Nach
den Verfahren gegen John Demjanjuk in München und Heinrich
Boere in Aachen könnte es auch in Hannover noch einmal zu
einem Kriegsverbrecherprozess kommen. Die hannoversche Staatsanwaltschaft
bestätigte am Donnerstag einen Bericht der Süddeutschen Zeitung,
wonach sie die Ermittlungen gegen den ehemaligen SS-Hauptsturmführer
Erich S.
wieder aufgenommen hat. Der 95-Jährige, der in der Region Hannover wohnt, steht
im Verdacht, an Massakern im besetzten Polen beteiligt gewesen
zu sein. Er selbst bestreitet die Vorwürfe.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Justiz für die Rolle S.’s während des
Krieges interessiert. Zuletzt ermittelte die Staatsanwaltschaft
Hannover 2007 gegen ihn. Damals hatte er die Ermittler unfreiwillig
selbst auf sich aufmerksam gemacht. Er klagte gegen eine
frühere Geliebte, eine ehemalige Gestapo-Sekretärin, die
in ihren Memoiren ihre Affäre mit einem SS-Offizier schildert,
in dem sich S. wiedererkannte. Die Klage verlor er, die Ermittler
aber wurden bei einem Satz hellhörig, den er in seiner Anklage
über seine Rolle als Kompaniechef einer Polizeieinheit im
Warschauer Getto formulierte. „Mein Bataillon hatte die äußere
Absperrung zu gewährleisten und später den Aufstand mit 400
deutschen Deserteuren zu bewältigen“, schrieb S. Das Simon-Wiesenthal-Center
beauftragte einen Historiker mit Recherchen. Die Staatsanwaltschaft
stellte die Ermittlungen Anfang 2009 ein, allerdings ohne
S. vernommen zu haben, wie Sprecherin Kathrin Söfker gestern
einräumte.
Die neuen Ermittlungen beziehen sich
auf eine mögliche Beteiligung von S. an Erschießungen im
November 1943 im Raum Lublin. Bereits in den sechziger Jahren
war er deswegen verhört worden, auch diese Ermittlungen wurden
eingestellt. Er sei zur fraglichen Zeit auf Heimaturlaub
gewesen, hatte S. bislang stets erklärt. Ein Brief, über
den das SZ-Magazin berichtet, liefert jedoch Hinweise darauf,
dass S. zumindest drei Tage vor den Erschießungen nicht im
Urlaub, sondern im Dienst war. S.’s Einheit gehörte zum Polizeibataillon
101, dessen Beteiligung an den Massakern seit den Untersuchungen
des amerikanischen Historikers Christopher Browning als gesichert
gilt. Auf den Brief stützt die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme
der Ermittlungen. Diesmal solle S. auch vernommen werden,
kündigte Söfker an.
Wie erhellend das wird, ist jedoch
fraglich. Der 95-Jährige wirkt am Telefon durchaus präsent
und äußerst energisch, ist aber nach eigenen Worten sehr
krank. Zu den neuen Vorwürfen wollte er sich am Donnerstag
gegenüber der HAZ nicht äußern. Schon bei früheren Berichten
hatte er jedoch bestritten, an Erschießungen beteiligt gewesen
zu sein.
Der Direktor des Simon-Wiesenthal-Centers
in Jerusalem, Efraim Zuroff, ist dagegen von der Stärke der
Indizien gegen S. überzeugt. „Ich bin erfreut und stolz,
dass die Ergebnisse unserer Historiker zur Wiederaufnahme
der Ermittlungen gegen S. beigetragen haben“, erklärte Zuroff
gegenüber der HAZ. Er hoffe, dass es auch zu einer Anklage
und einem Prozess gegen S. kommt, fügte er hinzu. Dass S.
nicht auf der Liste der zehn meistgesuchten NS-Verbrecher
des Wiesenthal-Centers auftaucht, hat nach seinen Worten
nur einen einzigen Grund: „Die Liste war bereits vor unseren
Recherchen abgeschlossen.“
haz.de
|