Ja. Drei Ärzte bestätigten,
dass er trotz gesundheitlicher Einschränkungen voll
vernehmungsfähig sei und dem Prozess folgen könne.
Der Angeklagte sei kooperativ gewesen, habe sich untersuchen
lassen und sei durchaus in der Lage, dem Verfahren zu folgen,
erläuterte einer der Gutachter.
„Demjanjuk versucht, besonders krank auszusehen. So
will er so viele Zweifel am Prozess wie möglich aufbringen“,
sagt Efraim Zuroff vor dem Gerichtssaal. Er setzt auf die
deutsche Justiz und hofft wie die Angehörigen der Opfer
auf späte Gerechtigkeit.
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