19.07.2011 - 02:30 nachrichten.rp-online.de
Ungarn: Freispruch in NS-Prozess
VON RUDOLF GRUBER

Budapest (RP). Mit einem fragwürdigen Freispruch endete gestern einer der letzten großen NS-Prozesse in Ungarn. Die Staatsanwaltschaft, die in Berufung gehen will, hatte dem 97-jährigen Sandor Kepiro vorgeworfen, an Massenmorden und Judendeportationen beteiligt gewesen zu sein. Als der Richter das Urteil verkündete, brachen rund zwei Dutzend Sympathisanten der rechtsextremen Szene in Jubel aus. Kepiro saß regungslos im Rollstuhl. Der Richter will die Begründung des Freispruchs heute nachliefern.

Beim Prozessauftakt am 5. Mai hatte Kepiro die Anschuldigungen energisch bestritten. Ein paar Wochen später erinnerte er sich an nichts mehr; der Anwalt wollte seinen Mandanten für dement erklären lassen. Doch ebenso betagte Zeugen beschrieben ihn als beflissenen Vollstrecker nazistischer Rassenpolitik. Die Anklage warf Kepiro vor, am 23. Januar 1942 in Novi Sad, der Hauptstadt der an Ungarn grenzenden nordserbischen Provinz Vojvodina, als Gendarmerieoffizier mit einer Patrouille an der Ermordung von 1246 Juden, serbischen Partisanen und Zigeunern teilgenommen zu haben. Außerdem soll er 1944 an der Deportation ungarischer Juden beteiligt gewesen sein. Die Nazis verhalfen Kepiro zur Flucht nach Argentinien. In Jugoslawien wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 1996 kehrte er nach Ungarn zurück.

Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, der Kepiro 2006 ausgerechnet im Budapester Judenviertel aufspürte, nannte den Freispruch einen Skandal und eine Beleidigung für die Opfer.

Das Urteil ist politisch brisant. Seit seiner Machtübernahme im Mai 2010 hat der nationalkonservative Premier Viktor Orban sämtliche Staatsorgane auf seine Linie gebracht, auch die Justiz.

Der Freispruch Kepiros entspricht jedenfalls Orbans revisionistischem Geschichtsbild, wonach Ungarn eine "Opfernation" sei, die keinerlei Schuld an Verbrechen während der deutschen Besetzung trage. Die historisch verbürgte Kollaboration des faschistischen ungarischen Horthy-Regimes mit den Nazis wird schlicht bestritten.

Orban nennt den von 1920 bis 1944 amtierenden Reichsverweser Miklos Horthy sein Vorbild. Dazu passt es schlecht, dass unter dessen Regime rund 440 000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert wurden. Um die eigene Regierungspartei Fidesz zu entlasten, überlässt Orban die Stimmungsmache für die "Opfernation" der rechtsextremen Jobbik (Besseres Ungarn). Die für ihre Roma-Feindlichkeit bekannte, drittstärkste Parlamentspartei stellte den Anwalt Kepiros und übernahm auch das Honorar.

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