Vier
Monate lang schwieg der mutmaßliche KZ-Aufseher John
Demjanjuk vor Gericht: Nun hat der 90-Jährige über
seinen Anwalt erstmals das Wort ergriffen und schwere Vorwürfe
gegen Deutschland erhoben.
München - Es ist das Ende monatelangen Schweigens:
Der mutmaßliche NS-Wachmann John Demjanjuk ließ vor
dem Münchner Schwurgericht seinen Anwalt eine von ihm
unterzeichnete Erklärung verlesen, in der er schwere
Vorwürfe gegen Deutschland erhob und die Anklage der
Beihilfe zum Mord als "falsch" zurückwies.
Während Anwalt Ulrich Busch vortrug, lauschte sein
Mandant regungslos auf einem Bett neben dem Richtertisch.
Danach ließ er sich von einem Sanitäter ein Taschentuch
reichen, nahm die dunkle Brille ab und wischte sich die Augen.
Die Erklärung begann mit einem Dank "an die Menschen,
die mir in meiner aussichtslosen Lage helfen, den von mir
als Folter und Tortur empfundenen Prozess durchzustehen".
Es folgten heftige Vorwürfe. Deutschland sei schuld,
dass er in der Kriegsgefangenschaft zum "Arbeitssklaven" gemacht
wurde, dass Abertausende seiner ukrainischen Landsleute "zur
Mitarbeit in perversen Massenvernichtungslagern durch Gewalt
und Todesdrohungen gezwungen und Hunderte, die sich weigerten,
getötet wurden".
Ob der Angeklagte diesen Hinweis auf sogenannte Hilfswillige
in den Konzentrationslagern auch auf sich bezog, blieb offen.
Der gebürtige Ukrainer ist angeklagt, 1943 bei der Ermordung
von 27.900 Juden in den Gaskammern des Lagers Sobibor geholfen
zu haben.
Demjanjuk empfindet es "als unsagbares Unrecht, dass
Deutschland aus mir einen Kriegsverbrecher machen will und
mich benützt, um von den eigenen Kriegsverbrechen abzulenken".
Er sei in seinem neunzigsten Lebensjahr nach Deutschland "zwangsverschleppt" worden
und habe jede Minute seiner bisher elfmonatigen Untersuchungshaft
als "Kriegsgefangener erlebt".
Als "Iwan der Schreckliche" zum Tode verurteilt
Die Erklärung weist auch auf die siebeneinhalb Jahre
des Angeklagten in einem israelischen Gefängnis hin, "davon
fünf Jahre in der Todeszelle". Demjanjuk war in
Israel als angeblicher Massenmörder "Iwan der Schreckliche" im
Vernichtungslager Treblinka zum Tode verurteilt worden. Das
Urteil wurde allerdings vom Obersten Gerichtshof verworfen,
weil es sich um eine Verwechslung gehandelt habe.
Die Münchner Staatsanwaltschaft ist von der Stichhaltigkeit
ihrer Anklage überzeugt. Wesentliches Indiz ist ein
Lichtbildausweis, der einen Sobibor-Wachmann namens John
Demjanjuk zeigt. Ein pensionierter Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes
hat das Foto mit sieben Bildern verglichen, die von dem Angeklagten
bei verschiedenen Gelegenheiten in den Jahren 1941 bis 1986
aufgenommen wurden.
In seinem Gutachten von 1986 kam der Experte anhand von
24 Gesichtsmerkmalen zum Ergebnis, das Bild auf dem Ausweis
von Sobibor zeige mit hoher Wahrscheinlichkeit den Angeklagten.
Der Lichtbildervergleich ist laut dem Experten vom BKA aus
der Praxis heraus entwickelt worden, die Behörde habe
damit "Neuland" beschritten.
spiegel.de
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