Seit
einem Jahr verhandelt das Münchner Landgericht gegen den
mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk. Eine Verurteilung
des 90-Jährigen würde eine Wende in der Rechtsprechung bedeuten.
Hochbetagte Zeugen, Stapel vergilbter Dokumente, stundenlange Erläuterungen von
Historikern, und immer wieder Antragsserien
der Verteidigung: Seit einem Jahr versucht
das Landgericht München II die mögliche Beteiligung
des gebürtigen Ukrainers John Demjanjuk am
Massenmord der Nazis zu klären. Der 90-Jährige
soll als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor
1943 von März bis September bei der Ermordung
von 27 900 Juden in den Gaskammern geholfen
haben.
Gerade hat das Gericht neue Termine bis 2. März 2011 angesetzt. Ob das reicht,
ist ebenso offen wie der Ausgang des Verfahrens.
Die Staatsanwaltschaft ist weiter von der Richtigkeit
ihrer Anklage überzeugt, für die Verteidigung
ist der Freispruch das einzig mögliche Prozessergebnis.
Journalisten
sowie hochbetagte Opfer-Angehörige und Holocaust-Überlebende
aus aller Welt waren zum Prozessauftakt am
30. November 2009 angereist. «Ich suche nicht
Rache wegen damals, ich will, dass er die Wahrheit
sagt», sagte der 83-jährige Sobibor-Überlebende
und Nebenkläger Thomas Blatt, der in den USA
lebt und Eltern und Bruder verlor.
Es dürfte
nicht nur einer der letzten NS-Verbrecher-Prozesse
sein. Eine Verurteilung würde auch einen Paradigmenwechsel
in der deutschen Rechtsprechung bedeuten. Denn
es gibt keinen Zeugen, der Demjanjuk bei einer
bestimmten Tat beobachtet hätte, und keine
Beweise für eine konkrete Einzeltat.
Demjanjuk,
als Rotarmist in deutsche Gefangenschaft geraten,
soll die Ausbildung im SS-Lager Trawinki gewählt
und dann Wachmann unter anderem im Vernichtungslager
Sobibor gewesen sein.
Wer dort
arbeitete - etwa 25 SS-Leute und 100 meist
ukrainische Hilfswillige - habe keine andere
Aufgabe gehabt, als bei der Ermordung der verschleppten
Männer, Frauen und Kinder zu helfen, argumentiert
die Anklage. Allein Demjanjuks Anwesenheit
in Sobibor, die unter anderem ein Dienstausweis
belege, begründe somit seine Schuld.
Das sah
die Justiz in den 1960er Jahren anders. Damals
kamen im sogenannten Sobibor-Prozess deutsche
SS-Männer und Vorgesetzte der Trawniki teils
sogar mit Freispruch davon. Während sie sich
erfolgreich darauf beriefen, auf Befehl von
oben gehandelt zu haben, soll Demjanjuk als
Wachmann im untersten Dienstgrad nun für den
Massenmord Verantwortung übernehmen.
Auch andere
Helfershelfer will die Justiz 65 Jahre nach
Kriegsende zur Rechenschaft ziehen. Ermittlungen
laufen gegen einen 93-jährigen früheren Trawniki,
der in Landshut lebt und an der Erschießung
von Juden im Zwangsarbeiterlager Treblinka
beteiligt gewesen sein soll. Ermittelt wird
auch gegen einen in den USA lebenden ukrainischstämmigen
Ex-Hilfspolizisten wegen Erschießungen im besetzten
polnischen Lemberg. In Bonn war der mutmaßliche
Wachmann im Vernichtungslager Belzec, Samuel
Kunz, bereits wegen zehnfachen Mordes und Beihilfe
in 430 000 Fällen angeklagt. Doch der 89-Jährige
starb vergangene Woche - bevor der Prozess
begann.
Seit den
1970er Jahren war Demjanjuk mehrfach wegen
möglicher NS-Verbrechen ins Visier der amerikanischen,
israelischen und - seit 2008 - deutschen Justiz
geraten. Etwa neun Jahre verbrachte er in Haft,
fünf davon in der Todeszelle in Israel wegen
hunderttausender Morde als «Iwan der Schreckliche»
in Treblinka - doch am Ende wurde er freigesprochen.
Er war verwechselt worden.
Zu den
Vorwürfen in München hat sich Demjanjuk nicht
geäußert. Zweimal gab er Erklärungen ab - ohne
freilich darauf einzugehen, ob er überhaupt
je Wachmann bei den Nazis war. Erst vergangene
Woche bezichtigte er Nebenklägern zufolge die
Richter indirekt der Rechtsbeugung. Andere
Beobachter wunderten sich über die ausgefeilte,
auf ukrainisch offenbar am Computer verfasste
Erklärung des kranken und akademisch nicht
gebildeten Angeklagten. Im April hatte er erklärt,
in der Untersuchungshaft erlebe er die Zeit
«als Kriegsgefangener Deutschlands». Den Prozess
empfinde er als «Folter und Tortur».
Demjanjuk,
der an starken Rückenschmerzen und einer Blutkrankheit
leidet, nimmt in einem Rollbett am Prozess
teil. Dazu trägt er eine Sonnenbrille und eine
Kappe. Manchmal klappt die Kinnlade auf und
nieder. «Entschuldigung Herr Vorsitzender!
Ich glaube, der Angeklagte schläft», unterbrach
kürzlich Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz die
Verhandlung. Der Vorsitzende Ralph Alt schloss
daraufhin die Sitzung für die Mittagspause.
Wegen Demjanjuks schlechter Gesundheit darf
ohnehin nur maximal zweimal 90 Minuten pro
Tag verhandelt werden.
Wie schlecht
es ihm wirklich geht, ist unklar. Laut dem
prozessbegleitenden Arzt Albrecht Stein hat
sich sein Zustand seit der Abschiebung aus
den USA im Mai 2009 nicht verschlechtert. Allerdings
belaste die lange Untersuchungshaft ihn zunehmend
psychisch. «Er ist in der Stimmung etwas gedrückt.»
Verteidiger
Busch hingegen sagt, es gehe Demjanjuk «wesentlich
schlechter als im vorigen Jahr». Er leide fernab
seiner in den USA lebenden Verwandten auch
unter Vereinsamung, sagt Busch, der stets eine
lange Prozessdauer vorhersagte und zeitaufwändige
Anträge stellte. «Die Länge des Prozesses ist
für so einen alten Mann nicht mehr tragbar.»
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