Die Killer kamen
spät am Abend. Sie klingelten bei ihren Opfern und stellten
die Personalien fest: "Sind Sie Fritz Hubertus Bicknese?" Dann
schossen sie. Einer der Täter war Heinrich Boere. Er
gehörte 1944 in den Niederlanden als Mitglied der "Germanischen
SS" dem Terrorkommando Feldmeijer an. Drei Zivilisten
hat Boere auf vergleichbare Weise kaltblütig hingerichtet.
Die blindwütigen Racheakte gegen vermeintliche Widerständler – was
alle drei Opfer nicht waren – hat Boere nie geleugnet.
Er hat sie sogar einmal mit martialischen Worten bestätigt: "Ja,
ich hab’ die weggemacht."
Mit mehr als 65 Jahren Verspätung muss sich der Mann
in Aachen vor Gericht verantworten. Ein Biedermann im Rollstuhl
sitzt da hinter einer spanischen Wand aus Panzerglas. Ein
Mann von kräftiger Statur, er trägt kurze Haare,
Brille, Freizeithose, dazu Sandalen mit dicken Wollsocken.
Der rechte Ringfinger ist mit einem Blutdruck-Messgerät
verbunden. Herzschwächen, heißt es. Ein Arzt sitzt
immer dabei.
Heinrich Boere, Vater Niederländer, Mutter Deutsche,
88 Jahre alt, war zwei, als seine ärmliche Familie aus
dem Aachener Umland in Vaters Heimat in der Nähe von
Maastricht zieht. Mühsam schlägt man sich durch,
der Vater ein Tunichts, der von Stütze lebt. "Wir
hatten nichts", erklärt er dem Gericht, "un
dat in einem der reichsten Länder van de Welt." Boere
redet in rheinischem Singsang mit starkem holländischem
Akzent.
Die Anklage sagt, was geschehen sei, sei Mord in drei Fällen.
Dann bekäme Boere lebenslang. Oder war es Totschlag,
war Boere ein naiver Befehlsempfänger? Dann wären
die Taten verjährt und er könnte zurück in
seine Seniorenresidenz "Meerblick", Appartment
133. Und dort "fernsehen und auf den Tod warten",
wie der Angeklagte selbstgefällig sagt.
Quasi zufällig will Boere 1940 im besetzten Holland
auf die Waffen-SS aufmerksam geworden sein. Nach zwei Jahren
Dienstverpflichtung war ihm eine zivile Weiterbeschäftigung
garantiert, ein verlockendes Angebot für den jungen
Mann. Außerdem habe es die deutsche Mutter gut gefunden. "Se
komme", habe sie freudig im Mai 1940 gesagt, als die
deutschen Panzer draußen anrollten.
Als Boere vor Gericht dann seine Jahre an der Ostfront in
der berüchtigten SS-Division Wiking streift, schnellt
sein Blutdruck von den üblich niedrigen 100 auf 140
hoch. Den Rekord schafft er bei einer Banalität: Im
SS-Ausbildungslager in München habe es zwischen deutschen
und niederländischen Freiwilligen "ein Länderspiel
gegeben im Fußball". Wer gewonnen habe? "Die
Holländer." Das Blutdruck-Kästchen zeigt plötzlich
145.
Prozess in Aachen: Demonstranten fürchten juristische
Tricks im Prozess gegen Heinrich Boere.
Der niederländische Familienname wird "Bure" ausgesprochen.
Nur der Angeklagte und sein Anwalt sagen immer betont deutsch "Böre". "Ich
bin Deutscher", sagt Böre-Bure bockig bei der Befragung
zur Person, "auch wenn in meinem Pass staatenlos vermerkt
ist." Warum er nie verheiratet war? "Ich musste
doch ständig damit rechnen, dass mich die Vergangenheit
einholt. Das wollte ich keiner Frau zumuten." Und gute
Freunde? Nein, höchstens im Heim "der Herr Blüm,
der war auch bei der SS".
1945 war Boere in Holland in Lagergefangenschaft gekommen.
Listig gelang ihm die Flucht. 1949 wurde er in Amsterdam
in Abwesenheit zum Tode verurteilt, später wurde diese
Strafe umgewandelt in lebenslange Haft. Boere blieb verschollen.
Ende 1954 taucht er wieder in seinem Geburtsort Eschweiler
bei Aachen auf. Erste Tat: ein Antrag auf Kriegsgefangenenentschädigung,
der wurde abgelehnt. Danach lebt Boere mehr als ein halbes
Jahrhundert unbehelligt in Eschweiler, immer unter seinem
Namen, erst als Bergmann, seit 1976 als Frühpensionär.
