Heinrich
Boere gehörte einem SS-Killerkommando an und steht wegen
dreifachen Mordes vor Gericht - Einer der letzten deutschen
NS-Prozesse geht zu Ende
Aachen - Die holländischen Journalisten,
die seit Monaten jedes Mal anreisen, wenn das Aachener Landgericht
zu einem der wohl letzten deutschen NS-Prozesse tagt, nennen
ihn schmunzelnd den "Flüsterer". Der Mittdreißiger
Matthias Rahmlow, ein promovierter, schicker Jurist mit langen
Gel-Locken, gehört zum Verteidigerteam des 88-jährigen
Heinrich Boere, jenes früheren Mitglieds eines SS-Killerkommandos,
dem seit Oktober wegen dreifachen Mordes an niederländischen
Zivilisten der Prozess gemacht wird. Selbst beim Schlussplädoyer,
seinem wohl wichtigsten Auftritt im gesamten Verfahren, spricht
Anwalt Rahmlow trotz Mikrofon so leise, dass man ihn manchmal
kaum versteht.
Doch nicht allein deshalb herrscht im Sitzungssaal A020
an diesem Morgen atemlose Stille. Es sind vor allem die überraschenden
Argumente, mit denen die Verteidigung die Einstellung des
Verfahrens erzwingen will oder zumindest eine milde Strafe
von höchstens sieben Jahren Haft für den 88-Jährigen.
Die Staatsanwaltschaft dagegen hatte wegen dreifachen Mordes "je
eine lebenslange Haftstrafe" gefordert. Am 23. März
will das Gericht sein Urteil verkünden.
Das Verfahren gegen Boere gehört wie der Münchner Prozess
gegen den KZ-Wächter John Demjanjuk zu den letzten Versuchen einer
Abrechnung der deutschen Justiz mit dem Massenmord. Die Prozesse wirken
wie das verzweifelte Anrennen gegen die Zeit, bevor die letzten Opfer,
Täter und Zeugen gestorben sind. Die Justiz, die sich jahrzehntelang
so schwertat mit der Aufarbeitung des Holocaust und nun endlich ihre
Versäumnisse der Nachkriegszeit öffentlich reflektiert, will
schnell noch so viel Recht sprechen wie möglich, auch über
die Taten der Handlanger, des "Fußvolks der Vernichtung",
wie es der Historiker Klaus-Michael Mallmann einmal nannte.
Doch Boeres Prozess zeigt exemplarisch, wie problematisch das Vorhaben
in vieler Hinsicht ist. Zuerst konnte das Verfahren wochenlang nicht
eröffnet werden, weil es dem herzkranken Rentner, der ohne Familienanhang
in einem Altersheim lebt, gesundheitlich schlecht ging. Dann musste ihm
auf Gerichtskosten ein Hörgerät angepasst werden. Schließlich,
im Prozess selbst, konnte nur noch ein einziger lebender Zeuge gefunden
und vernommen werden - und das auch nur per Videokonferenz. Ansonsten
musste sich das Gericht mit vorgelesenen Verhören und Protokollen
der Nachkriegszeit begnügen. Ihn habe dabei so manche Frage auf
den Lippen gebrannt, sagte Verteidiger Rahmlow jetzt. "Wir konnten
nicht durch Zeugen erfahren, welche Stimmung damals wirklich herrschte." Daher
sei es schwer, 66 Jahre später noch ein angemessenes Urteil zu fällen.
Boere, Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters,
hat nie bestritten, mit einem Komplizen im Juli und September 1944 drei
Männer in den Niederlanden erschossen zu haben. Die Morde waren
Teil einer SS-Aktion unter dem Decknamen "Silbertanne", die
während der Zeit der deutschen Besatzung Widerstandskämpfer
aus dem Weg räumen sollte. Er dachte, er strafe "Terroristen" ab,
gab Boere im Prozess zu Protokoll. Er habe sich im Recht gefühlt.
Heute sehe er die Sache natürlich "aus einer anderen Perspektive".
Wohl auch wegen dieser Aussage beriefen sich Rahmlow und sein Anwaltskollege
Gordon Christiansen nicht auf den sogenannten Befehlsnotstand, mit dem
so viele Täter der NS-Zeit wie auch Demjanjuk ihre Taten zu entschuldigen
versuchten. Offenbar sah es selbst die Verteidigung nicht als bewiesen
an, dass Boere als SS-Sturmmann tatsächlich schlimme Konsequenzen
für Leib und Leben gedroht hätten, wenn er den Auftrag zum
Töten missachtet hätte. Stattdessen führen die Anwälte
eine ganze Armada von Argumenten zur Entlastung ins Feld - angefangen
damit, dass Boere bereits 1947 für die Morde in Amsterdam verurteilt
worden sei und nicht doppelt bestraft werden dürfe. Zwar wurde das
Urteil nie vollstreckt, weil Boere geflohen war und Deutschland ihn nicht
ausliefern wollte. Aber das, so die Anwälte, sei nicht relevant.
Neben dem hohen Alter von Boere und seiner angeschlagenen Gesundheit
verwiesen die Verteidiger überdies eindringlich auf die Tatsache,
dass die "Tatvorwürfe unglaublich lange" zurücklägen: "Eine
Person nach 66 Jahren ist nicht mehr die Person, die damals die Tat begangen
hat." Selbst eine Art formaler Entschuldigung führte Rahmlow
ins Feld: Das damals herrschende Völkerrecht habe gerechtfertigt,
Geiseln zu erschießen. "Alle drei Personen hätten unter
bestimmten Umständen also rechtmäßig erschossen worden
sein können." So habe es bei der Exekution durch Boere also
im Prinzip lediglich "an formellen Dingen gefehlt".
Der Beschuldigte selbst, an diesem Tag in einen beigefarbenen Pullover
mit braunen und weißen Streifen gekleidet, verfolgte die gut zweistündigen
Plädoyers zwar reglos im Rollstuhl, wirkte aber durchaus alert und
rüstig. Dabei hatte Boere, der nach dem Krieg sieben Jahre lang
in den Niederlanden untergetaucht war und seit 1953 in Deutschland lebt,
mehrfach versucht, die Verfahrenseröffnung mit Verweis auf sein
schwaches Herz und seine kaputten Nieren zu verhindern.
Das Gericht wies den Antrag jedoch stets zurück und stellte dem
Beklagten lediglich eine Ärztin zur Seite. Bisher lebt der Rentner,
der bis zu seiner Pensionierung als Bergmann gearbeitet hatte, noch im
Altersheim, doch Staatsanwalt Ulrich Maaß hat Antrag auf Haftbefehl
gestellt. Auch darüber wird das Gericht in seinem Urteil zu befinden
haben.
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