Erst 1980 erfuhr die niederländische Justiz von seiner
Existenz und beantragte die Auslieferung. Das Oberlandesgericht
Köln lehnte ab – mit Hinweis auf einen Erlass
Hitlers, wonach deutschstämmige Ausländer bei freiwilliger
SS-Mitgliedschaft als Deutsche gelten. Und Deutschland liefert
Deutsche nicht aus. Anklage hierzulande? Nein! Denn die Erschießungen
Unbeteiligter seien im Krieg mutmaßlich rechtmäßige
Repressalien gewesen – und falls nicht, handelten die
Täter womöglich im Verbotsirrtum. Boere durfte
sich über deutsche Strafverfolgungsbehörden als
Strafverhinderer freuen.
Wieder gingen Jahrzehnte ins Land. Erst seit 2003 kann ein
Urteil wie das aus Amsterdam auch in anderen EU-Staaten vollstreckt
werden. Das beantragte die holländische Justiz. Vier
Jahre brauchte das Aachener Landgericht zur Zustimmung. Doch
das OLG Köln kam Boere wieder zur Hilfe: Er habe sich
1949 in Amsterdam nicht angemessen verteidigen und keine
Rechtsmittel einlegen können. Wie auch, aus dem Versteck?
Erst der neue Leiter der Dortmunder Zentralstelle für
NS-Verbrechen, Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß, klagte
Heinrich Boere 2008 an. Daraufhin suchten Boeres Anwälte
bis zum Bundesverfassungsgericht Hilfe, um eine altersbedingte
Verhandlungsunfähigkeit festzustellen. Erfolglos. Ende
Oktober begann der Prozess vor dem Landgericht Aachen – und
die juristischen Scharmützel gingen nun erst richtig
los: Anträge auf Befangenheit des Anklägers und
auf Nichtzuständigkeit des Gerichts. Dann erstritten
die Verteidiger ein Hörgerät für den Angeklagten.
Der wollte nämlich plötzlich nichts mehr verstanden
haben. Wieder platzten zwei Termine, dann musste die Anklage
neu verlesen werden. War das alles nur Ergebnis der Selbstdarstellung
der Anwälte oder Teil einer Farce?
Es kam der Dienstag, der 1.12. Betont wichtig erklären
Boeres Anwälte: "Ab heute gilt der Vertrag von
Lissabon", um dann in einem halbstündigen Vortrag
darzulegen, warum eine weitere Verfolgung Boeres auf eine
europäisch widerrechtliche Doppelbestrafung zulaufe.
Denn in der EU-Grundrechtecharta ("gültiges Recht
ab heute") stehe nicht mehr, dass ein Urteil vollstreckt
sein müsse, um von einer Doppelverfolgung zu sprechen.
Also sei das Verfahren umgehend per Prozessurteil einzustellen!
Boere lächelt.
Ein Prozessende würde europäische Rechtsgeschichte
schreiben. Das Gericht ist vorsichtig und vertagte wieder.
Gestern die Widerreden. Die Nebenklage führte an: Früher
sei ein geständiger SS-Mann wegen eines angeblich mangelhaften
Urteils vor der holländischen Justiz geschützt
worden, jetzt soll alles mangelfrei erklärt werden,
um ihn vor der deutschen Justiz zu schützen? "Dies
käme einer Strafvereitelung gleich." Ankläger
Maaß sagt: "Wir stehen bei all den Anträgen
doof dabei und können nur warten." Dass der Vollstreckungvorbehalt
nicht mehr erwähnt sei in der EU-Charta, beruht für
Maaß auf einem Versehen: "Solch komplizierte Ausnahmefälle
wie bei Boere hat die Politik nicht bedacht."
Der Anwalt der Nebenkläger, der die Nachkommen der
Opfer vertritt, berichtete dem Gericht von Erkenntnissen
aus dem Urteil von 1949, dass Boere "ein überzeugter
Kämpfer war, der mit Eifer seinen Aufgaben nachging".
Auch habe er als Spitzel gearbeitet. Als Gasableser habe
er die Häuser von Maastricht ausgekundschaftet und so
mindestens 60 versteckte niederländische Juden ans Messer
geliefert. Die sind dann womöglich in Iwan Demjanjuks
Vernichtungslager nach Sobibor gekommen.
"Meine Gemütsverfassung ob der Verzögerungstaktik
der Verteidiger gerät in ein neues Stadium", verrät
der Anwalt. "Meine Mandanten in Holland sind sehr betreten
und fassungslos. Das Gericht soll sich nicht selbst an der
Nase herumführen." Vom Gerichtssaal nach Vaals
sind es gerade einmal sechs Kilometer. Würde sich der
Angeklagte dort zeigen, er würde sofort verhaftet.
Für Dienstag hat die Verteidigung neue Anträge
angekündigt – auf außergerichtliche Rechtsgutachten
und eine Vorab-Klärung des Europäischen Gerichtshofs.
Jahre würden ins Land gehen. Boeres Blutdruck blieb
gestern konstant bei 105. badische-zeitung.de
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